Mittwoch, 27. April 2011

Vor 25 Jahren: Was aus Winterfavoriten werden kann...

Heute gibt es gleich noch einen Bericht, wenn auch keinen ganz neuen, sondern einen Beitrag, den ich im Tippspielforum schon im vergangenen Herbst anlässlich des Preises des Winterfavoriten veröffentlicht hatte. Er passt allerdings auch gut zum heutigen 27. April, denn heute vor 25 Jahren absolvierte das Pferd, um das es in diesem Text geht - der Winterfavorit des Jahres 1985 eben - seinen ersten Jahresstart in seiner Dreijährigensaison. Und er gewann erneut... wenn auch seine spätere Laufbahn eine deutlich andere Wendung nahm als es sich damals sein Umfeld wohl erhofft haben mag. Derbysieger wurde er nicht, aber noch heute bekommen ältere Rennbahnfans bei der bloßen Erwähnung seines Namens, Oldtimer, glänzende Augen.

Genau genommen hatte die Welt an jenem Sonntag Ende April 1986, als vor genau 25 Jahren dieser Oldtimer dreijährig erstmals wieder auf die Rennbahn kam, andere Sorgen - oder genauer gesagt: Sie sollte bald ganz massiv andere Sorgen haben als ein Pferderennen, denn am Tag zuvor war weit entfernt, aber doch unheimlich und unfassbar nah in der UdSSR ein Atomkraftwerk namens Tschernobyl explodiert und zum größten Teil ausgebrannt. Das machte viele andere Dinge bald zur Nebensache... 

Kaum zu glauben, dass diese Zeit, an die ich mich noch intensiv erinnern kann, nun auch schon ein Vierteljahrhundert her ist.

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Es war einmal vor 25 Jahren

Silvaner heißt der Winterfavorit dieser nun bald ausklingenden Grasbahnsaison 2010 – das wissen wir seit dem ausgesprochen mitreißenden Finish des Rennens gegen Nice Danon am vergangenen Sonntag. Vor fünfundzwanzig Jahren mussten die Galoppsportfreunde ein wenig länger warten, um ihren Winterfavoriten zu bejubeln, denn das fragliche Rennen wurde erst am 20. Oktober 1985 im Weidenpescher Park entschieden. Ob Silvaner mit seinen künftigen Auftritten auf dem grünen Rasen aber derart eindrucksvoll in Erinnerung bleiben wird wie sein Vorgänger vor einem Vierteljahrhundert, kann jedoch nur die Zukunft zeigen. Zu wünschen wäre es dem sehr netten und wirklich hübschen Lomitas-Sohn ganz sicherlich.

Silvaner musste um seinen Sieg kämpfen. Im Vergleich dazu fiel der Rennausgang vor fünfundzwanzig Jahren – übrigens zwei Tage vor der ersten Ausstrahlung einer Fernsehserie mit dem Titel „Die Schwarzwaldklinik“ und nur eine Woche nach Massenprotesten gegen den Bau einer Wiederaufbereitungsanlage für Brennelemente in Wackersdorf – deutlich sicherer aus. Und Oldtimer, wie der damals noch überhaupt nicht alte, sondern ausgesprochen jugendlich frische Sieger von seinem Heimatgestüt Bona benannt worden war, schlug bei dieser Gelegenheit immerhin den Derbysieger des kommenden Jahres, einen gewissen Philipo, der im Preis des Winterfavoriten nur vier Längen hinter ihm und Royal Rock’s als Dritter ins Ziel kommen konnte. Auch der Zweite untermauerte die großen Hoffnungen, die man damals zu Recht an Oldtimers Zukunft knüpfen konnte, denn er mauserte sich in den kommenden Jahren immerhin noch zu einem Dauerplatzierten in den deutschen Grupperennen.

Als der zweijährige Oldtimer in Köln an den Start kam, war dies sein insgesamt viertes Rennen. Bereits bei seinem frühen Debüt im Juni 1985 hatte der Esclavo-Sohn aus der Asta-Stute Oste gewinnen können. Nur einmal hatte er bislang einen Gegner vor sich dulden müssen, und zwar den von Bruno Schütz trainierten Alagos, den anderen Top-Zweijährigen der Saison 1985. Mit einem weiteren Sieg am Mülheimer Raffelberg hatte Oldtimer sich jedoch im Berberis-Rennen (damals noch für Hengste geöffnet, ehe es wenig später als Teil der Mülheimer Young Ladies Series den Stuten vorbehalten blieb) gleich wieder erfolgreich zurückgemeldet. Obwohl wir damals schon in bequemer Laufentfernung von der Rennbahn lebten, habe ich diesen Mülheimer Auftritt von Oldtimer leider verpasst. Die Klassenfahrt hatte dann doch Vorrang. Mein Onkel allerdings – immer willens, sich von einem Pferd begeistern zu lassen – hatte beim folgenden Familientreffen nur Gutes zu berichten. Beinahe wäre ich also auch mit nach Köln zum Preis des Winterfavoriten gefahren, aber irgendetwas muss wieder geschehen sein, so dass ich auch diesen Sieg von Oldtimer mit Andrzej Tylicki nicht live miterlebt habe.


Über die Wintermonate hinweg galt Oldtimer, der von Hein Bollow trainiert wurde, also als größte Hoffnung für die Grasbahnsaison 1986. Und er machte im April auch einen guten Anfang, als er – nun wieder mit dem Stalljockey Peter Remmert – das Dr. Busch-Memorial gewann, das damals noch keinen Gruppen-, sondern nur Listenstatus hatte. Danach jedoch ging es nicht mehr so erfolgreich weiter. Zwar versuchte man mit Oldtimer die damals noch klassische Route zum Derby zu gehen, aber im Mehl-Mülhens-Rennen auf der Heimatbahn konnte er als Sechster erstmals nicht überzeugen. Der zweite Platz hinter Orfano, dem ebenfalls extrem hoch gehandelten Bruder der Derbysieger Orofino und Ordos, brachte hingegen wieder etwas Hoffnung für Hamburg, die im Juli aber bitter enttäuscht wurde, als Oldtimer nur als elftes von fünfzehn Pferden ins Ziel kam.

Im Anschluss an diese so wohl kaum erwartete Niederlage war der Faden des rennsportlichen Erfolgs erst einmal gründlich gerissen. Zwar lief Oldtimer weiter mit schöner Regelmäßigkeit Rennen, aber erst 1987 konnte er sich mit einer Reihe von Platzierungen – nun aber eher auf Ausgleich-I-Ebene statt in Grupperennen wieder etwas finden. Dann jedoch kam der 20. September 1987, und damit der Tag, an dem exakt dreiundzwanzig Monate nach seinem Sieg im Preis des Winterfavoriten Oldtimers wahre Karriere begann.

Möglicherweise hatte er ja auch nur ein wenig Zeit benötigt, um seinem Namen altersmäßig näher zu kommen… Auf jeden Fall war es der Wechsel auf die Jagd- und Hindernisbahn, der die große Wende brachte und Oldtimer in den kommenden Jahren deutschlandweit zu einem vierbeinigen Helden machte. Die Besitzerfamilie Harzheim vom Gestüt Bona war dem Sport zwischen den Flaggen gegenüber immer sehr aufgeschlossen gewesen. Heinz Harzheim selbst war ein erfolgreicher Hindernisreiter und u.a. Fegentri-Champion gewesen, so dass es vermutlich folgerichtig war, Oldtimer künftig vornehmlich über Hindernisse laufen zu lassen.

Der Hengst, denn das war Oldtimer anders als so manch ein anderer Steepler nach wie vor und blieb es auch, lernte rasch. Bereits beim dritten Versuch in einem Jagdrennen gelang ihm im Sommer 1988 in Hamburg der erste Sieg, dem rasch zwei weitere Treffer folgten. Zum Ende des Jahres ging es noch einmal kurz auf die Flache zurück, denn er war am 18. Dezember 1988 der allerletzte Starter in der Trainerkarriere des großen Hein Bollow. Anders als erwartet wurde es nur ein zweiter Platz, aber diesen emotionalen Moment, miterlebt im Alter von 14 Jahren, in dem man ja für Sentimentales ganz besonders anfällig ist, habe ich noch in guter Erinnerung. Wäre es über die Sprünge gegangen… wer weiß, vielleicht hätte der inzwischen fast sechsjährige Oldtimer ja seinen Trainer doch mit einem Sieg in den Ruhestand verabschieden können.

So aber wurde er zum ganz großen Aushängeschild in der gerade erst beginnenden Trainerkarriere von Peter Remmert, seines früheren Jockeys, der den Stall von Hein Bollow übernommen hatte. Wohl kaum mehr zu überbieten ist die spektakuläre Saison, die Oldtimer 1989 erlebte, als ihm nicht weniger als acht Siege in Folge in den wichtigsten deutschen Jagdrennen gelangen. Er beendete die Saison ungeschlagen, und was seine Auftritte noch beeindruckender machte, war der Stil, in dem er zu gewinnen pflegte. Praktisch nie war, egal wer die Konkurrenten auch sein mochten, am Ende noch ein Pferd dabei, das Oldtimer auch nur entfernt Paroli zu bieten vermochte. Nicht selten notierte der Richter ein „W“ für die Weile an Vorsprung, die der vollkommen souveräne Hengst ins Ziel brachte.

Erstmals hatte ich Oldtimer in einem Jagdrennen in Krefeld im November 1988 miterlebt, und damals war auch der Funke bei mir übergesprungen, denn bislang hatte mir immer nur mein Onkel von diesem Pferd vorgeschwärmt. Nun aber hatte er sich auch in mein Herz gesprungen. Und so verfolgte ich in der Sport-Welt aufmerksam, was und wie Oldtimer alles gewann. Leider lief er ja meistens in den Hindernis-Hochburgen Baden-Baden, Bremen oder Hannover, die alle außerhalb meines Radius lagen. So musste ich bis zum Jahr 1991 warten, um Oldtimer wieder einmal live sehen zu können. Wieder ging es nach Krefeld, und wieder gewann Oldtimer, was umso bemerkenswerter ist, da er im Vorjahr nur einmal hatte herausgebracht werden können, ansonsten aber auf Feierschicht stand. Der inzwischen Achtjährige hatte nichts von seiner Faszination verloren, und ich bin froh, dass ich ihn noch einmal laufen und springen sehen konnte!

Bis in den April des folgenden Jahres lief Oldtimer weiter Rennen, und er verabschiedete sich standesgemäß mit einem Sieg in Bremen. Danach wurde er hauptsächlich außerhalb der Vollblutzucht eingesetzt. Die wenigen Vollblutfohlen, die er zeugte, haben nie eine Rennbahn betreten, aber für seine neuen Besitzer Anton Böckmann und Ullrich Kasselmann wurde Oldtimer für die Zuchten Hannover, Oldenburg und Mecklenburg anerkannt. Eine Reihe seiner Nachkommen sind im Turniersport erfolgreich, und sein Springtalent hat der Hengst offenbar an seinen (bis 2002) erfolgreichsten Nachkommen Orlando vererbt. Jener Anton Böckmann ist erst Anfang Oktober 2010 verstorben, doch konnte ich auf der Webseite dieses engagierten Züchters keine Spuren von Oldtimer mehr entdecken. Aber vielleicht weiß ja jemand unter den Lesern des Blogs mehr darüber, wie es mit Oldtimer, der, wenn er noch leben sollte, inzwischen siebenundzwanzig Jahre alt wäre, nach dem Ende seiner aktiven Rennlaufbahn weitergegangen ist.

Dienstag, 26. April 2011

Vor 35 Jahren: Von einer Sekunde zur nächsten

Wenige Sekunden können manchmal ein Menschenleben vollkommen verändern. Dies weiß wohl jeder, der selbst oder in seinem Freundes- und Familienkreis schon einmal von einem schweren Unfall betroffen war. Was noch Augenblicke vorher heil und scheinbar beschützt war, kann dann durch ärztliche Diagnosen grundsätzlich in Frage gestellt werden. Und manchmal gehen – leider – in kürzester Zeit als verlässlich betrachtete und zutiefst geschätzte Fähigkeiten unwiederbringlich verloren, ohne die Lebensentwürfe völlig neu überdacht werden müssen.

Aus meiner Jugendzeit kann ich mich noch an das Entsetzen über die zwei tödlichen Stürze der Jockeys Josef Dolejsi und Hans Strompen erinnern. Augenzeugin war ich leider bei dem schweren Unfall von Jockey Neil Grant auf meiner Heimatbahn in Mülheim, den der mir immer sympathische Reiter im August 2000 nicht unversehrt überstand. Aber nicht nur in den Rennen an sich, sondern auch in der Trainingsarbeit kann es manchmal zu Unglücken mit schwerwiegenden Folgen kommen, wie aus jüngerer Zeit die Beispiele von Christian Zschache, Peter Gehm oder Peter Heugl belegen. Als weitestgehend unbeteiligte Zuschauerin ist mir auch bewusst, dass die Außenstehenden in der Regel gar nichts davon erfahren, wenn solche Unglücke statt der bekannten aktiven Reiter „nur“ die deutlich größere Gruppe der oft anonymen Arbeitsreiter und -reiterinnen betrifft. Dies macht eine Einrichtung wie die Trainer- und Jockey-Unterstützungskasse noch einmal wichtiger als sie es ohnehin schon ist. Übrigens – in einem alten Jahrgang der Sport-Welt aus dem Jahr 1968, der ein ganz besonderes Schätzchen in meinem Archiv ist, wurde regelmäßig ganz offensiv veröffentlicht, welche in einem Rennen erfolgreichen Besitzer einen Anteil ihres Gewinns an die Unterstützungskasse gespendet hatten. Wieso ist dies eigentlich heute nicht mehr so?


Es war einmal vor 35 Jahren

Dass Galopprennen für die aktiv Beteiligten kein ganz ungefährlicher Sport sind, liegt ja angesichts des hohen Tempos, bei dem doch eigentlich fast alle Konkurrenten gewinnen oder zumindest so gut wie möglich abschneiden wollen, schon beinahe auf der Hand. Ich persönlich habe größten Respekt vor den Menschen, die diesem sicher jeden Tag neu faszinierenden, aber auch körperlich und mental sehr fordernden Beruf ausüben und dabei gelegentlich in Gefahr geraten. Heute im ersten Rennen in Köln wurden zum Beispiel gleich drei Pferde im Schlussbogen reiterlos, doch blieben sie dabei glücklicherweise unversehrt. Nur ein Jockey erlitt leichtere Blessuren, aber Andreas Suborics will am kommenden Wochenende bereits wieder im Sattel sein. Es ging also alles vergleichsweise glimpflich ab. Besonders wichtig ist darum die Anmerkung, dass schwere Unfälle, in denen Mensch und Tier großen Schaden nehmen, im Galopprennsport zwar (leider!) vorkommen, aber dennoch eindeutig nicht an der Tagesordnung sind. Zum Glück ist dies so!

Harro Remmerts größter Sieg als Jockey -
Deutsches Derby 1973 mit Athenagoras




Heute vor 35 Jahren, am 25. April 1976, geschah allerdings auf der Krefelder Galopprennbahn ein Rennunfall, der nach allen Erzählungen und Quellen, die ich im Lauf der Jahre gehört und gelesen habe, die Freunde des Rennsports ebenso wie die Aktiven tief erschütterte, denn er betraf einen der bekanntesten Namen aus dem Jockeylager jener Zeit, einen Menschen, der zudem – zumindest wird dies immer und immer wieder betont – auch weithin besondere Sympathie genoss. Die Folgen jenes Unglücks, das der damals die Rennreiterstatistik der noch jungen Saison anführende Harro Remmert bei seinem Ritt auf dem belgischen Hengst Arpad im Dr. Busch-Memorial erlitt, beendeten nicht nur von einer Sekunde zur nächsten seine Laufbahn als Jockey. Sie veränderten auch sein Alltagsleben dramatisch und ließen ihn und seine Familie vor einer zunächst vollkommen ungewissen Zukunft zurück, denn nachdem sein Pferd in der damals noch nicht durch Rails begrenzten ersten Kurve der Rennbahn nach dem 1700-Meter-Start ausgebrochen und unkontrollierbar in ein Waldstück galoppiert war, wo es seinen Reiter gegen einen Baum schleuderte, konnten die Ärzte Harro Remmert nur noch die Diagnose einer bleibenden Querschnittlähmung stellen.  


Wohl niemand kann den Hergang dieses folgenschweren Unfalls und seine Folgen berührender und intensiver erzählen als der Betroffene selbst, wie er es in einer Folge der Dokumentationsserie „Sport-Spiegel“ Anfang der 1980er Jahre tat, die vor knapp zwei Monaten zufällig noch einmal wiederholt wurde.


Eins macht dieser eindrückliche Bericht vor allem deutlich: Unabhängig von der Frage, ob der Unfall von Harro Remmert auf diese und jene Weise eventuell hätte verhindert werden können, wenn das Geläuf an dieser gefährlichen Stelle durch Rails begrenzt gewesen wäre, wenn das schon in der Arbeit schwer zu reitende Pferd nicht ausgerechnet aus der äußeren Startbox hätte abspringen müssen, wenn es vielleicht gar nicht erst an diesem Rennen teilgenommen hätte, für das sein Jockey eigentlich bereits eine andere Rittverpflichtung für das Pferd Gimont aus dem Stall seines ehemaligen Trainers Georg Zuber angenommen hatte, wenn… ja, wenn. Das Unglück war allerdings passiert. Die Folgen jener wenigen, das Leben dramatisch verändernden Augenblicke waren nicht mehr umkehrbar, egal wie groß das Entsetzen bei dem unmittelbar Betroffenen und denen, die zu Augenzeugen des Geschehens geworden waren, auch war.

Einer jener Augenzeugen in Krefeld war auch mein Patenonkel, und ich kann die vielen Male gar nicht zählen, in denen er mir von jenem Tag und der Zeit danach berichtet hat. Das hatte einen naheliegenden Grund, denn schon lange vor dem 25. April 1976 war Harro Remmert einer der bevorzugten Reiter in der persönlichen Wertschätzung meines Onkels gewesen. Schon früh in den 1960er Jahren, so berichtete er, habe er den jüngeren Bruder des damaligen Spitzenjockeys Peter Remmert bei einem harmlosen Rennen in Mülheim für sich „entdeckt“. Peter Remmert, der Ältere der Brüder, sei damals in Köln Stalljockey bei Sven von Mitzlaff, den mein Onkel ja nahezu grenzenlos verehrte, gewesen. Und Harro Remmert kann demnach gerade erst seine Lehrzeit bei seinem späteren Schwiegervater Trainer Johannes Kuhr auf dem Gestüt Ravensberg in der Nähe von Gütersloh beendet gehabt haben. Er stand also sicher noch ganz am Anfang seiner Jockeylaufbahn, die fast genau fünfzehn Jahre dauerte, bis zu jenem folgenschweren Tag im Krefelder Stadtwald Ende April 1976.

Jung sei er damals noch gewesen und unerfahren, und natürlich habe er noch eine Menge lernen müssen, so meinte mein Onkel, aber was ihn überzeugt habe, sei das sichtbare Talent des jungen Mannes gewesen, dazu seine „nette, bescheidene Art“ und „wie der so mit den Pferden war.“ Ihm habe besonders gefallen, dass der junge Reiter die Peitsche niemals im Übermaß benutzt habe. „Der hat die Pferde nicht kaputt gemacht. Im Gegenteil!“ 

Diese frühen Eindrücke und ein großer Wettgewinn auf einen Sieg Harro Remmerts mit der Stute Cosima aus dem Stall von Trainer C.W. Löwe im Oktober 1963, von dem mein Onkel auch viele Jahre später noch begeistert schwärmen konnte, haben ihn offenbar dazu bewogen, die Laufbahn des Reiters immer aufmerksam zu verfolgen und sich über jeden Fortschritt zu freuen. Mein Onkel war, so würde man dies zumindest heute ausdrücken, zum Fan geworden, und darum freute es ihn umso mehr, als Anfang 1973 bekannt wurde, dass sein bevorzugter Reiter den Posten als Stalljockey bei seinem verehrten Trainer Sven von Mitzlaff erhalten hatte. Für meinen Onkel - und nicht nur für ihn - war dies eine Traumkombination. 

Für Harro Remmert selbst war dieser Schritt ein Meilenstein in seiner Karriere, die sich spätestens seit Mitte der 1960er Jahre in Stalljockeyfunktion bei Georg Zuber in Neuss enorm positiv entwickelt hatte. Ob es diese Berufung an den Olymp-Stall in Köln war, die meinen Onkel bewogen hat, jenes Autogramm zu besorgen, das ich in einem seiner alten Alben des Rennsports gefunden habe? Mag sein – es ist eines von nur drei Autogrammen, die er überhaupt in seinem Fundus hatte.

Fundstück - ein Autogramm


So wie auf dem Bild dargestellt, in voller Jockeymontur, habe ich selbst Harro Remmert nicht mehr erlebt, denn dafür bin ich zu spät geboren. Als sein schwerer Unfall in Krefeld geschah, der meinen Onkel auch viele Jahre später noch immer wieder gedanklich beschäftigte und zum Erzählen brachte, wenn wir den Trainer Harro Remmert im Führring oder anderswo auf einer Rennbahn bei der Arbeit sahen, war ich noch keine zwei Jahre alt – zu jung also für aktive Erinnerungen.


Noch fest im Sattel


Seine Erinnerungen hat mein Onkel in seinen vielen Geschichten aber gerne mit mir geteilt und mir damit schon in meiner Kindheit eine intensive Prägung mitgegeben, die bis heute für gewisse Vorlieben sorgt, mit denen ich das aktuelle Renngeschehen erlebe. Speziell Geschichten von den großen Siegen Harro Remmerts mit dem Zoppenbroicher Athenagoras im Deutschen Derby 1973, von seinem Doppeltreffer im Aral-Pokal 1973 und 1974 oder der Sieg mit Loisach im Preis der Diana 1974 auf unserer Heimatbahn am Raffelberg, nachdem Harro Remmert gerade erst wieder von einem Armbruch genesen war, konnte mein Onkel dermaßen anschaulich nacherzählen, dass es mir vorkam als laufe ein Film in meinem Kopf ab und ließe mich tatsächlich indirekt zur Augenzeugin werden. Schade – ich hätte ihn wirklich auch gerne einmal als Jockey erlebt, denn was ich auf zahlreichen Fotos in diversen Alben des Rennsports sowie in wenigen erhalten gebliebenen Filmausschnittchen vom Jockey Harro Remmert inzwischen gesehen habe, gefällt mir ebenfalls sehr.

Ich selbst kenne aus eigenem Miterleben also nur den Trainer Harro Remmert, wobei meine frühesten Erinnerungen bis an den Anfang der 1980er Jahre zurückreichen. Ein Pferd namens Kai war es, dem damals meine gesamte Sympathie galt, hieß doch ein besonders netter Junge aus meiner Grundschulklasse auch Kai. Wie schön, dass Kai, das Pferd, von Harro Remmert trainiert wurde und häufiger in Mülheim vor meiner Haustür an den Start kam. Eine Weile lang war meine Standarderwiderung, wenn mein Onkel mich fragte, ob ich mit auf die Rennbahn kommen wollte: „Läuft Kai auch?“ Die Antwort war sehr oft positiv, und ich kann mich zum Beispiel noch gut an den dritten Platz von Kai erinnern, den er unter Harro Remmerts Bruder Peter am 1. Mai 1983 im Großen Preis der Stadt Mülheim an der Ruhr, immerhin einem Ausgleich I, errang. Ich hatte meinen skeptischen Onkel überzeugt, Kai doch auf Platz zu wetten – und es hat sich sehr gelohnt.

Friedemann hieß ein weiterer treuer „Dauerläufer“ aus dem Neusser Stall von Harro Remmert, an dem ich im Grundschulalter einfach schon den wunderschönen Namen mochte. Erst viel später habe ich zufällig über einen alten Jahresrennkalender herausgefunden, dass jener Friedemann auch das letzte Pferd war, das Harro Remmert als Jockey am 25. April 1976 in Krefeld ins Ziel geritten hatte. Es wurde ein wenig spektakulärer fünfter Platz – kaum eine Stunde, ehe der Unfall mit Arpad das Leben des damals dreiunddreißigjährigen Reiters dramatisch verändern sollte. Dass der vom Gestüt Zoppenbroich gezogene Friedemann mit zu den Pferden zählen sollte, mit denen der Trainer Harro Remmert kaum ein Jahr später seine neue Aufgabe auf der Galopprennbahn in Neuss begann, hat damals sicher niemand ahnen können, und doch sind es gerade solche Kontinuitäten, die die im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren bis Ende 2002 äußerst erfolgreich verlaufene Karriere des „Trainers im Rollstuhl“ Harro Remmert überhaupt erst möglich machten.


Harro Remmert hatte vor seinem Unfall, wie es in einigen Interviews nachzulesen ist, überhaupt kein Trainer werden wollen. Erst danach, als er irgendwie einen Weg finden musste, um mit seiner bleibenden Behinderung zu Rande zu kommen, wurde das Trainieren von Galopprennpferden zu einer Möglichkeit, zumindest weiter mit den Vierbeinern arbeiten zu können, die zuvor sein Leben bestimmt und erfüllt hatten. Sein Trainer Sven von Mitzlaff und Kurt Bresges, der Gestütsherr von Zoppenbroich, die Harro Remmert beide offenbar sehr schätzten, waren es, die auf die Idee kamen ihm mitten hinein in die Ängste, Trauer und Zweifel der ersten Zeit nach seinem Unfall, als er noch schwer verletzt im Krankenhaus lag, eine solche zweite Laufbahn vorzuschlagen.


Ein Zeitungsbericht über einen ähnlich verunglückten Reiter aus Frankreich hatte als Ideengeber gedient, doch in Deutschland gab es damals noch keinen Präzedenzfall für einen querschnittgelähmten Trainer, der zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war. Und so mussten zunächst viele Zweifel und Hindernisse ausgeräumt werden, ehe Harro Remmert überhaupt die Chance bekommen konnte, den zaghaft gefassten Funken Hoffnung in Realität umzusetzen, indem er die Prüfung zum Pferdewirtschaftsmeister ablegte und sich auf der Neusser Galopprennbahn einen eigenen, zunächst kleinen, bald aber stetig wachsenden Stall aufbaute.

Mein Onkel erinnerte sich gut an die vielen Diskussionen über die Realisierbarkeit dieses Vorhabens, die unter seinen Zockerfreunden 1976 geführt wurden, als einige Zeit nach dem schweren Unfall in Krefeld bekannt wurde, was Harro Remmert nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus tun wollte. Immer wieder sprach er davon, wie er im Herbst 1976 Harro Remmert nach dessen Unfall zum ersten Mal wieder auf der Kölner Rennbahn gesehen habe und von der folgenden Debatte in einer Wetthalle. Er selbst, so meinte er, sei praktisch der Einzige in jener Runde gewesen, der auch nur ansatzweise daran geglaubt hatte, dass so etwas möglich sei. Die Zweifel türmten sich bergehoch: „Wie will er das denn überhaupt machen aus dem Rollstuhl? Wie soll so etwas mit diesen großen Tieren denn gehen?“

Wie Harro Remmert das machte, wie so etwas mit diesen großen Tieren ging, lässt der oben verlinkte Filmausschnitt wohl recht gut erkennen. Neben der Hilfe seiner Frau, seiner Familie und guter Freunde waren es aber doch sicher vor allem eigene Entschlossenheit, seine intensiv enge Bindung an die ihm anvertrauten Pferde sowie seine auffallende Ruhe und Geduld, die dazu beigetragen haben, dass der Trainer Harro Remmert nicht nur mit ein paar ihm aus Mitleid überlassenen Alibi-Vierbeinern irgendwie über die Runden kam und etwas zu tun hatte, was ihn auf andere Gedanken brachte, sondern dass er von Jahr zu Jahr immer mehr Erfolg entwickelte. Bald entwickelte sich sein Stall in Neuss zu einer beliebten Trainingsadresse. So rückte irgendwann auch die Tatsache, dass dieser Trainer nun einmal zum Vorwärtskommen einen Rollstuhl benutzte, zunehmend in den Hintergrund der Wahrnehmung.

Die Fernsehdokumentation von 1981 zeigt einen Einblick in diese frühe Phase der Trainerkarriere von Harro Remmert, in der er gleichwohl mit den zwei Iffezheimer Treffern der Zoppenbroicher Stute Anmut oder mit den vielen guten Platzierungen des Hengstes Ludovico schon sehr schöne Erfolge erringen konnte. Das Leben, das am 25. April 1976 durch den Unfall mit Arpad und die Diagnose Querschnittlähmung radikal unterbrochen worden war, war doch irgendwie weitergegangen – und es hielt neben der täglichen, sicher oft mühseligen Anstrengung, diesen Beruf als Rollstuhlfahrer ausüben zu wollen und ausüben zu können, auch sichtbar viele Freudenmomente für Harro Remmert bereit. Er hatte eine neue Aufgabe gefunden, die ihn vollständig forderte und ihn gleichzeitig regelmäßig durch Erfolge belohnte, die – diese Erinnerung ist mir ebenfalls noch ganz deutlich präsent – vom Rennbahnpublikum immer mit besonderer Herzlichkeit bejubelt wurden.

„Hab ich doch gesagt, dass der das kann!“, pflegte mein Onkel auch in den späteren 1980er Jahren noch gerne mit leicht triumphierendem Unterton anlässlich solcher Erfolge zu jenen unter seinen Zockerfreunden zu sagen, die anfangs zu den größten Zweiflern gezählt hatten. So zum Beispiel am 27. September 1987, als Harro Remmert mit dem Hengst Kamiros in Köln durch den hauchdünnen Sieg im Preis von Europa seinen bis dahin wohl größten Treffer schaffte, nachdem er zu Beginn der Saison von Neuss nach Weidenpesch gewechselt war, um dort den Stall von Sven von Mitzlaff weiterzuführen. Eigentlich war mein Onkel ja damals mit mir im Schlepptau nach Köln gefahren, um noch einmal den großen Acatenango live zu erleben, der in jenem Preis von Europa sein letztes Rennen absolvierte, doch dessen besorgniserregendes Versagen war schlagartig vergessen, als das Zielfoto schließlich belegte, dass tatsächlich Kamiros das Rennen gewonnen hatte. Damit gerechnet hatte mein Onkel gewiss nicht, doch seine pure Freude steckte (nicht nur mich) einfach an.

Wenig später machte ich mich im Hinblick auf meine unvermindert regelmäßigen Rennbahnbesuche überall dort, wo man eben mit dem Schülerticket und öffentlichen Verkehrsmitteln hinkam, immer selbstständiger von meinem Onkel und nahm lieber Freundinnen mit, die sich dann (das hat sich ja eigentlich bis heute nicht geändert) all die vielen Geschichten am Führring anhören durften, die sich so im Verlauf der Zeit in meinem Kopf angesammelt hatten. Meinem Onkel begegnete ich irgendwann auf der Rennbahn nur noch eher zufällig und irgendwann, als seine Gesundheit nicht mehr mitspielte, gar nicht mehr. Seine Vorlieben, zu denen auch sein respektvoll bewunderndes Interesse für Harro Remmert zählte, hatte er mir aber schon längst „vererbt“, und so achtete auch ich mit meinem zunächst noch ziemlich beschränkten Hintergrundwissen immer genau und mit besonderer Sympathie auf die Pferde, die jener Trainer am Start hatte.


Siegerehrung - hier in Gelsenkirchen Anfang der 90er Jahre


Viele Male habe ich am Absattelring gestanden und nach einem Rennen – gleich ob es nun erfolgreich verlaufen war oder nicht – beobachtet, wie Harro Remmert mit seinen Schützlingen umging, wie er sie ganz genau beobachtete und häufig, so als existierten das Menschengewimmel ringsumher und die anderen Pferde gar nicht, den Kontakt zu ihnen suchte, wie sie in der Regel auch unmittelbar nach den Anstrengungen und all der Aufregung eines Rennens mit bemerkenswerter Vertrautheit und Ruhe auf ihn reagierten.

Harro Remmert und die von ihm trainierte Wurftaube
nach deren Sieg im St. Leger am 29. September 1996
- ein ganz typisches Bild aus dem Absattelring


Das hat mich – und ganz sicher nicht nur mich! – immer enorm beeindruckt.

Gerade „meine“ Rennbahn in Mülheim entwickelte sich, nachdem eine kleine Durststrecke zu Beginn der 1990er Jahre überstanden war, zu einem besonders erfolgreichen Pflaster für Harro Remmerts Pferde, und so kann ich mich an viele schöne Treffer erinnern, die ich meistens von ganz vorne an den Rails neben dem Richterturm unmittelbar gegenüber des Zielspiegels miterlebte. Allen voran sind da natürlich die drei Siege im Preis der Diana mit Centaine, Que Belle und Puntilla, aber auch Listentreffer mit Theophanu, Massada und Tsarina oder Handicap-Erfolge mit Laval, Lambada oder Mink zu nennen. Besonders das spektakulär erfolgreiche Jahr 1995, in dem Harro Remmert später ja nicht nur den Preis der Diana mit Centaine, sondern auch das Derby mit All My Dreams gewann, ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben, begann es doch schon sehr erfolgreich, als der Erlenhofer Ladoni in Mülheim im Orakel der Dreijährigen siegte. Bemerkenswert ist übrigens nebenbei, dass jener Ladoni es auch war, der wenige Wochen später in Krefeld, an dem Tag, als die renovierte Rennbahn dort neu eröffnet wurde, das Dr. Busch-Memorial gewinnen konnte – also genau das Rennen, in dem Harro Remmert neunzehn Jahre zuvor so schwer verunglückt war. Auch hier war ich dabei und habe fleißig geklatscht.

Im folgenden Jahr war es dann die Ravensberger Stute Wurftaube, die mein Herz in ganz besonderer Weise eroberte, auch wenn sie nie am Raffelberg an den Start kam und ich sie nur manchmal live laufen sehen konnte. Dennoch habe ich ihre Karriere unter der Obhut von Harro Remmert besonders aufmerksam verfolgt – nicht umsonst gibt es hier ja auch bereits eine separate Geschichte über mein besonderes Lieblingspferd Wurftaube. 

Wiesenpfad im Führring der Düsseldorfer Rennbahn
Herbst 2008


Ihr Enkel Wiesenpfad war es passenderweise dann auch, der mich nach einigen Jahren Rennbahnabstinenz, die sich vor allem durch zwei längere Auslandsaufenthalte ergeben hatte, wieder zurück zu diesem Sport lockte und die von kleinauf gewachsene, nur verschüttete Faszination neu aufflammen ließ. Die aktive Trainerlaufbahn von Harro Remmert war da bereits seit einigen Jahren beendet, und manchmal bedauere ich es, dass ich nicht nur in dieser Hinsicht auf der Rennbahn nach der Jahrtausendwende einige Dinge versäumt habe.

Einmal war ich aber auch in jener Zeit noch eher zufällig am Raffelberg dabei – am 9.Juni 2002, und damit genau an dem Tag, an dem Harro Remmert (sinnigerweise ausgerechnet im Sven von Mitzlaff-Rennen!) mit der Stute Templerin sein lang ersehnter 1000. Sieg als Trainer gelang. Als Jockey war es ihm nicht möglich gewesen, diese magische vierstellige Zahl zu erreichen, denn seine Reiterlaufbahn endete heute vor genau 35 Jahren durch den schweren Unfall in Krefeld abrupt, nachdem er im Sommer zuvor seinen 500. Sieg hatte feiern können. Seine viel bemerkenswertere Leistung dürfte es aber wohl sein, dass er ganz offensichtlich einen Weg gefunden hat, sich von den Folgen dieses Sturzes nicht dauerhaft aus der Bahn werfen zu lassen, sondern ein erfülltes und – so wirkt es zumindest – zufriedenes Leben mit vielen Glücksmomenten zu führen.

Harro Remmert im Mülheimer Führring Anfang Mai 2010
beim Beobachten des Maidenstarts des vom Gestüt Zoppenbroich gezogenen Lindentree


Bis heute ist er auf den Rennbahnen im Westen Deutschlands, aber auch in Hamburg und Baden-Baden, häufiger Besucher und sehr aufmerksamer Beobachter, besonders der Pferde eines Trainers namens Waldemar Hickst, der Mitte der 1990er Jahre als einfacher Arbeitsreiter im Kölner Olymp-Stall angefangen hatte und dort bald zu einem wichtigen, auch menschlich sehr geschätzten Mitarbeiter von Harro Remmert geworden war. Dass es ausgerechnet dieser Waldemar Hickst war, der als Jockey Templerin zum 1000. Sieg für seinen Trainer ritt, dass er mit leichter Zeitverzögerung gewissermaßen Harro Remmerts Nachfolge als einer der führenden deutschen Trainer angetreten hat, dass er es auch war, der den kleinen Hengst Wiesenpfad für eine Besitzergemeinschaft um Harro Remmert vorbereitete und zu vielen Gruppesiegen führte… nun, es gibt im Leben manchmal einfach Geschichten, die einen derart märchenhaften Charakter haben, dass man sie nicht besser erfinden könnte, wenn sie nicht sowieso schon Realität wären. In diesem Fall ist es ganz sicher so.

Dass Harro Remmerts persönliche Lebensgeschichte einmal eine solche Entwicklung erfahren würde, konnten wohl weder die erschreckten und besorgten Augenzeugen in Krefeld noch die unmittelbar Betroffenen heute vor fünfunddreißig Jahren ahnen, als sich die Befürchtungen nach seinem Sturz mitten hinein in schockierte Ohnmacht langsam bewahrheiteten – geschweige denn hoffen. Dass ihm dies nach dem 25. April 1976 überhaupt gelang, hat ganz sicher auch viel mit einer enormen inneren Kraft zu tun, die er in sich selbst gefunden haben muss.

Allen Menschen, deren Alltagsleben und Zukunftsplanungen durch ein ähnliches folgenschweres Ereignis derart abrupt in Frage gestellt werden, kann man eigentlich nur möglichst viel von jener inneren Kraft, Unterstützung durch liebe Menschen und ähnlich viel Zutrauen in die eigenen verbliebenen Fähigkeiten wünschen. Harro Remmert selbst aber wünsche ich noch möglichst viele Jahre Gesundheit, Lebenskraft und Freude an der aufmerksamen Beobachtung von Rennpferden, die sein gesamtes Leben vor und nach seinem Unfall so geprägt haben.

Donnerstag, 21. April 2011

Vor fünfzig Jahren: Wüstenkönigs Walkover

Es war einmal vor fünfzig Jahren


„Früher war alles besser…“ – so wird es immer wieder gerne behauptet, auch wenn man sich nur noch vage (oder gar nicht) daran erinnern kann, wie es denn früher wirklich war. Genau deshalb ist diese pauschale Aussage auch so fragwürdig…




Auf den deutschen Galopprennsport bezogen lässt sich aber sicher festhalten, dass früher tatsächlich einige Dinge besser waren: Es gab mehr Renntage, mehr Rennbahnen, mehr aktive Reiter und Auszubildende, mehr Pferde im Training, mehr Besucher auf den Bahnen. Ob die Rennen darum immer spannender waren, die Pferde alle leistungsfähiger oder besser vorbereitet – nun, das kann so allgemein wohl kaum entschieden werden, weil die menschliche Erinnerung nun einmal eine starke Neigung hat, das Vergangene nur auf seine besonders positiven Merkmale zu reduzieren und die negativen Bereiche auszublenden. Das Durchschnittliche geht in der Rückschau immer unter – die Helden und großen Momente bleiben in Gedanken auch nach Jahren und manchmal Jahrzehnten noch lebendig… oft sogar überlebensgroß. So ist das eben mit der Nostalgie.


Eines aber behalten wir Menschen besonders gut im Gedächtnis – das Kuriose, Außergewöhnliche. Und eben in diese Kategorie fällt auch die heutige Geschichte von Wüstenkönig und Vasgenwälderin, die sich vor fünfzig Jahren, am 22. April 1961, auf der Galopprennbahn in Mülheim an der Ruhr abspielte.


Pferde fehlen irgendwie...


Es war ein Samstag, und die Veranstaltung auf dem Raffelberg sollte so beginnen wie damals manch ein Renntag anfing – mit einer Konkurrenz über die Sprünge. Heute, in einer Zeit, in der Hindernisrennen an sich schon rar geworden sind, findet man kaum je ein wirklich kopfstarkes Feld in diesem Metier vor. Immer wieder führt dies zum großen Bedauern der Hindernis-Fans sogar zu Rennabsagen, weil sich einfach nicht genug Pferde rekrutieren lassen. Damals hingegen gehörte mindestens ein Hürden- oder Jagdrennen zu praktisch jedem Renntag dazu, und entsprechend gab es auch mehr Pferde, die für solche Wettbewerbe vorbereitet wurden und dann im Kampf um Sieg- und Platzgelder zur Verfügung standen.


Sollte man zumindest meinen…


Der Mülheimer Rennverein hätte sich damals sicher auch ein besseres Nennungsergebnis gewünscht, aber man entschied sich dennoch, das Ratzeburger Jagdrennen, das mit immerhin 4000 Mark dotiert war, mit nur vier Startern ins Programm zu nehmen. Ziemlich grenzwertig, das gesamte Unterfangen, vor allem mit Blick auf erhoffte Wetterlöse! Man mag sich kaum vorstellen, was in den Verantwortlichen dann vorgegangen sein muss, als am Morgen des Renntags zwei der vier gemeldeten Starter, nämlich die Pferde Kerbal und Strom, zu Nichtstartern erklärt wurden. Flugs hatte sich das Starterfeld um die Hälfte auf nur noch zwei verbliebene Kandidaten reduziert.


Ein Zwei-Pferde-Rennen gleich zu Beginn der Tageskarte? Das an sich mag schon bizarr genug anmuten, wird aber noch verstärkt, wenn man weiter im Rennkalender für das Jahr 1961 liest. Solche Mini-Starterfelder waren nämlich im jenem Frühjahr keinesfalls selten. Schon im zweiten Rennen in Mülheim waren wiederum nur zwei Starter für die Dreijährigen-Flachkonkurrenz über 1600m übrig geblieben, denn nach der Abmeldung von Arosio kamen nur noch der spätere Sieger Wiener Marsch und der Zweitplatzierte Minnesänger an den Ablauf. Ein sehr musikalischer Einlauf also! Und weil es scheinbar zum Motto des Renntags geworden war, wiederholte sich dieses Phänomen gleich im fünften Rennen, denn den Preis von Plön bestritten nur Nettuno und Abu-Markub, nachdem Thisbe abgemeldet worden war.


Man hatte hier also ernsthaft ein Vier- und zwei Drei-Pferde-Rennen angesetzt anstatt sie (wie heute sicher üblich) abzusagen. Doch nicht alleine der Mülheimer Rennverein offerierte im Frühjahr 1961 derartig kuriose Mini-Starterfelder. Gleich am folgenden Tag, dem 23. April 1961, ging es in gleicher Manier in Horst-Emscher weiter, wo die Tageskarte wieder mit zwei Zwei-Pferde-Konkurrenzen eröffnete. Immerhin verloren die Zuschauer so nicht den Überblick…


Der Hintergrund für diese seltsamen Planungen war jedoch ein recht ernster, denn im Frühjahr 1961 litten viele westdeutsche Trainingsquartiere unter heftigen Hustenepidemien, so dass einfach nicht viele Pferde startfertig herausgebracht werden konnten und unter jenen, die eigentlich gemeldet waren, immer wieder neue Krankheitsfälle auftraten und die Vierbeiner zu Nichtstartern machten. Darum stellten die Tierärzte fleißig Atteste aus, deren Grund, nämlich Erkrankung an Husten, in den Rennberichten penibel vermerkt wurde. Und nicht bloß „kleine“ Rennen wie das Ratzeburger Jagdrennen oder der Preis von Plön (toller Renntitel, so ganz nebenbei!) waren betroffen. Der Husten machte auch vor prominenten Vierbeinern wie etwa Alarich, dem Derbysieger des Vorjahres, nicht Halt. Der hätte nämlich an jenem Wochenende sein Jahresdebüt geben sollen, doch daraus wurde vorerst nichts – Husten. Erst später im Jahr konnte er sich mit seinem Sieg im Gerling-Preis schadlos halten.


Immerhin konnte Alarichs geplantes Rennen auch ohne ihn noch in vernünftigem Rahmen stattfinden, denn es waren fünf Starter verblieben, von denen Engpass aus dem Gestüt Mydlinghoven das beste Ende für sich hatte. In einem wortwörtlichen Engpass steckte aber der Mülheimer Rennverein am 22. April 1961 im Hinblick auf das Ratzeburger Jagdrennen, denn während ein Zwei-Pferde-Rennen zwar bezogen auf das mögliche Wettergebnis ein Schlag ins Wasser sein dürfte, kann es sich ja durchaus aus taktischer Sicht zu einem spannenden Wettbewerb für die Rennsportfreunde entwickeln, falls… ja, falls die beiden Antretenden tatsächlich mehr oder weniger ebenbürtige Konkurrenten sind, die beide gewinnen wollen.


Genau dies war aber im Ratzeburger Jagdrennen nicht mehr der Fall, denn die beiden nicht hustenden Vierbeiner, die hier noch an den Start gelangten – Wüstenkönig und Vasgenwälderin –, waren ausdrücklich keine Konkurrenten. Beide gehörten nämlich dem Gestüt Lindenhof und wurden von Dr. C.W. Löwe, dem Vater des heute sehr erfolgreichen Kölner Trainers Andreas Löwe, vorbereitet. Den muss es sehr gefreut haben, als er erfuhr, dass es keine Konkurrenz für seine beiden Pferde geben würde – zumindest legt ein Foto aus dem Album des Rennsports diese Vermutung nahe, denn schon im Führring konnte er sich ein strahlendes Lachen nicht verkneifen. Lag die Gesundheit seiner Pferde vielleicht sogar daran, dass er auch Tierarzt war? An und für sich hätte er ja auch einfach die Pferde wieder verladen und frohgemut nach Hause fahren können, doch die Regularien sahen für den überaus kuriosen Fall, dass in einem Hindernisrennen nur noch Pferde eines Besitzers an den Start gelangten, vor, dass diese in einem heute kaum mehr denkbaren, so genannten Walkover über die Bahn gehen mussten – pro forma, natürlich, aber Bestimmungen sind (zumal in Deutschland!) natürlich dazu da, um eingehalten zu werden.


Rasch wurde also wohl im Führring entschieden, dass Wüstenkönig vor Vasgenwälderin ins Ziel kommen würde. Das Wetten auf den damit vorher erklärten Sieger und die Zweitplatzierte konnten sich die an diesem leicht regnerischen Frühjahrsrenntag auf dem Mülheimer Raffelberg Anwesenden logischerweise sparen. Dafür gab es dem optischen Eindruck nach Unterhaltung gratis, denn eine Fotoserie – und ohne diese kuriose Hintergrundgeschichte hätte es das ansonsten alles andere als spektakuläre Ratzeburger Jagdrennen wohl kaum mit einer ganzen Bilderseite ins Album des Rennsports geschafft – belegt, dass alle Beteiligten eine Menge Spaß hatten. Auch die Pferde wurden nicht überanstrengt, denn nach Rennordnung durften Wüstenkönig und Vasgenwälderin nach dem Start auf „beliebigem“ Weg ins Ziel geritten werden. Diese Vorschrift wurde beim Wort genommen, und so gingen die Lindenhofer Pferde in einem gemütlichen Spazierritt hintereinander über die Bahn. Lediglich im Einlauf stellten sich die Jockeys Tress und Pohlkötter ein wenig in den Bügeln auf und canterten ins Ziel – aber gaaaaanz langsam. Am anstrengendsten war es den Bildern nach für die Reiter wohl, auf dem Rückweg zur Waage nicht vor hemmungslosem Kichern aus dem Sattel zu fallen. Dass die Auswahl des Trainers, welches seiner Pferde auf welchem Rang ins Ziel kommen würde, wohl richtig gewesen war, belegen die späteren Rennleistungen, denn immerhin zeichnete sich Wüstenkönig 1961 noch zwei weitere Male als Sieger in Hindernisrennen aus, während Vasgenwälderin eher eine Dauerplatzierte war. Ganz sicher mussten sie sich aber in ihren nachfolgenden Rennen mehr anstrengen als am 22. April 1961.


So wurde aus einem an und für sich wenig bedeutenden Jagdrennen eine denkwürdige Veranstaltung – „etwas Einmaliges“, wie das Album des Rennsports urteilte. Für meinen damals noch recht jungen Patenonkel, den ich übrigens amüsanterweise auf einem der schwarz-weißen Fotos als Zuschauer erkennen kann, war die Geschichte von Wüstenkönig und Vasgenwälderin eine seiner bevorzugten Anekdoten, wann immer in späteren Jahren in Mülheim ein Jagdrennen zur Entscheidung anstand. Ich weiß gar nicht, wie oft ich sie später von ihm zu hören bekam. Und so sind mir schon seit vielen Jahren die Namen zweier Pferde vertraut, die vor genau fünfzig Jahren einfach Glück hatten, weil sie dem gleichen Besitzer gehörten und NICHT an Husten erkrankt waren.


War also früher auf den Rennbahnen alles besser?


Nein, wohl kaum – aber die eine oder andere inzwischen längst der Vergangenheit angehörende Vorschrift sorgte gelegentlich unbeabsichtigt für bizarr-unterhaltsame „Rennen“ wie jenen aus der Not geborenen Walkover von Wüstenkönig und Vasgenwälderin

Freitag, 8. April 2011

Vor 25 Jahren: Mehr als ein Vulkan.

Genau vor einem Jahr habe ich den folgenden Text verfasst, der an einen der ganz großen (nach Meinung vieler Fans DEN größten!) vierbeinigen Helden der jüngeren Galoppsportgeschichte erinnert. Somit ist es heute genau 26 Jahre her, seit sich in einem Rennen für Dreijährige auf der Kölner Rennbahn ein ganz besonderes Rennpferd dem Publikum vorstellte.


Acatenango - der Vulkan, nicht das Rennpferd...



Es war einmal vor 25 Jahren

Heute vor 25 Jahren, am 8. April 1985, war Ostermontag. Auch wenn es sich sage und schreibe bereits um den fünften Renntag dieser noch jungen Saison im Weidenpescher Park handelte, war es doch die erste Veranstaltung, die mit dem Kölner Frühjahrsausgleich als Listenrennen sowie dem Jean Harzheim-Rennen für die hoffnungsvollen Dreijährigen wieder ein anspruchsvolleres sportliches Programm bot.

Und tatsächlich mag so manch ein Rennbahnbesucher, der damals dort gewesen ist, sich im Nachhinein der Tatsache bewusst geworden sein, dass er Zeuge eines ganz besonderen Renntags geworden war. Im fünften Rennen der Tageskarte, dem schon erwähnten Jean Harzheim-Rennen, hatte nämlich ein Hengst sein Jahresdebüt gegeben, der sogleich gewann, auch wenn ihm vor dem Start des Rennens keine großartigen Chancen eingeräumt worden waren. Eine Siegquote von 92:10 und die Tatsache, dass sich der Stalljockey für ein anderes Pferd, das in den gleichen Rennfarben als haushoher 15:10-Favorit in die Startboxen einrückte, entschieden hatte, belegt, dass vielen Augenzeugen wohl erst in der Nachschau die Besonderheit jenes Moments deutlich geworden ist, als ein dreijähriger Fuchshengst mit Lutz Mäder im Sattel sicher mit zwei Längen Vorsprung vor den übrigen Startern die Ziellinie passierte.

Ob sie damals schon geahnt haben, was noch folgen würde? Wohl kaum...

Überhaupt ist das mit rückschauenden Erinnerungen ja so eine Sache. Nicht selten verändert sich der Blickwinkel auf bestimmte Ereignisse und Dokumente auf eine ganze amüsante Weise, weil man später eben mehr weiß als die Zeitgenossen, die – so liegt es in der Natur der Sache – stets nur den eigentlichen Moment miterleben und auf die Zukunft nur hoffen können. So war es auch bei jenem Fuchshengst, der bald schon Schlagzeilen über Schlagzeilen produzieren und zu einem der meistgeliebtesten Rennpferde auf deutschen Bahnen aufsteigen sollte. Am 8. April 1985 war zunächst einmal ein Anfang gemacht worden. In welche Höhe die Reise noch führen würde, hat wohl damals noch niemand gewusst.

Aus eben diesem Grund erscheint in der Nachschau auch die Tatsache, dass er – der große Acatenango, denn von ihm ist natürlich die Rede – sich bereits als Zweijähriger auf ein Foto im Album des Rennsports 1984 „verirrt“ hatte, so faszinierend. 

Acatenango - noch (!) eher unbeachtet

Kaum ein Mensch schenkt ihm auf diesem Bild, das an einem sonnigen Spätherbsttag in Weidenpesch geknipst wurde, überhaupt Aufmerksamkeit. Ruhig und entspannt läuft der zweijährige Acatenango am Führzügel nach dem Rennen seines Weges, und eigentlich ist er überhaupt nur deshalb auf dem Bild, weil sein Jockey Horst Horwart, der nicht eben begeistert aussieht, die gleichen Rennfarben trägt wie der Reiter des nachfolgenden Pferdes. Im Gegensatz zu Acatenangos Reiter hat Georg Bocskai sichtlichen Grund zur Freude, denn er sitzt ja schließlich auf dem frisch gekürten Winterfavoriten des Jahres 1984, auf Lirung, dem ganz großen Star unter den Zweijährigen jener Saison. Vor wenigen Minuten erst hat Lirung eine beeindruckende Demonstration seines Könnens gegeben, hat die Gegnerschaft in Grund und Boden gestiefelt, und wird nun gemeinsam mit seinem Jockey vom Publikum bewundert, beklatscht und auf dem Rückweg zur Waage gefeiert. Kein Wunder, dass Georg Bocskai unter dem letzten goldenen Herbstlaub an den Ästen über beide Backen strahlt.

Acatenango hingegen... nun ja, die Miene von Horst Howart spricht Bände. Das war nichts. So gar nicht...

Überhaupt war Acatenangos Zweijährigensaison trotz des erfolgreichen Ablegens der Maidenschaft im zweiten Versuch noch nicht das Gelbe vom Ei gewesen. Immerhin war er ein Sohn von Derby-Sieger Surumu. Seine Mutter Aggravate hatte zwar in der Zucht noch keine Bäume ausgerissen, aber dennoch mag der zehnte Platz im ersten Versuch eine ebenso herbe Enttäuschung gewesen sein wie die Tatsache, dass Acatenango nach zwei ordentlichen dritten Plätzen im Preis der Winterfavoriten nur weit abgeschlagener Fünfter wurde. Dass er bei seinem einzigen Sieg in jener Saison - ausgerechnet im Preis des Gestüts Fährhof - an Burattino und Smaragd immerhin zwei alles andere als schlechte Pferde besiegt hatte, konnte man damals ja noch nicht wissen.

Aber selbst wenn der zweijährige Acatenango sich noch nicht mit großem Rennbahn-Ruhm bekleckert hatte, hatte man ja in den schwarz-gelben Farben in jener Saison einen ganz großen Star am Start, in dessen Schatten auch der dreijährige Acatenango noch lange stehen sollte - eben jenen Lirung, den Winterfavoriten, dem alle Hoffnungen für die Saison 1985 galten.

Über Winter muss der nach einem südamerikanischen Vulkan benannte Acatenango allerdings heimlich, still und leise eine erstaunliche Entwicklung durchgemacht haben. Dies geschah offenbar so heimlich, still und leise, dass sie zunächst auch an seinem Betreuer Heinz Jentzsch und Stalljockey Georg Bocskai vorbeigegangen sein muss, denn der saß am 8. April 1985 auf Aguarico, noch einem wahrlich nicht schlechten Rennpferd dieser großen Ära für das Gestüt Fährhof, und verlor. Nur einmal, als es keinen anderen Stallgefährten im gleichen Rennen zu reiten gab, hat Georg Bocskai in jenem Jahr überhaupt Acatenango geritten, nämlich bei seinem zweiten Saisonsieg Anfang Mai im Eugen Fürst zu Oettingen-Wallerstein-Rennen in München. Ansonsten lag er partout immer falsch, denn gleich ob er nun Lirung, Abary oder Aguarico gegenüber Acatenango den Vorzug gab, so galt eine goldene Regel: Acatenango gewann, Georg Bocskai saß auf dem falschen Pferd.

Es war eine wahrhaft spektakuläre Dreijährigensaison, die Acatenango 1985 auf die deutschen Rennbahnen zauberte, und mit der er das Herz vieler Rennbahngänger im Sturm für sich eroberte. Er gewann, und gewann, und gewann, und gewann... Es schien kein Halten für den stattlichen Fuchshengst zu geben. Langsam, dann immer schneller sprach sich das natürlich herum, auch wenn der große Schattenspender Lirung parallel ebenfalls großartige Leistungen bot. Und irgendwann erreichte der Name Acatenango auch meine knapp elfjährigen Ohren.

Nun verirrte sich ein Pferd vom Kaliber eines Acatenango, der durch seine Siegesserie dabei war, zu einem der hoffnungsvollsten Dreijährigen der Saison 1985 aufzusteigen, normalerweise nicht mehr auf die Mülheimer Rennbahn. Er war ja ein Hengst, keine Stute, und somit kein Kandidat für den Preis der Diana. Dennoch bekam ich mit all meinem damals noch arg beschränkten Rennbahnhorizont große Lust, diesen angeblich so tollen Acatenango einmal selbst zu sehen. Und tatsächlich hätte ich es Mitte Juni 1985 beinahe geschafft. Mein Onkel wollte zum Union-Rennen und hätte mich mitgenommen, aber noch ehe ich mich freuen konnte, machte mir Tante Ediths (andere Seite der Familie ohne jedes Verständnis für die Faszination, die Rennpferde ausüben können) fünfzigster Geburtstag einen Strich durch die Rechnung.

Acatenango gewann also, und ich war auf Tante Ediths Geburtstag. Auch ein schicker vorpubertärer Trotzanfall meinerseits hatte meine Eltern nicht umstimmen können. Nicht einmal die Fernsehübertragung durfte ich sehen, denn just an jenem Tag lief meiner Erinnerung nach Tennis, also sahen wir nicht fliegenden Hufen zu, sondern verfolgten das gleichförmige Plop-Plop von Tennisbällen. Hätte meine Antipathie gegenüber Boris Becker noch größer werden können? Wohl kaum.

Ich musste also bis zum folgenden Tag warten, als ich meinen Onkel beim Mülheimer Renntag auf dem Raffelberg wie immer am Führring traf und er mir von Acatenangos überlegenem Sieg im Union-Rennen berichtete. Er war regelrecht enthusiastisch, und das wollte etwas heißen, denn eigentlich konnte mein Onkel aus Prinzip mit den Pferden des Asterblüte-Stalls wenig anfangen, und obendrein hatte Acatenango ja gerade erst seinen neu entdeckten Liebling Kamiros aus dem Olymp-Stall von Sven von Mitzlaff besiegt. Dass er dennoch am gleichen Tag eine höhere Wette auf Acatenango im Derby anlegte, war ein deutliches Zeichen.

Es war auch eine Investition, die sich wenig später gelohnt hatte, denn am 7. Juli 1985 holte sich Acatenango überaus souverän den Derbysieg, obwohl er wieder nur in der zweiten Farbe seines Stalls und zu einer recht lukrativen Quote von 40:10 an den Start ging. Der Grund für die relativ hohen Odds mag wohl auch damit zu tun haben, dass Georg Bocskai sich erneut nicht für Acatenango, sondern eben für den folgerichtigen Favoriten Lirung entschieden hatte. Der jedoch hatte schon eingangs der Zielgeraden, nachdem er zunächst voller Energie dem Feld vorweg gestiefelt war, Acatenangos Stehvermögen und unwiderstehlichem Antritt nichts entgegenzusetzen, so dass er in einem reinen Jentzsch-Einlauf am Ende gar noch von der dritten Stallfarbe Pontiac aus dem Gestüt Bona abgefangen wurde.

Dieses Rennen habe ich am Fernsehen miterlebt, und noch heute finde ich es beeindruckend, die alten Aufnahmen wieder zu sehen und das erstaunte Schreien des Publikums zu hören, als Acatenango Lirung plötzlich stehen ließ. Im Sattel des Hengstes saß mit Andrzej Tylicki übrigens ein damals noch kaum bekannter junger polnischer Jockey, den ich immer sehr gerne reiten sah.   
        
Wer diese beeindruckenden Rennbahn-Momente noch einmal miterleben möchte, kann dies hier tun. Die Bildqualität mag nach so vielen Jahren nicht mehr optimal sein, aber Manfred Chapmans leidenschaftlicher Kommentar macht das locker wieder wett:


Wie ging es weiter mit Acatenango?

Er gewann... und gewann... und gewann... Egal ob es sich nun um den Aral-Pokal 1985 oder im folgenden Jahr den Gerling-Preis, den Preis der Badischen Wirtschaft, den Großen Preis von Berlin, noch einmal den Aral-Pokal und den Großen Preis von Baden handelte - gegen Acatenango kam niemand an. Imponierend war nebenbei auch, wie überlegen und souverän er seine Rennen in der Regel gewann, und dies nicht nur im Inland, sondern wie er in Frankreich mit dem Gewinn des Grand Prix de Saint Cloud demonstrierte, auch gegen starke ausländische Konkurrenz. Erst im Arc de Triomphe des Jahres 1986... ja, in jenem Arc de Triomphe, über den schon so viel geschrieben wurde, da war Schluss mit der wohl spektakulärsten Siegesserie, die ein deutsches Rennpferd seit langer Zeit auf den grünen Rasen gezaubert hatte. 

Aber auch 1987, als nunmehr Fünfjähriger, zeigte Acatenango, dass er nichts verlernt hatte und nach wie vor ein fantastischer Galopper war. Mochte der Nimbus des Unbesiegbaren auch leicht angekratzt sein, Hansa-Preis und Großen Preis von Baden gewann er erneut, und auch im Coronation Cup zeigte er als Dritter seine bewunderten Qualitäten als absolutes Spitzenpferd war.

Wie ich es geschafft habe, Acatenango in all dieser Zeit auch nach dem Derby nicht einmal live zu sehen, weiß ich wirklich nicht. Gelegenheit dazu hätte es zum Beispiel in Düsseldorf oder in Gelsenkirchen ja durchaus gegeben, aber irgendwie wollte es einfach nicht klappen. Erst im Herbst 1987 wurde das Live-Erlebnis dann endlich Wirklichkeit, denn mein Onkel versprach, dass er mich mit zum Preis von Europa nehmen wollte, und dort stand auch Acatenango auf der Starterliste. Die Freude war entsprechend groß, und die Erwartungen waren es ebenfalls. Wenn man schon einmal ein Pferd "vom anderen Stern" zu sehen bekommt, dann soll es natürlich auch gewinnen.

Doch am Ende ging dieses Rennen, in dem ich tatsächlich Acatenango feste die Daumen gedrückt habe, ganz anders aus - und es war ein eigenartig trauriges Ende für den Fuchshengst. Mich (und meinen Onkel) hatte hingegen die Begeisterung hinfort getragen, weil an jenem Tag ein Rennbahnmärchen der ganz anderen Art miterlebt werden konnte: Kamiros (jener Kamiros, den Acatenango schon als Dreijähriger im Union-Rennen besiegt hatte) stieg wie Phönix aus der Asche und gewann, hauchdünn und mit viel Vergrößerung des Zielfotos, aber er gewann gegen den vermeintlich übermächtigen französischen Gast mit dem bezeichnenden Namen Le Glorieux. Und er gewann auch gegen Acatenango, der nur als Achter ins Ziel kam. Vor lauter Mitfiebern und Freude über Kamiros' Sieg (denn er war ja ein Pferd aus "unserem" Stall) hatten wir den großen Acatenango, dessen Besitzer eine Negativ-Dopingprobe beantragte, völlig vergessen.

Ich erinnere mich jedoch gut an einen besonderen Moment am Absattelring, als wir noch den Sieger bewunderten. Heute würde die Hälfte des anwesenden Publikums schnell die Digital-Kamera zücken, um die Erinnerung festzuhalten - damals musste man das noch vornehmlich mit den Augen tun. Und genau damit war ich beschäftigt, als plötzlich ein Mann schräg hinter mir zu seinem auf seinen Schultern sitzenden Sohn sagte: "Guck mal da, da geht er. Guck ihn dir gut an. Das ist Acatenango. Wer weiß, ob wir den noch mal wiedersehen. Aber was war das für ein Rennpferd! Guck ihn dir noch mal an!"

Ob der Junge der Aufforderung seines Vaters Folge geleistet hat, weiß ich nicht. Ich habe es aber getan, und für einen Moment hat mich dieser stille Abgang eines vierbeinigen Helden eigenartig traurig gemacht. Dass es - zumindest auf die Rennbahn bezogen - ein Abschied für immer sein würde, habe ich damals nicht gewusst. Unmittelbar anschließend gab es eine Siegerehrung zu bewundern, und danach war Acatenango verschwunden.

Auch wenn seine aktive Zeit als Rennpferd 1987 mit einer herben Enttäuschung endete, hat Acatenango in den folgenden Jahren bis zu seinem Tod in der Zucht große Dinge geleistet. Nur einige seiner erfolgreichen Nachkommen können und sollen hier genannt werden: Colon, Protektor, Portella, Concepcion, Elacata, Lando, Paolini, Epalo, Intendant, Donaldson, Prince Flori, Askar Tau, Blue Canari, Quijano, Sassoaloro, Borgia, Wurftaube, Mystic Lips, Hamond, Flamingo Road, Aeskulap, Puntilla, Sabiango, Toughness Danon, Querari, El Tango, Flamingo Fantasy, Nicaron...

Viele dieser Acatenango-Nachkommen aus der ersten oder zweiten Generation sind uns noch sehr vertraut, weil sie aktuell in der Zucht wirken oder sogar selbst noch auf der Rennbahn aktiv sind. So ist es wohl kaum vermessen, wenn man spekuliert, dass über Acatenangos endgültigen Einfluss auf die deutsche und internationale Vollblutzucht wohl kaum schon das letzte Wort gesprochen werden kann.

Noch einen kleinen Jahrestag, wenn auch sicher nicht der fröhlichen Art, gilt es in diesem Zusammenhang zu erwähnen, denn es ist heute auch kaum mehr als fünf Jahre her, seit der inzwischen in den Ruhestand beförderte Acatenango am 2. April 2005 nach einem Koppelunfall, den er auf seinem Fährhofer Heimatgestüt erlitten hatte, aufgegeben werden musste. Der Hengst hatte schwere Kopfverletzungen erlitten und wurde vom Tierarzt erlöst. So endete das Leben eines in jeder Hinsicht beeindruckenden Pferdes, das selbstverständlich seinen eigenen Fanclub bei Facebook hat und wohl mit vollem Recht auf englischsprachigen Websites gerne als „German racing legend“ tituliert wird.

Die oben schon genannte Youtube-Seite versammelt außer Acatenangos legendärem Derbysieg auch noch eine Reihe anderer Filme aus der Karriere des Hengstes und der Zeit seiner Weggefährten, wobei der geneigte Betrachter unter


einen besonderen Rückblick in die Vergangenheit halten kann, denn dort wird der vierjährige, damals offenbar unschlagbare Acatenango vorgestellt, wie er ganz entspannt an der Hand eines Lads grast und sich von seinem merklich begeisterten Trainer für die Kamera charakterisieren lässt. 


Eine wirklich schöne Erinnerung an einen der ganz großen Rennbahnhelden! 

Dienstag, 5. April 2011

Vor 25 Jahren: Hosianna machte den Anfang

Zur Abwechslung gibt es heute einen erst vor wenigen Tagen geschriebenen Beitrag, der sich mit den Themen "Neubeginn und Weiterführen alter Traditionen" beschäftigt - im Hinblick auf den gerade (endlich!) überall wild ausbrechenden Frühling vielleicht ganz passend. Was ich unter anderem am Galopprennsport so mag, sind das Weiterverfolgen von Traditionslinien und die Herausbildung von "Familien" - einerseits natürlich in der Vollblutzucht, andererseits aber auch immer wieder bei den Menschen, die sich mit diesen wunderbaren Pferden beschäftigen. 


Die folgende Geschichte ist da nur ein Beispiel unter vielen anderen... 



Es war einmal vor 25 Jahren… 

„Aufgalopp“ – so titelte die Website des Trainingsquartiers von Andreas Wöhler am 1. April, und tatsächlich ging es für den Gütersloher am vergangenen Sonntag in Köln los mit der neuen Saison auf Gras, nachdem 2011 bislang nur wenige Starter aus seiner Obhut auf Sand gelaufen waren. Am ersten Aprilsonntag aber wollte man selbstverständlich bei sechs Chancen gleich richtig durchstarten – ein Vorhaben, das zunächst nicht richtig gelang, denn ein Sieg glückte trotz aller Bemühungen weder bei den hoffnungsvollen Dreijährigen, noch im ersten Grupperennen 2011 mit Russian Tango. 



Immer konnte es die Pferde anderer Trainer ein wenig besser, aber für Andreas Wöhler ist dies kein Grund, um ihn Panik auszubrechen. "Gut Ding braucht Weil" titelt seine Website nun - und damit hat er zweifellos Recht. Das wird schon noch...

Als Trainer Andreas Wöhler vor 25 Jahren um diese Zeit in die damals brandneue Saison 1986 aufbrach, geschah dies unter drastisch anderen, sehr traurigen Vorzeichen: 

Es ist ein Schicksalsschlag, den sich wohl keine Familie wünscht. Und doch wird diese Situation immer wieder von einem Moment zum nächsten harte Wirklichkeit: Plötzlich, verursacht durch ein Versagen der Gesundheit, fällt ein Elternteil aus, an dessen selbstständiger Arbeit die ganze Familie hing. Da werden Lebensentwürfe und Träume schlagartig hinfällig, und so manch ein Kind muss einspringen, wo Vater oder Mutter nicht mehr können. Gleichgültig um wie viele Nummern die Schuhe zu groß scheinen, in die der Nachwuchs auf einmal notgedrungen schlüpfen muss – irgendwie muss es eben weitergehen. 

In der geschilderten Lage befand sich vor 25 Jahren auch eine dem Galoppsport eng verbundene Familie aus Bremen, deren Name – Wöhler – damals wie heute allen Rennbahnbesuchern selbstverständlich ein Begriff ist. Andreas Wöhler, der inzwischen schon seit mehreren Jahren nicht mehr in Bremen, sondern als einer der führenden deutschen Trainer auf dem Gestüt Ravensberg bei Gütersloh ansässig ist, war dieser Sohn, der von einem Tag zum nächsten die Arbeit übernahm, die sein Vater, der Trainer Adolf Wöhler, nach einer schweren Herzerkrankung nicht mehr ausführen konnte. 

So geplant war dies wohl kaum, zumindest nicht zu dem Zeitpunkt, als das Herz Adolf Wöhlers im Herbst 1985 das erste Mal versagte. Liest man die vor wenigen Tagen auf der hervorragend gestalteten Website des Trainers veröffentlichten Erinnerungen an die Geschehnisse der Jahre 1985 und 1986





wird mit Händen greifbar, wie schwierig dieses Einspringen für den erkrankten Vater war, denn der hatte jahrelang überaus erfolgreich von der Bremer Vahr aus mit seinen Schützlingen agiert und dabei gerade auch im Hindernisbereich viele Starter und Sieger gesattelt. Mehrfach war er Trainerchampion in diesem Metier, doch seine beiden größten Erfolge waren zweifellos die zwei Derbysiege 1975 mit Königssee und 1977 mit Surumu.


Trainer Adolf Wöhler
 
Auch 1985 florierte der Bremer Stall von Adolf Wöhler auf beiden Sektoren: Zu 39 Siegen auf der Flachen waren bis Mitte November 17 Treffer über die Hindernisse gekommen. Zwar war diese Saison nicht ganz so erfolgreich verlaufen wie die beiden beeindruckenden Vorjahre, aber dennoch gab es eigentlich keinen Grund zur Unzufriedenheit. Schaut man in die Einzelstatistik für 1985, so begegnen einem dort immer wieder Namen bei den für Adolf Wöhler tätigen Reitern, die heute in ganz anderen Kontexten Bedeutung haben. Neben seinem Sohn und Nachfolger Andreas, der damals noch als Amateur vor allem in Jagdrennen im Sattel war und es 1985 immerhin auf zwölf Siege brachte, sowie Stephen Eccles finden sich hier auch solche Rennreiter wie Andreas Schütz, Stefan Wegner und nicht zuletzt ein gewisser (damals noch blutjunger) Peter Schiergen. 

Noch am 16. November 1985 war Adolf Wöhler mit dem Pferd Wunsch auf der Gelsenkirchener Galopprennbahn ein letzter Sieg in einem Jagdrennen gelungen. Auch am darauffolgenden Sonntag stellte er mit Spring Boy und Sweet Memory noch einmal zwei Starter in Neuss, doch schon eine Woche später stand nicht mehr sein Name, sondern der seines Sohnes Andreas als Trainerangabe hinter den Pferden Lourenco und Shelta, die für den Wöhler-Stall in Köln an den Start kamen. Eine Trainerlizenz hatte der Filius zu jenem Zeitpunkt noch nicht, aber irgendwer musste ja die Stallgeschäfte weiterführen. Und auch wenn Andreas und Adolf Wöhler offenbar den Traum gehabt hatten, eines Tages einmal gemeinsam Rennpferde auf einer privaten Anlage vorzubereiten, hatte wohl niemand damit rechnen können, dass der Ende 1933 geborene Vater im Alter von nur 51 Jahren so schwer erkranken und im darauffolgenden Jahr am 14. März 1986 versterben sollte. 



Adolf und Andreas Wöhler - ein sehr aussagekräftiges Foto von der Website des Ravensberger Trainers 

Parallel zu den intensiven Anforderungen eines Rennstalles absolvierte Andreas Wöhler nun früher als erwartet Lehrgänge und Prüfungen zum Erwerb einer eigenen Trainerlizenz. Dass es auch in der Notlage irgendwie weiterging, zeigen die beiden Siege, die dem Wöhler-Stall bis Ende 1985 noch gelangen. Beide Treffer mit dem Halbblüter Sämann und dem sehr erfolgreichen Wallach Park Rainbow, die jeweils von Stefan Wegner geritten wurden, erfolgten noch im Dezember 1985 über die Sprünge. Auf der Flachen ließ der erste Sieg aber zunächst, da sich das Jahr dem Ende zuneigte, noch auf sich warten. 

Erst neun Tage nach dem Tod seines Vaters, der sich eigentlich nach einer Operation schon wieder auf dem Weg der Besserung zu befinden schien, durfte Andreas Wöhler auch seinen ersten Sieger in einem Flachrennen vom Geläuf abholen. Es war der 23. März 1986, Ort des Geschehens war die Rennbahn in Hannover-Langenhagen, und im angemessen frühlingshaft betitelten Krokus-Rennen ging ein Pferd namens Hosianna an den Start, das später in der Zucht an Horeion Directa, Harar und Horatius in der ersten und zweiten Generation einige recht gute Nachkommen brachte. 

Für die blutjunge, aus der Not geborene Trainerkarriere von Andreas Wöhler war Hosianna, die gleich beim ersten Start unter seiner Ägide und beim ersten Start des Trainers überhaupt in jener Saison für den ersten Treffer sorgte, ein wichtiges Pferd, denn auch wenn sie sich vornehmlich in Ausgleichen IV und III tummelte, avancierte sie doch 1986 zur fünffachen Siegerin. Damit steuerte sie beinahe zehn Prozent der Siege bei, die das Jahr 1986 für Andreas Wöhler mit 52 Trainererfolgen zu einem wahren Traumstart im neuen Metier werden ließen. 

Zu Krokussen passen Veilchen, und beide sieht man derzeit, da der Frühling mit Macht ausgebrochen ist, allerorten. Und so war es nur passend, dass drei Rennen auf der Tageskarte später an jenem 23. März 1986 in Hannover auch der zweite Wöhler-Starter, ein Fährhofer namens Pardo, den Zielpfosten als Erster passierte. Auch für ihn blieb es mit drei Siegen in jener Saison nicht der einzige Treffer. 

Für meinen Patenonkel und mich lagen die Rennbahnen in Bremen und Hannover damals ziemlich weit „ab vom Schuss“, wie man im Ruhrgebiet so schön sagt, und daher war mir als Kind Adolf Wöhler nie besonders aufgefallen. Zwar trainierte er wie heute sein Sohn Andreas immer auch ein paar Fährhofer Pferde, aber die hatten meinen Onkel nur interessiert so lange sie bei seinem erklärten Lieblingstrainer Sven von Mitzlaff in Köln standen. Dennoch hat er mich in jenem Jahr einmal ausdrücklich auf den Neutrainer Andreas Wöhler aufmerksam gemacht und mir die – wie ich fand, sehr traurige – Hintergrundgeschichte erzählt, während wir am Mülheimer Führring standen. Dies war übrigens auch der Tag, an dem der junge Jockey Peter Schiergen in mein Bewusstsein gerückt wurde – und zwar genau im gleichen Moment, und sogar die Worte meines Onkels habe ich noch im Ohr, als er mit dem Kinn in Richtung der Trainer-Jockey-Lagebesprechung im Führring nickte und murmelte: 

„Was sind die zwei noch jung! So richtige Milchbubis! Da kannst du nur hoffen, dass das auch auf Dauer gut geht! Aber alle Achtung, das würd ich nicht machen wollen, so holterdipolter so einen schweren Job übernehmen. Nur manchmal hast du halt keine Wahl.“ 

Er hat dies übrigens sehr mitfühlend gesagt, denn hätte er selbst nicht einen älteren Bruder gehabt, wäre es ihm mit dem heimischen Handwerksbetrieb vielleicht ähnlich ergangen, als sein Vater durch einen Unfall arbeitsunfähig wurde. 
Ich aber stand da und habe die beiden jungen Männer angestarrt, die ich zuvor noch nie bewusst wahrgenommen hatte. 

„Und, was meinst du? Kleine Wette trotz Höchstgewicht?“ 

Ob wir am Ende an jenem 16. Juli 1986 auf Lourenco, der zuvor in Hamburg ein Jagdrennen an seine Fahnen geheftet hatte, gesetzt haben, weiß ich gar nicht mehr. Gewonnen hat er auf jeden Fall diesen alles andere als aufregenden Ausgleich IV und damit einen weiteren kleinen Beitrag dazu geleistet, dass Andreas Wöhlers erste Saison als Trainer ein voller Erfolg wurde. 


Dass der zweite junge Mann, der damals noch seine Rittorder umzusetzen hatte, ein gewisser Peter Schiergen, in den folgenden Jahren einen kometenhaften Aufstieg in die Spitzengruppe der in Deutschland tätigen Jockeys erleben und schließlich nach dem Ende seiner aktiven Reiterlaufbahn auch als Trainer großartige Erfolge feiern würde, konnte damals natürlich niemand ahnen – ebensowenig wie die Tatsache, dass die zwei „Milchbubis“, wie mein Onkel sie ironisch bezeichnete, 25 Jahre später zu den absoluten Top-Trainern mit den größten, qualitativ hochwertig besetzten Quartieren in Deutschland zählen würden. 

Am Sonntag liefen unter anderem ihre Schützlinge Altair Star und Russian Tango im Kölner Grupperennen gegeneinander. In dieser Begegnung hatte der Ammerländer Vierjährige aus dem Schiergen-Stall, dem man vorab weitaus geringere Chancen eingeräumt hatte, als Zweiter deutlich vor dem Viertplatzierten Russian Tango von Andreas Wöhler das bessere Ende für sich. Schon im nächsten Aufeinandertreffen von Pferde aus zwei der führenden deutschen Rennställe kann der Ausgang umgekehrt sein. Warten wir es einfach ab...



Damals vor fünfundzwanzig Jahren war für den neuen Trainer Andreas Wöhler mit den Siegen von Hosianna und Pardo ein Anfang gemacht – ein Anfang in einer schweren Zeit.