„Früher war alles besser…“ – so wird es immer wieder gerne behauptet, auch wenn man sich nur noch vage (oder gar nicht) daran erinnern kann, wie es denn früher wirklich war. Genau deshalb ist diese pauschale Aussage auch so fragwürdig…
Auf den deutschen Galopprennsport bezogen lässt sich aber sicher festhalten, dass früher tatsächlich einige Dinge besser waren: Es gab mehr Renntage, mehr Rennbahnen, mehr aktive Reiter und Auszubildende, mehr Pferde im Training, mehr Besucher auf den Bahnen. Ob die Rennen darum immer spannender waren, die Pferde alle leistungsfähiger oder besser vorbereitet – nun, das kann so allgemein wohl kaum entschieden werden, weil die menschliche Erinnerung nun einmal eine starke Neigung hat, das Vergangene nur auf seine besonders positiven Merkmale zu reduzieren und die negativen Bereiche auszublenden. Das Durchschnittliche geht in der Rückschau immer unter – die Helden und großen Momente bleiben in Gedanken auch nach Jahren und manchmal Jahrzehnten noch lebendig… oft sogar überlebensgroß. So ist das eben mit der Nostalgie.
Eines aber behalten wir Menschen besonders gut im Gedächtnis – das Kuriose, Außergewöhnliche. Und eben in diese Kategorie fällt auch die heutige Geschichte von Wüstenkönig und Vasgenwälderin, die sich vor fünfzig Jahren, am 22. April 1961, auf der Galopprennbahn in Mülheim an der Ruhr abspielte.
Pferde fehlen irgendwie... |
Es war ein Samstag, und die Veranstaltung auf dem Raffelberg sollte so beginnen wie damals manch ein Renntag anfing – mit einer Konkurrenz über die Sprünge. Heute, in einer Zeit, in der Hindernisrennen an sich schon rar geworden sind, findet man kaum je ein wirklich kopfstarkes Feld in diesem Metier vor. Immer wieder führt dies zum großen Bedauern der Hindernis-Fans sogar zu Rennabsagen, weil sich einfach nicht genug Pferde rekrutieren lassen. Damals hingegen gehörte mindestens ein Hürden- oder Jagdrennen zu praktisch jedem Renntag dazu, und entsprechend gab es auch mehr Pferde, die für solche Wettbewerbe vorbereitet wurden und dann im Kampf um Sieg- und Platzgelder zur Verfügung standen.
Sollte man zumindest meinen…
Der Mülheimer Rennverein hätte sich damals sicher auch ein besseres Nennungsergebnis gewünscht, aber man entschied sich dennoch, das Ratzeburger Jagdrennen, das mit immerhin 4000 Mark dotiert war, mit nur vier Startern ins Programm zu nehmen. Ziemlich grenzwertig, das gesamte Unterfangen, vor allem mit Blick auf erhoffte Wetterlöse! Man mag sich kaum vorstellen, was in den Verantwortlichen dann vorgegangen sein muss, als am Morgen des Renntags zwei der vier gemeldeten Starter, nämlich die Pferde Kerbal und Strom, zu Nichtstartern erklärt wurden. Flugs hatte sich das Starterfeld um die Hälfte auf nur noch zwei verbliebene Kandidaten reduziert.
Ein Zwei-Pferde-Rennen gleich zu Beginn der Tageskarte? Das an sich mag schon bizarr genug anmuten, wird aber noch verstärkt, wenn man weiter im Rennkalender für das Jahr 1961 liest. Solche Mini-Starterfelder waren nämlich im jenem Frühjahr keinesfalls selten. Schon im zweiten Rennen in Mülheim waren wiederum nur zwei Starter für die Dreijährigen-Flachkonkurrenz über 1600m übrig geblieben, denn nach der Abmeldung von Arosio kamen nur noch der spätere Sieger Wiener Marsch und der Zweitplatzierte Minnesänger an den Ablauf. Ein sehr musikalischer Einlauf also! Und weil es scheinbar zum Motto des Renntags geworden war, wiederholte sich dieses Phänomen gleich im fünften Rennen, denn den Preis von Plön bestritten nur Nettuno und Abu-Markub, nachdem Thisbe abgemeldet worden war.
Man hatte hier also ernsthaft ein Vier- und zwei Drei-Pferde-Rennen angesetzt anstatt sie (wie heute sicher üblich) abzusagen. Doch nicht alleine der Mülheimer Rennverein offerierte im Frühjahr 1961 derartig kuriose Mini-Starterfelder. Gleich am folgenden Tag, dem 23. April 1961, ging es in gleicher Manier in Horst-Emscher weiter, wo die Tageskarte wieder mit zwei Zwei-Pferde-Konkurrenzen eröffnete. Immerhin verloren die Zuschauer so nicht den Überblick…
Der Hintergrund für diese seltsamen Planungen war jedoch ein recht ernster, denn im Frühjahr 1961 litten viele westdeutsche Trainingsquartiere unter heftigen Hustenepidemien, so dass einfach nicht viele Pferde startfertig herausgebracht werden konnten und unter jenen, die eigentlich gemeldet waren, immer wieder neue Krankheitsfälle auftraten und die Vierbeiner zu Nichtstartern machten. Darum stellten die Tierärzte fleißig Atteste aus, deren Grund, nämlich Erkrankung an Husten, in den Rennberichten penibel vermerkt wurde. Und nicht bloß „kleine“ Rennen wie das Ratzeburger Jagdrennen oder der Preis von Plön (toller Renntitel, so ganz nebenbei!) waren betroffen. Der Husten machte auch vor prominenten Vierbeinern wie etwa Alarich, dem Derbysieger des Vorjahres, nicht Halt. Der hätte nämlich an jenem Wochenende sein Jahresdebüt geben sollen, doch daraus wurde vorerst nichts – Husten. Erst später im Jahr konnte er sich mit seinem Sieg im Gerling-Preis schadlos halten.
Immerhin konnte Alarichs geplantes Rennen auch ohne ihn noch in vernünftigem Rahmen stattfinden, denn es waren fünf Starter verblieben, von denen Engpass aus dem Gestüt Mydlinghoven das beste Ende für sich hatte. In einem wortwörtlichen Engpass steckte aber der Mülheimer Rennverein am 22. April 1961 im Hinblick auf das Ratzeburger Jagdrennen, denn während ein Zwei-Pferde-Rennen zwar bezogen auf das mögliche Wettergebnis ein Schlag ins Wasser sein dürfte, kann es sich ja durchaus aus taktischer Sicht zu einem spannenden Wettbewerb für die Rennsportfreunde entwickeln, falls… ja, falls die beiden Antretenden tatsächlich mehr oder weniger ebenbürtige Konkurrenten sind, die beide gewinnen wollen.
Genau dies war aber im Ratzeburger Jagdrennen nicht mehr der Fall, denn die beiden nicht hustenden Vierbeiner, die hier noch an den Start gelangten – Wüstenkönig und Vasgenwälderin –, waren ausdrücklich keine Konkurrenten. Beide gehörten nämlich dem Gestüt Lindenhof und wurden von Dr. C.W. Löwe, dem Vater des heute sehr erfolgreichen Kölner Trainers Andreas Löwe, vorbereitet. Den muss es sehr gefreut haben, als er erfuhr, dass es keine Konkurrenz für seine beiden Pferde geben würde – zumindest legt ein Foto aus dem Album des Rennsports diese Vermutung nahe, denn schon im Führring konnte er sich ein strahlendes Lachen nicht verkneifen. Lag die Gesundheit seiner Pferde vielleicht sogar daran, dass er auch Tierarzt war? An und für sich hätte er ja auch einfach die Pferde wieder verladen und frohgemut nach Hause fahren können, doch die Regularien sahen für den überaus kuriosen Fall, dass in einem Hindernisrennen nur noch Pferde eines Besitzers an den Start gelangten, vor, dass diese in einem heute kaum mehr denkbaren, so genannten Walkover über die Bahn gehen mussten – pro forma, natürlich, aber Bestimmungen sind (zumal in Deutschland!) natürlich dazu da, um eingehalten zu werden.
Rasch wurde also wohl im Führring entschieden, dass Wüstenkönig vor Vasgenwälderin ins Ziel kommen würde. Das Wetten auf den damit vorher erklärten Sieger und die Zweitplatzierte konnten sich die an diesem leicht regnerischen Frühjahrsrenntag auf dem Mülheimer Raffelberg Anwesenden logischerweise sparen. Dafür gab es dem optischen Eindruck nach Unterhaltung gratis, denn eine Fotoserie – und ohne diese kuriose Hintergrundgeschichte hätte es das ansonsten alles andere als spektakuläre Ratzeburger Jagdrennen wohl kaum mit einer ganzen Bilderseite ins Album des Rennsports geschafft – belegt, dass alle Beteiligten eine Menge Spaß hatten. Auch die Pferde wurden nicht überanstrengt, denn nach Rennordnung durften Wüstenkönig und Vasgenwälderin nach dem Start auf „beliebigem“ Weg ins Ziel geritten werden. Diese Vorschrift wurde beim Wort genommen, und so gingen die Lindenhofer Pferde in einem gemütlichen Spazierritt hintereinander über die Bahn. Lediglich im Einlauf stellten sich die Jockeys Tress und Pohlkötter ein wenig in den Bügeln auf und canterten ins Ziel – aber gaaaaanz langsam. Am anstrengendsten war es den Bildern nach für die Reiter wohl, auf dem Rückweg zur Waage nicht vor hemmungslosem Kichern aus dem Sattel zu fallen. Dass die Auswahl des Trainers, welches seiner Pferde auf welchem Rang ins Ziel kommen würde, wohl richtig gewesen war, belegen die späteren Rennleistungen, denn immerhin zeichnete sich Wüstenkönig 1961 noch zwei weitere Male als Sieger in Hindernisrennen aus, während Vasgenwälderin eher eine Dauerplatzierte war. Ganz sicher mussten sie sich aber in ihren nachfolgenden Rennen mehr anstrengen als am 22. April 1961.
So wurde aus einem an und für sich wenig bedeutenden Jagdrennen eine denkwürdige Veranstaltung – „etwas Einmaliges“, wie das Album des Rennsports urteilte. Für meinen damals noch recht jungen Patenonkel, den ich übrigens amüsanterweise auf einem der schwarz-weißen Fotos als Zuschauer erkennen kann, war die Geschichte von Wüstenkönig und Vasgenwälderin eine seiner bevorzugten Anekdoten, wann immer in späteren Jahren in Mülheim ein Jagdrennen zur Entscheidung anstand. Ich weiß gar nicht, wie oft ich sie später von ihm zu hören bekam. Und so sind mir schon seit vielen Jahren die Namen zweier Pferde vertraut, die vor genau fünfzig Jahren einfach Glück hatten, weil sie dem gleichen Besitzer gehörten und NICHT an Husten erkrankt waren.
War also früher auf den Rennbahnen alles besser?
Nein, wohl kaum – aber die eine oder andere inzwischen längst der Vergangenheit angehörende Vorschrift sorgte gelegentlich unbeabsichtigt für bizarr-unterhaltsame „Rennen“ wie jenen aus der Not geborenen Walkover von Wüstenkönig und Vasgenwälderin
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