Samstag, 27. August 2011

Olejnik auf Gänseblümchen

Mitten hinein in die Umzugspause dieses Blogs verbreitete sich vor vier Tagen über alle Medien hinweg in Windeseile die sehr traurige Nachricht vom Tod eines Mannes, der in Deutschland einen weit höheren Bekanntheitsgrad erreicht hatte als so manch ein Politiker oder vermeintlicher Prominenter. Vielleicht waren ja gerade eine gewisse vornehme Zurückhaltung und sein hintersinniger, augenzwinkernder, aber niemals laut polternder oder persönlich verletzender Humor, die Gründe dafür, dass die Meldung, Vicco von Bülow (alias Loriot) sei am 22. August 2011 im Alter von 87 Jahren friedlich in seinem Haus am Starnberger See gestorben, landesweit und über alle Generationen hinweg für große Betroffenheit sorgte.

Meine wohl erste Begegnung mit Figuren aus Vicco von Bülows kreativer Welt waren Wum und Wendelin, die ich kennen lernte, während ich mit meiner Oma den Großen Preis im Fernsehen guckte. Doch schon bald liebte ich auch Loriots typische Knollennasenmännchen, Herrn Klöbener und Herrn Müller-Lüdenscheidt mit ihrer Gummiente, eine Suppennudel, die Steinlaus und viele andere mehr. Seine im wahrsten Sinne des Wortes fein beobachteten Charakterzeichnungen und seine herrlich skurrilen Sprachspiele haben schon lange Kultstatus erreicht und können von vielen Menschen auswendig mitgesprochen werden.

Und dann sind da noch die beiden Herren von der Rennbahn, ein Profi-Bescheidwisser mit gelber Weste und blauer Krawatte, und der arme Ahnungslose, der schon mit der Benutzung seines Fernglases überfordert ist, aber immerhin begeistert erkennt, dass der Rasen schön grün ist. Eins der wohl bekanntestens Zitate aus diesem beliebten Loriot-Cartoon diente ja darum auch als Ideengeber, als ich damals nach einem guten Namen für meinen Blog suchte: "Ja, wo laufen sie denn? Ja, wo laufen sie denn hin?"

Ich habe diesen Sketch immer geliebt, unter anderem auch, weil er nicht einfach irgendwelche Fantasienamen für die zwei erwähnten Jockeys verwendet, sondern Reiter benannt werden, die es tatsächlich gegeben hat. Über den einen, Otto Schmidt, der im Sattel von Elektrola unterwegs ist (eine Stute mit diesem Namen, deren Pedrigree aber nicht leicht zu ermitteln ist, hat es 1926 tatsächlich gegeben), muss wohl kaum etwas gesagt werden, war er doch der vermutlich profilierteste und beliebteste, dazu auch noch ungeheuer erfolgreiche Jockey in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Otto Schmidt - hier im Sattel von Ticino, nicht von Elektrola
"Den können Sie wetten. Den können Sie wetten. Ich habe da ganz sichere Informationen. Wenn er will, wissen Sie, wenn er will, dann macht er's. Wenn nicht, dann will er gar nicht, ne. (...) Wenn er nicht macht, dann hat er nicht gewollt, oder er konnte nicht."


Aaaaah ja. Klar.


Tatsächlich hätte Otto Schmidt Ende der zwanziger Jahre jene Elektrola reiten können. Ob sie dann allerdings gegen Gänseblümchen angetreten wären? Das ist fraglich, denn die einzigen beiden Stuten dieses Namens, die sich in der DVR-Datenbank finden lassen, wurden erst wesentlich später (1951 als Tochter des Deckhengstes Olymp und 1980 von Dschingis Khan abstammend) gefohlt.

Aber immerhin - es hat Vollblüterinnen mit diesen Namen gegeben, und auch der Jockey, der im Sketch auf Elektrola über den grünen Rasen reitet, ist heute zwar nur noch wenigen Menschen bekannt und erreichte nie die gleiche Popularität wie sein Kollege Otto Schmidt, aber auch Anton Olejnik brachte es im Rennsattel während des Ersten Weltkriegs und in der ersten Hälfte der Weimarer Republik zu einer Reihe guter Erfolge. Zu nennen wären hier unter anderem der knappe Treffer im Union-Rennen 1918 in Hoppegarten mit Orilus oder im gleichen Jahr der Sieg im Bayerischen Zuchtrennen mit Eiffilo. Mit der Stute Orla holte sich Anton Olejnik den Preis der Diana 1920 und avancierte wenig später zum festen Reiter von König Midas aus dem Besitz von L. Lewin, mit dem er einige Siege und viele Platzierungen in herausragenden Rennen erzielen konnte. Nach Sieganzahl am erfolgreichsten gestaltete sich für den Jockey das Jahr 1922, denn da wurde er zum Jockey-Champion gekürt.

Bis zu seinem größten Erfolg musste Anton Olejnik jedoch noch ein wenig warten und zunächst die Rennstiefel an den Nagel hängen, denn was ihm als Reiter verwehrt geblieben war - ein Sieg im Deutschen Derby - gelang ihm dann 1928 in seinem neuen Metier als Trainer auf Anhieb, als sich der von ihm vorbereitete Hengst Lupus unter Everett Haynes das Rennen aller Rennen sicherte. Später wurde er Trainer der Pferde des Traditions-Gestüts Ebbesloh, für das er unter anderem solche Könner wie den Winterfavoriten Elritzling, die Diana-Siegerin Adlerfee oder Effendi vorbereitete, der sowohl das Henckel- als auch das Union-Rennen 1942 gewann. 

Ebbesloher Rennfarben:
Zu Zeiten des Trainers Anton Olejnik ebenso erfolgreich wie auch aktuell wieder
Interessant ist im Hinblick auf den "Ja, wo laufen sie denn?"-Cartoon, dass Anton Olejnik als Trainer für seine Pferde fast immer auf die Dienste des berühmten Jockeys Otto Schmidt vertrauen konnte. War der 1923 geborene Loriot, mit dem der Sketch im Bewusstsein der meisten Deutschen fest verknüpft ist, also ein großer Freund des Galopprennsports, der sich auch in der Turf-Historie so hervorragend auskannte, dass er die Namen der Reiter für den Text bewusst und sachkundig auswählte? Hatte er die Herren Olejnik und Schmidt (und vielleicht auch die Stuten Elektrola und Gänseblümchen?) möglicherweise in den Jahren seiner Kindheit, die er in Berlin verbrachte, ehe er im Alter von vierzehn Jahren mit seinem Vater nach Stuttgart zog, selbst in Hoppegarten am Start erlebt?

Die verfügbaren Biographien Vicco von Bülows geben keinen Aufschluss darüber, ob er ein Rennbahnbesucher war, doch gibt es auch so eine einleuchtende Erklärung für die Wahl der Jockey- und Pferdenamen. Es war nämlich gar nicht Loriot selbst, der den Text zu diesem im Rennsport wohl bekanntesten Werk des Komödianten verfasste. Vielmehr lieferte er mit seinen charakteristischen Knollennasenmännchen "nur" die Bilder zu einer Tonaufnahme aus dem Jahre 1946, die der aus Einbeck stammende Kabarettist Wilhelm Bendow gemeinsam mit dem Schauspieler und Conferencier Franz-Otto Krüger unter dem Titel "Auf der Rennbahn" aufgenommen hatte. Schon 1926 hatte Bendow, dessen künstlerisches Wirken sich vor allem (reiner Zufall?) in den Rennbahn-Städten Hamburg und Berlin abspielte, mit einem anderen Humoristen namens Paul Morgan ein Tondokument namens "Rennbahngespräche" aufgenommen - und da wären wir wieder genau in jener Zeit, in der die Jockeys Olejnik und Schmidt hochaktuell, äußerst erfolgreich und somit wohl mit Bedacht ausgewählt wurden. 
Aktuell sogar als Briefmarke erhältlich: "Ja, wo laufen sie denn...?"
Teilweise ist Vicco von Bülow in den Presse-Nachrufen der vergangenen Tage fälschlicherweise auch mit der Textgrundlage des berühmten Sketches verknüpft worden. So intensiv ist uns heute die aus seiner Feder stammende Zeichentrickversion wohl vertraut, dass wir bei der Phrase "Ja, wo laufen sie denn..." automatisch an Loriot denken. In Vergessenheit wird er sicher lange nicht geraten. Und das ist auch gut so.


Vielen Dank, Loriot. Es war ein Vergnügen!



   

Dienstag, 16. August 2011

Vor 35 Jahren: Kandia und ihre Kindes-Kinder

Zwei Geschichten an zwei Tagen? Ja, ich weiß - das entspricht eigentlich wirklich nicht meinem sonst eher gemächlichen Schreibtempo. Nicht einmal in den Sommerferien... Und dennoch gibt es heute schon wieder etwas neues Altes zu lesen. Allerdings ist dieser Bericht, der auch zum vergangenen Rennbahnwochenende passt, an dem mit dem Rheinland-Pokal der Nachfolger des früheren Aral-Pokals ausgetragen wurde, schon fast zwei Jahre alt. Geschrieben habe ich ihn auf Anregung eines Mitglieds im Tippspielforum, weil wir immer wieder einmal über die Stute und ihre verschiedenen Nachkommen geredet hatten. 


Da ich gerade umziehe, kommen Rennsportalben, Jahresrennkalender und alte Videos nun allerdings erst einmal in Kartons, und der Blog hat vermutlich demnächst auch ein Weilchen Pause, bis wir alle miteinander im neuen Zuhause angekommen sind. Zunächst einmal geht es aber zurück in die Vergangenheit...


Es war einmal vor 35 Jahren
Wie vor einer Weile schon einmal versprochen, will ich mich hier einmal an einer kleinen Würdigung der tollen Stute Kandia und ihrer diversen Nachkommen versuchen. Über ein Pferd zu schreiben, an das man selbst keine Rennbahnerinnerungen mehr hat, weil man zu ihrer aktiven Zeit schlicht und einfach noch zu klein war, um Pferderennen bewusst mitzuerleben, ist natürlich nicht einfach. Kandia hat es aber sicher verdient, in diesem Blog einmal eine Rolle zu spielen, denn die von Ilse Bscher und der Fürstin Oettingen-Wallerstein gezogene Luciano-Tochter der Krönungsgabe war nicht nur auf der Rennbahn eine Klasse für sich, sondern hat auch in der Zucht bis in unsere Zeit hinein deutliche Spuren hinterlassen.

Mal wieder handelt es sich um ein Lieblingspferd meines Onkels, dessen Geschichten von Kandias Rennbahn-Heldentaten ich mir früher demzufolge auch reichhaltig anhören durfte. Solcherlei Prägung aus Kindertagen hinterlässt natürlich ihre Spuren, zumal ich ja wusste, dass Kandia die Mutter eines meiner eigenen frühen Lieblingsgalopper war, der auf den Namen Kamiros hörte. Wie die Engländer so schön sagen: What’s not to like?

Rein optisch allerdings muss ich da eine kleine Einschränkung machen, denn wenn es nach dem Aussehen geht, hat es mir Kandia, sofern man alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen in den Alben des Rennsports 1975 und 1976 trauen darf, nicht so recht angetan. Ein Riesenpferd mit einer kleinen unregelmäßig geformten Blesse mittig auf der Stirn, eindeutig mit einer gewaltigen Galoppade und jeder Menge Energie gesegnet, aber die Schönste war sie (ganz subjektiv geurteilt!) nicht. Es mag an den schmalen Augen liegen, die einen beim Betrachten der Bilder irgendwie zu verfolgen scheinen...

Zur Hochform lief Kandia, die im Besitz von Renate von Mitzlaff, der Frau des Trainers (auch Kandias Trainers!) Sven von Mitzlaff, stand, zwar erst drei- und besonders vierjährig auf, aber ihren ersten Lebensstart hatte sie schon früh als Zweijährige am 7. Juni 1974 - und damit nur eine knappe Woche nach meiner Geburt - in Köln gegeben. Ein ansprechender dritter Platz sprang bei diesem Versuch heraus. Zwei weitere Starts erbrachten ebenfalls Platzierungen, wobei Kandia, die in ihrer Rennlaufbahn überhaupt nur ein einziges Mal kein Geld nach Hause brachte, Ende August 1974 in Gelsenkirchen beinahe ihr erster Sieg gelungen wäre. Aber um einen kurzen Kopf hatte sie dann doch das Nachsehen. 


So legte Kandia ihre Maidenschaft erst beim zweiten Anlauf des Jahres 1975 in Dortmund ab. Im weiteren Verlauf ihrer Dreijährigensaison erwies die Stute sich als äußerst beständig und lief wieder und wieder aufs Treppchen, wobei sie insgesamt vier Rennen gewinnen konnte. Die Anforderungen waren Schritt für Schritt gesteigert worden, und im Juli 1975 avancierte Kandia zur Gruppesiegerin, als sie das Ludwig-Goebels-Erinnerungsrennen in Krefeld überlegen nach Hause brachte.

Es kann wohl nur spekuliert werden, ob sie im Anschluss daran bei besserem Rennverlauf auch den Aral-Pokal hätte gewinnen können (mein Onkel kannte bezüglich dieser Frage keine Zweifel!), aber so kam ihr offenbar ein gewisser Stallgefährte namens Athenagoras (ausgerechnet!) drastisch in die Quere, so dass hinter Lord Udo und Marduk „nur“ ein dritter Platz heraussprang. Aber aufgeschoben war in diesem Fall eindeutig nicht aufgehoben... später dazu mehr. Zum Abschluss der Saison holte sich Kandia dann noch zwei zweite Plätze auf Gruppe-Level, bei denen sie zweimal hinter der Schlenderhanerin Idrissa, der anderen Top-Stute des Jahres 1975, knapp das Nachsehen hatte.

Nahtlos knüpfte Kandia im folgenden Jahr an die als Dreijährige gezeigten Leistungen an und erzielte unter wechselnden Jockeys in einer für ihren Stall sehr schwierigen Zeit erneut eine Reihe guter Platzierungen auf höchstem Leistungsniveau, ehe es dann am 15. August 1976 zum Rennen aller Rennen kam. An jenem Tag wurde wieder der Aral-Pokal in Gelsenkirchen ausgetragen, und wieder war neben Kandia, geritten von Erwin Schindler, auch Athenagoras mit Peter Alafi im Sattel am Start. 

Der Hergang des Rennens muss nach allem, was mir berichtet wurde, spektakulär gewesen sein. Das Aufgalopp-Foto zu jenem Wettstreit ist eigentlich das einzige Bild von Kandia, auf dem sie mir wirklich optisch gefällt. „Macht Platz, heute bin ich endlich an der Reihe!“ so scheint ihr stolz überlegener Gesichtsausdruck zu verkünden. Die Wetter hatten sie zumindest zum Favoritenkreis gezählt, dabei aber dem aktuellen Derbysieger Stuyvesant und Athenagoras die etwas größeren Chancen eingeräumt. Was sich dann in Gelsenkirchen-Horst abspielte, ist Rennbahngeschichte geworden: Die Zielgerade hinunter gab es nur noch zwei Pferde mit Aussicht auf den begehrten Gruppe-I-Erfolg: Athenagoras und Kandia, die beiden Stallgefährten aus dem Quartier von Sven von Mitzlaff. Und am Ende hatte dann die Stute hauchdünn das bessere Ende für sich. Vier Kilo weniger hatte sie zu schleppen als Athenagoras, der an jenem Tag nach einigen wenig inspirierenden Rennen seinen Kampfgeist wiederentdeckt zu haben scheint, sich letztlich aber doch mit einem Hals geschlagen geben musste. 

Es muss ein ausgesprochen emotionales Rennen für alle Beteiligten gewesen sein – nicht nur für Jockey Erwin Schindler, für den dies einer seiner allergrößten Erfolge im Rennsattel wurde, sondern sicher auch für Trainer und Besitzerin.

Errang mit Kandia einen seiner größten Erfolge:
Jockey Erwin Schindler, hier nach seinem Sensations-Derbysieg 1982 mit Ako
Am Ende der Saison ging Kandia dann in die Zucht, und auch dort erwies sie sich mit ihren überragenden Erbanlagen über Generationen hinweg als ausgesprochen durchsetzungsstark. Zu ihren direkten Nachkommen zählen neben dem bereits erwähnten späteren Gruppe-I-Sieger Kamiros auch der sehr gute Karos und die Klassestute Kallista (Mutter u.a. von Krombacher). Kandias Tochter Kardia fohlte neben dem hervorragenden Rennpferd Karakal besonders den heutigen Deckhengst Kalatos. 

Kandias Enkel Kalatos als Deckhengst
beim Erkunden seines neuen Standorts im Gestüt Harzburg
Den mochte und mag ich sehr – schon seit seinen ganz frühen Rennbahntagen, so dass es wohl kaum verwunderlich ist, dass es mir neben seinem Sohn Palermo aktuell vor allem Ovambo Queen ziemlich angetan hat. Mal sehen, wie diese sich noch entwickeln wird! 

Einfach eine tolle Stute: Kandias Urenkelin Ovambo Queen
Und dann gibt es da ja auch noch eine gewisse Kazzia, die zur mehrfachen Gruppe-I-Siegerin emporstieg und damit sogar die großartigen Rennleistungen ihrer Urgroßmutter Kandia in den Schatten stellte. Man darf gespannt sein, ob sie ihr auch in der Zucht wird nacheifern können... Ihren Sohn Eastern Anthem haben wir ja in Deutschland 2009 bereits mehrfach im Galopp bewundern können, und der 2007 geborene Zeitoper war ein sehr talentierter Zweijähriger, der 2009 drei Siege einfuhr und als Höhepunkt den Prix de Conde gewann. Leider kam er 2010 gar nicht und inzwischen vierjährig nur einmal zu Jahresbeginn in Meydan an den Start, ist aber weiterhin für Godolphin im Training.

Und die Moral von der Geschichte? Nun, sollte irgendjemand irgendwann einmal die Zeitmaschine erfinden, werden die 1970er Jahre wohl mein erstes Reiseziel sein, um mir Kandia (und all die anderen tollen Pferde, die ich nur aus begeisterten und begeisternden Erzählungen kennen gelernt habe) selbst anzusehen. Träumen darf man ja sicher ein wenig...

Montag, 15. August 2011

Vor dreißig Jahren: Was aus weißen Westen werden kann...

Es ist, auch wenn das Wetter dies nicht unbedingt vermuten lässt, Mitte August, und so langsam tauchen sie wieder auf der Rennbahn auf, die mit mehr oder weniger Erfolg im diesjährigen Deutschen Derby an den Start gekommenen besten Dreijährigen. Die meisten Derbypferde scheinen das verrückteste aller Rennen zum Glück in diesem Jahr heil überstanden zu haben und werden weiter Rennen bestreiten. Einige unter ihnen, so etwa Gereon oder Sommernachtstraum, waren auch bereits wieder fleißig, sei es ohne Erfolg auf Gruppe-Ebene und erneut über eine zweifelhaft lange Steherdistanz, sei es zur Nachholung des länger schon überfälligen Maidensiegs in einer vergleichsweise harmlosen Pflichtaufgabe.

Ein Derbystarter, der nun endlich sein erstes Rennen gewann: Sommernachtstraum


Richtig viele ehemalige Derbypferde konnte man aber an diesem gerade erst beendeten langen Wochenende auf den verschiedenen Rennbahnen bewundern: 

Der Derbyzweite Earl of Tinsdal und der Dritte Saltas haben sich zum Beispiel am Sonntag im Kölner Rheinland-Pokal ebenso ein Stelldichein gegeben wie der in Hamburg doch respektabel geschlagene Silvaner. Alle drei haben sich dort bei ihrem ersten Nach-Derby-Start erstmals auch mit der älteren Konkurrenz messen müssen, und man muss unterstreichen, dass sie dabei eine äußerst gute Figur gemacht haben. Earl of Tinsdal konnte sogar ungemein beeindrucken. Solche jahrgangsübergreifenden Konkurrenzen, die nun immer häufiger stattfinden werden, sind es ja, die für die gesamte zweite Saisonhälfte weiter Spannung garantieren und jede Menge Spielraum für Spekulationen über das jeweilige Leistungsvermögen und die sich daraus ergebenden Kräfteverhältnisse bieten.

Egal unter welchen Bedingungen die ehemaligen Derbystarter sich in den Wochen nach dem größten deutschen Turfereignis wieder dem Rennbahnpublikum vorstellen – besondere Aufmerksamkeit ist ihnen so oder so gewiss, denn schließlich sind sie durch ihr Laufen in Hamburg-Horn alle schon eine besondere Attraktion bei den künftigen Renntagen. Wenn aber bereits jenen Vierbeinern, die im Derby auf den Plätzen oder gar mit dem geschlagenen Feld ankamen, solches Interesse zuteilwird, gilt dies natürlich noch viel stärker für das eine Pferd, dem es im Rennen aller Rennen durch eine ordentliche Portion Können, das nötige Glück und einen taktisch klugen Ritt gelang, vor allen Konkurrenten den Zielspiegel zu passieren.

Ein Derbysieger ist (fast) immer ein ganz besonderes Pferd. Er (manchmal, in Ausnahmefällen, auch sie) hat verwirklicht, wovon die meisten Züchter, Besitzer, Trainer und Jockeys träumen – häufig Zeit ihres Lebens nur vergeblich. In diesem einen, alles entscheidenden Steher-Rennen des Dreijährigen-Jahrgangs war dieses eine Pferd ganz vorne und hat die gesamte Konkurrenz in den Schatten gestellt. 

Zwar noch kein Derbysieger, aber dafür noch mit weißer Weste:
Waldpark vor dem Start im Iffezheimer Derby-Trial
Der Derbysieger des aktuellen Jahrgangs, Gestüt Ravensbergs Waldpark, kam am heutigen Montag wieder an den Start. Allerdings fand dieser erste Auftritt von Waldpark nach seinem Hamburger Triumph nicht vor deutschem Rennbahnpublikum statt, denn als nächstes Saisonziel für den Ravensberger Hengst hatte Trainer Andreas Wöhler den Prix Guillaume d'Ornano in Deauville auserkoren. Am Ende sprang ein alles in allem vielleicht etwas enttäuschender sechster Platz gegen ausgezeichnete europäische Konkurrenz heraus, wobei Waldpark zwar ohne Siegchance, aber für eine bessere Platzierung nicht arg weit geschlagen war. Die weiße Weste, die er bislang durch seine Karriere getragen hatte, ist nun natürlich verloren.

Auch wenn der Ort des Geschehens heute in Frankreich, statt in Deutschland lag, existiert hier doch eine interessante Parallel, denn...

Es war einmal vor dreißig Jahren


Vor dreißig Jahren blieb der amtierende Derbysieger des Jahres 1981 für seinen ersten Auftritt nach dem großen Triumph anders als 2011 im Lande. Mit Waldpark teilt er, der große Orofino, allerdings eine andere Eigenschaft, nämlich den Status des Ungeschlagenen, des Derbysiegers mit sprichwörtlich weißer Weste. Fünf Rennen hatte er seit seinem Debüt als Zweijähriger bestritten, und in allen Fällen hatte er als erstes Pferd den Zielpfosten passiert. Besonders seine immer ambitionierter werdende Dreijährigen-Route nach einem klassischen Muster jener Zeit (Hoffnungs-Preis, Henckel-Rennen, Union-Rennen, Derby), auf der er die Gegnerschaft in der Regel souverän abhängte, hatte enormen Eindruck gemacht. 


Daher stammte also seine völlige Zuversicht, dass Orofino auch in Gelsenkirchen seine weiße Weste behalten würde. Glaubte man den vollmundig vorgetragenen Argumenten während des Abendessens auf der nachgeholten Geburtstagsfeier, bei der ich stolz meine Orofino-Uhr stolz am Handgelenk spazieren trug, war der Zoppenbroicher Derbysieger vollkommen unschlagbar.



Zu einem Pferd fast vom anderen Stern („Ooooorofino Erster, der Rest nirgends“, so titelte die Bildzeitung am Tag danach) war der Zoppenbroicher Hengst jedoch besonders durch seinen Derbysieg am 1. Juli 1981 geworden, denn diesen hatte er sage und schreibe mit einer Weile Vorsprung… nun, von „errungen“ kann angesichts des nachträglich nachgemessenen Abstands zum Zweiten Winslow von beinahe dreizehn Längen eigentlich nicht die Rede sein. Das wäre eine unangemessene Wortwahl. Vielmehr war Orofino wie auf Flügeln dem Feld enteilt und hatte das Hamburger Publikum mit dieser Galavorstellung, wie man sie ausgerechnet im Derby wohl kaum je zu sehen bekommt, in seinen Bann gezogen.


Hatte es überhaupt je einen derart überlegenen Derby-Sieger zu beklatschen gegeben? Viele Rennausgänge des vergangenen Jahrzehnts, die die anwesenden treuen Derby-Besucher vielleicht noch in Erinnerung hatten, waren eher knapp ausgefallen. Es hatte zwar auch klare Siege wie 1973 bei Athenagoras, 1976 bei Stuyvesant oder vor allem 1977 mit dem überlegenen Surumu gegeben, aber die Duelle bis ins Ziel überwogen. Oft war es sogar ausgesprochen eng geworden, so besonders 1974 zwischen Marduk und Lord Udo, 1978 in der Regenmatschpartie von Zauberer und vor allem bei jenem sagenumwobenen Zweikampf der beiden Dauer-Rivalen Königsstuhl und Nebos 1979. Auch Navarino, der Derbysieger des Vorjahres, hatte sich nach einem bravourösen Kampf gegen den Außenseiter Arcosanti gerade noch mit Halsvorsprung in Ziel retten können.


Mitreißend waren diese Derbyentscheidungen für das anwesende Publikum und die Zuschauer daheim an den Fernsehgeräten zweifellos gewesen. Kein Vergleich an Nervenkitzel-Potential war dagegen der nie auch nur eine Sekunde zu bezweifelnde Triumph von Orofino. Sein Derbysieg beeindruckte nicht durch die Pulsfrequenz in die Höhe jagende Spannung, sondern gerade durch die drückend überlegene Demonstration seines Könnens. Man musste lange zurückdenken, bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs genau genommen, um mit Schwarzgolds Triumph von 1940 immerhin einen Zehn-Längen-Vorsprung zu finden, der das restliche Derbyfeld in ähnlicher Weise deklassiert hatte.


Wer sollte dieses Wunderpferd Orofino denn überhaupt zukünftig schlagen? Unter seinen Altersgenossen hatte er, das hatte das Derby zur Genüge unter Beweis gestellt, wohl keinen Gegner zu fürchten. Und die Älteren? Waren sie Orofino vielleicht eher gewachsen oder gar überlegen, weil sein eigener Jahrgang in der Spitze möglicherweise eher schwächer besetzt war?


Heute vor dreißig Jahren bot sich die erste Gelegenheit zur Klärung dieser brisanten Frage, denn wie in jedem Jahr seit seiner Gründung anno 1957 wurde auf einer Rennbahn, die es inzwischen leider schon seit Jahren nicht mehr gibt, im Aral-Pokal die Bühne für den ersten ernsthaften Jahrgangsvergleich auf höchster Ebene bereitet: Gelsenkirchen-Horst.


Ähnlich wie im aktuellen Rheinland-Pokal, dessen Vorläufer der Aral-Pokal war, fand sich mit sieben Startern nur ein überschaubares Teilnehmerfeld zusammen, obwohl es um Gruppe-I-Meriten ging. Außer den Dreijährigen Machtvogel und Ti Amo, die zwar gute Pferde waren, einem Orofino aber nicht das Wasser reichen konnten, waren unter den älteren Startern Donat und Maivogel auch eindeutige Außenseiter. Wenn überhaupt jemand den amtierenden Derbysieger gefährden konnte, so muss sich das Publikum vorab gedacht haben, dann doch wohl am ehesten sein Vorgänger in Hamburg-Horn, Navarino, oder… Ja, oder vielleicht der siebte Starter, der das Feld komplettierte, ein Hengst in Röttgener Farben namens Wauthi, der schon ein hervorragender Zweijähriger gewesen war, 1980 zwar nicht das Derby, aber immerhin das Henckel-Rennen, das St. Leger und auch den Aral-Pokal hatte gewinnen können und sich auch in der laufenden Saison schon als zweifacher Gruppesieger hatte auszeichnen können. Dieser Wauthi, der schien unter dem Röttgener Stalljockey Peter Remmert bei einer nüchternen Betrachtung der Aspiranten auf den Aral-Pokal brandgefährlich.

Mein Patenonkel war sich damals allerdings sehr sicher, dass niemand Orofino würde beeindrucken können. Er verkündete diese Überzeugung ausgesprochen selbstbewusst bei meinem nachgeholten Patengeburtstagsbesuch, der mir neben jeder Menge Schwärmerei über die Glanzleistung des Zoppenbroichers, die er in Hamburg selbst miterlebt hatte, ein ungewohnt großzügiges Geschenk einbrachte. Es handelte sich um meine erste eigene Armbanduhr mit einem Pferdekopfmotiv auf dem Ziffernblatt, einem roten Lederarmband und (ganz wichtig!) einer goldenen Umrandung. Diese geschenkte Uhr war genau genommen von Orofino („Sein Name bedeutet ja auf Deutsch eigentlich ‚feines Gold‘, wie mein Onkel stolz verkündete.) „bezahlt“ worden, denn sein Derbysieg hatte meinem Patenonkel dank einer frühzeitig noch im Vorjahr nach dem Debüt des Hengstes abgeschlossenen Festkurs-Wette einen hübschen Gewinn in die Tasche gespielt, den er auf den drückend überlegenen Zoppenbroicher so am Totalisator auf der Bahn sicher nicht mehr bekommen hätte.

Genau genommen hatte er ja nur das gemacht, was er jedes Jahr tat, nämlich auf die vielversprechenden Zweijährigen mit Derby-Pedigree aus dem Stall seines erklärten Lieblingstrainers Sven von Mitzlaff Festkurse zu wetten. Wenn sie dann auch noch die hellblau-weißen Farben seines Lieblingsgestüts trugen und obendrein sogar von seinem damaligen Lieblingsjockey Peter Alafi geritten wurden… nun, dann machte ihn ein Treffer restlos glücklich und unterstrich seine innere Überzeugung, dass er ein genialer Zocker sei. Und genau deshalb war er auch völlig davon überzeugt, dass es mit Orofinos genialer Siegesserie einfach so weitergehen würde.

Allerdings – manchmal kommt es anders als man denkt. Und das war gleich bei Orofinos nächstem Start nach dem Derby der Fall, denn hier traf er erstmals seinen Meister und wurde „nur“ Zweiter. Allerdings war er ein mit respektablem Abstand geschlagener Zweiter, so dass die Niederlage gegen Wauthi – denn das Röttgener Spitzenpferd war seiner Rolle als größte Gefahr für Orofino glänzend gerecht geworden, so dass Jockey Peter Remmert sein Pferd am Ende gar nicht mehr groß bemühen musste. Zu souverän fiel der Erfolg von Wauthi in Gelsenkirchen aus – und zu deutlich dadurch eben auch die Niederlage für den Derbysieger. Er sei entzaubert und in seine Grenzen verwiesen worden, hieß es. Und vielleicht sei er ja doch nicht so gut wie der triumphale Derbysieg dies hatte vermuten lassen…

Ich war in Gelsenkirchen damals nicht dabei. War mein Onkel, der natürlich nach Horst gefahren war, enttäuscht? Ja, ganz sicher, aber ich erinnere mich, dass er bei unserer nächsten Begegnung auf der Mülheimer Rennbahn weiterhin ganz fest an ein Comeback seines Orofino in Siegform glaubte. Dass manche Rennbahnbesucher den Hengst nach einem zweiten Platz in einem der ganz großen Rennen des deutschen Turf-Kalenders schon überragendes Leistungsvermögen absprechen wollten, ärgerte ihn sichtlich. Und ich, die ich ja immerhin jeden Tag meine Orofino-Uhr trug, erklärte mich da spontan solidarisch, als wir beschlossen, dass wir uns den Zoppenbroicher bei einem seiner nächsten Auftritte in der Umgebung gemeinsam live anschauen wollten.

Ein Weilchen musste ich warten, ehe dieser Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde – bis zum folgenden Jahr, genau genommen, als Orofino vierjährig war. Ein weiteres Rennen auf höchstem Parkett, den Großen Preis von Baden, hatte er nicht als Sieger, sondern nur als Vierter beendet. Im folgenden Jahr aber bestätigte er, dass mein Patenonkel mit seinem weitsichtigen Vertrauen vollkommen Recht und die leisen Zweifler vollkommen Unrecht gehabt hatten, denn das Jahr 1982 war das große Jahr des Orofino.

Das neue Rennjahr begann gleich optimal mit einem klaren Sieg im Gerling-Preis, ausgerechnet gegen das Pferd, das ihm die erste Niederlage beigebracht hatte: Wauthi. Es folgten weitere große Treffer in Düsseldorf, Hamburg, erneut in Düsseldorf, dann schließlich im begehrten Aral-Pokal, den er im Vorjahr noch nicht hatte gewinnen können. Beinahe immer notierte der Zielrichter „überlegen“ im Richterspruch. Und genau so habe ich Orofinos Siege in Erinnerung: Demonstrationen eines überlegenen Rennpferdes. Ich bekam ihn in jener Saison mehrfach zu Gesicht, wobei allerdings meine Erinnerungen an die einzelnen Rennen, die wir besucht haben, ein wenig verschwommen sind und sich miteinander vermischen. Schön, nein, schön fand ich Orofino nie. Aber er hat mich beeindruckt, immer und immer wieder, denn er hatte jede Menge Charakter, auch wenn ich das damals mit meinen acht Jahren kaum hätte erklären können.


Bald schon war der Hengst ein Publikumsmagnet und lebende Legende gleichzeitig, zog die Turffreunde in Scharen zu seinen Auftritten auf die Bahn, wurde sogar in seinem Trainingsquartier bei Sven von Mitzlaff auf der Rennbahn in Köln-Weidenpesch von einem Fernsehteam für eine Dokumentation unter dem Titel „Orofino, das Millionenpferd“ übers Jahr begleitet und gab nebenbei einem Restaurant im Heimatort seiner Zuchtstätte den Namen. Was es nicht alles gibt… Man beachte die Namen der Pizzen auf der Speisekarte. ;-)


Fünfjährig konnte Orofino auch auf europäischem Parkett überzeugen und war zweimal ausgezeichnet platziert, während er in Deutschland praktisch alles gewann, was es zu gewinnen gab – darunter auch dreimal den Titel „Galopper des Jahres“. Der ehrgeizige Plan, mit ihm in den Arc de Triomphe zu gehen (und dort hoffentlich auf zu gewinnen!) führte zwar nicht zum Erfolg, aber das tat der herausragenden Rennleistung von Orofino letztlich keinen Abbruch. Für mich war er der erste vierbeinige Star, dessen Karriere ich ganz aktiv und bewusst mitbekam.

Und Wauthi, das Pferd, das ihn zuerst geschlagen hatte, nur um bei ihrer nächsten Begegnung eine deutliche Revanche erleben zu müssen?


Auch er war ja alles andere als ein schlechtes Pferd. Im Gegenteil! Doch als Orofinos große Karriere vierjährig erst richtig begann, neigte sich jene von Wauthi bereits dem Ende zu. Etwas früher als der um ein Jahr jüngere Zoppenbroicher bezog Wauthi also einen Posten als Deckhengst. Beiden hätte man in der Zucht vielleicht mehr Fortune und dem bereits 1989 eingegangenen Orofino auch ein längeres Leben gewünscht. Die Nachkommen der beiden Hengste, die ich aus meiner Grundschulzeit noch gut in Erinnerung hatte, habe ich dann als Teenager immer aufmerksam betrachtet, und auch wenn bis auf den Orofino-Sohn Vincenzo und den Wauthi-Enkel Sternkönig die ganz großen Helden ausblieben, habe ich sie gerne laufen sehen, gleich ob es sich nun um Renomee, Ice and Fire, San Remo, Couronne oder Akelei hießen.

Und die Moral von der Geschichte? Auch überlegene Derbysieger mit einer bislang weißen Weste tun sich manchmal mit dem folgenden Rennen etwas schwer, aber oft bedarf es nur einer gewissen Geduld, ehe das Zutrauen in und die Hoffnung auf das Galoppiervermögen der vierbeinigen Helden von Horn im späteren Verlauf ihrer Karriere wieder belohnt werden.

Hoffentlich wird das für Waldpark auch gelten! Meine Daumen sind jedenfalls gedrückt.