Mittwoch, 29. Juni 2011

Vor fünfzehn Jahren: Klarer Favorit

Es ist wieder einmal soweit – die Zeit des Spekulierens und Diskutierens hat nun, nachdem das Union-Rennen und auch das früher als Consul Bayeff-Rennen bekannte Bremer Derby-Trial gelaufen wurden, ernsthaft begonnen. Jene Pferde, die, aus welchen Gründen auch immer, nicht im Derby antreten sollen, sind inzwischen endgültig gestrichen worden, und inzwischen scheinen nach einigen Turbulenzen und Verschiebungen in letzter Sekunde auch die Rittverpflichtungen klar zu sein. Kurzum: Die Derbywoche in Hamburg steuert mit jedem Tag mehr auf ihren jährlichen Höhepunkt zu. Wären wir beim Fußball, hätte man sicher am vergangenen Samstag, als sich in Horn erstmals für 2011 die Boxen öffneten, irgendwo diesen Gesang hören können…

„Jetzt geht’s lo-hos! Jetzt geht’s lo-hos…“

Ich mag sie ja sehr, all diese herrlich subjektiven und teils leidenschaftlich geführten Gespräche über die ganz persönlichen Derby-Favoriten, verbunden mit jeder Menge individueller Interpretationen der verschiedenen Vorbereitungsrennen, die uns durch das Frühjahr in den Sommer hinein begleitet haben. Rennverläufe werden verglichen, Taktiken diskutiert, es wird über Stamina und Speedvermögen gerätselt, Jockey- und Traineraussagen werden analysiert – und am Ende… tja, am Ende bin zumindest ich in diesem Jahr überhaupt nicht schlauer als vorher.

Ich kann mich nämlich nach wie vor nicht entscheiden, wer denn nun mein Derbyfavorit 2011 werden soll. Viel zu offen ist für mich diesmal die Lage, viel zu groß noch das Feld der möglichen chancenreichen Kandidaten. Natürlich habe ich Pferde, die einen guten Eindruck auf mich gemacht haben, und Trainer/Jockeys/Besitzer, denen ich einen Derbysieg ganz besonders gönnen würde. In mehr oder weniger bunter Reihenfolge, eben weil ich mich (noch) nicht entscheiden kann:

  • Gereon… ja, schön wäre es, wenn dieses kleine Underdog-Märchen für alle Beteiligten Wirklichkeit werden könnte…
  • Saltas, den ich nett finde und der mir – einfach schon aus freundschaftlicher Sympathie genehm wäre…
  • Waldpark, der wegen seiner familiären Herkunft das Galoppsportgeschichteherz in mir heftig zum Klingen bringt und mir in Iffezheim wirklich gefallen hat…
  • Sommernachtstraum, der nicht nur einen wunderschönen Namen für mich Shakespeare-Liebhaberin hat, sondern bislang auch gleich mehrfach kaum mit dem Glück im Bunde war – und mir in Baden-Baden ebenfalls sehr sympathisch…
  • Brown Panther, der mir ganz aktuell beim Ascot-Livestream-Schauen ungemein imponiert hat…

Ja, das wären meine gegenwärtigen Top Five, und ich mache auch keinen Hehl daraus, dass ich nicht unbedingt eine Fortsetzung der Schlenderhan-Dominanz bräuchte, die bislang diese Rennbahnsaison zu prägen scheint. Wenn ich mir denn nun  partout einen der Schwarz-Blau-Roten aussuchen müsste, fiele die Wahl wohl auf Arrigo, aber insgesamt inspiriert mich keines der vielen Schlenderhan-Pferde wirklich. Und überhaupt: Ich bin für Abwechslung! Aber richtig entscheiden kann ich mich einfach nicht, und werde daher Hamburg-Horn wohl auf mich zukommen lassen, um mich spontan am Führring zu entscheiden.

Es ist diesmal auch deswegen besonders schwer mit der Auswahl eines Favoriten, weil man einen Jahrgangsprimus, der klar und deutlich über der Konkurrenz steht, in diesem Frühjahr vergeblich suchte. Das war vor fünfzehn Jahren jedoch deutlich anders…


Es war einmal vor fünfzehn Jahren

Damals nämlich, anno 1996, schien es weit und breit nur einen Hengst zu geben, der für den Derbysieg in Frage kam. Es war ein ziemlich blaublütig gezogener Fährhofer namens Lavirco, dem diese Ehre praktisch von jedem Rennbahngänger zuerkannt wurde, und der Dreijährige hatte sie sich auch wirklich mehr als redlich verdient. Recht eng war über die Mutterlinie seine Verwandtschaft mit dem damals schon großen Lomitas, und auch wenn seine Mutter La Virginia ein ordentliches, obwohl nicht überragendes, Rennpferd gewesen war, mussten ihrem Mitte März 1993 geborenen Königsstuhl-Erstling Lavirco gewisse Hoffnungen gelten. Immerhin wurde dieses Zuchtrezept in den beiden Folgejahren, noch ehe man wissen konnte, was für ein großer Treffer hier geglückt war, in identischer Weise wiederholt, wobei mit einem Hengst namens Laveron auch noch einmal ein weiteres überragendes Rennpferd das Licht der Welt erblicken sollte.

Lavirco jedenfalls wurde allen Hoffnungen mehr als gerecht, denn er zauberte eine zwar leider verletzungsbedingt nur recht kurze, aber umso beeindruckendere Karriere auf den grünen Rasen, die ihn vor fünfzehn Jahren – vollkommen zu Recht, wie sich dann am 7. Juli 1996 in Hamburg-Horn herausstellte – zum einzigen ernsthaft diskutierten Derbyfavoriten stempelte. Zu überlegen stand der Fährhofer Hengst, der bis zum Rennen aller Rennen für die Dreijährigen überhaupt nur einmal, nämlich im Dr. Busch-Memorial zum Saisonstart, bezwungen worden war, über der gleichaltrigen Konkurrenz als dass man wirklich ernsthaft noch andere Namen hätte diskutieren können. Allenfalls der viel zitierte „Turfteufel“, ein ausgesprochen schlechter Rennverlauf oder sonstige dramatische Missgeschicke, die ihm aber niemand wünschte, schienen Lavircos Derbysieg vorab überhaupt nur ganz theoretisch in Frage stellen zu können.

Dazu kam es nicht. Das Glück blieb dem bildhübschen, fast schwarzen Hengst mit der kleinen weißen Blesse auf der Stirn zumindest bis zu seinem größten Tag hold, und folgerichtig gewann Lavirco die 127. Austragung des Deutschen Derbys genauso überlegen und spielerisch leicht wie das praktisch alle Rennsportfreunde von ihm erwartet hatten. Blickt man auf die Siegquote von immerhin noch 29:10, so muss man sich angesichts seiner Vorleistungen schon ein wenig wundern, dass es sich für viele Menschen noch rentierte, dem Favoriten in den schwarz-gelben Traditionsfarben Geld mit auf die Reise über das Horner Moor gegeben zu haben. Er hätte durchaus auch noch deutlich kürzer am Toto stehen können. 

Am Ende aber zählte nur eins: Lavirco erfüllte locker die Hoffnungen  seiner Anhänger, als er mit Richterspruch „überlegen“ vier Längen vor dem Zweitplatzierten Surako ins Ziel flog. Jener Surako aus der Fährhof-Filiale von Heinz Jentzsch war es übrigens gewesen, der dem bei Peter Rau trainierten Lavirco Anfang des Jahres seine oben schon erwähnte, bis dato einzige Niederlage überhaupt beigebracht hatte, doch da sie Zuchtgefährten waren, unterstreicht dies nur, wie klar die Fährhofer mit Lavirco an der Spitze 1996 das Geschehen bei den dreijährigen Hengsten dominierten. Es war ein gutes Jahr für das Sottrumer Gestüt, und nebenbei der letzte richtig große Erfolg, den der hochbetagte Gestütsgründer Walther J. Jacobs live in Hamburg miterleben konnte. Er muss ihn sehr genossen haben.

Von alledem hatte ich aber noch keine Ahnung, als ich am 16. September 1995 auf dem Weg zur Rennbahn in Mülheim war. Dass ich in Kürze den künftigen Derbysieger sehen würde, war mir wirklich nicht bewusst. Und was heißt auch schon „sehen“? So besonders viel habe ich nämlich damals überhaupt nicht von Lavirco sehen können, denn ich kam zu spät.

Nun ja… fast zu spät. Immerhin habe ich beim Betreten der Rennbahn am Raffelberg noch mitbekommen, wie das Zweijährigen-Feld, zu dem auch der Fährhofer gehörte, mit enormem Tempo an mir vorbeihuschte. Zu mehr hat es leider nicht gereicht, denn ich war am Morgen, vor Beginn des Renntags ganz brav bei einem Arbeitsgruppentreffen für ein Uni-Projekt gewesen, das in Duisburg stattfand. Und eigentlich hatten wir so früh Schluss gemacht, dass ich meine schwere Büchertasche noch nach Hause hätte bringen können, ehe es auf die Rennbahn ging, wenn… tja, wenn die Straßenbahn mal gekommen wäre.

Sie kam aber nicht. Grrrr…

So stand ich innerlich knurrend und frustriert an einer Haltestelle in Duisburg, genau so weit von der Rennbahn entfernt, dass Laufen keinen Sinn mehr machte, wollte ich es rechtzeitig zum Start des ersten Rennens schaffen. Nun gut, das erste Rennen konnte ich verschmerzen, das zweite hätte ich schon gerne miterlebt, aber das dritte, die Konkurrenz der Zweijährigen, wollte ich wirklich unbedingt sehen. Nicht wegen Lavirco, denn der war eben damals für mich einfach nur ein Fährhofer Debütant, sondern wegen eines Ravensbergers namens Taifun. Die Ravensberger waren mir, da ich mich damals ja schon brennend für Rennsportgeschichte interessierte, ausgesprochen sympathisch, Taifun klang nebenbei so recht wie man sich einen Rennpferdnamen vorstellte, und der Windwurf-Sohn hatte beim Erstauftritt einen guten zweiten Platz hinter Hemingway erreicht. Das wirkte doch ganz vielversprechend, und genau darum zog es mich auch so dringend zurück nach Speldorf auf die Rennbahn.
Kam nicht... und kam nicht... und dann doch irgendwann noch!
Wenn nur die blöde Straßenbahn endlich gekommen wäre… oder ich am Morgen das Fahrrad genommen hätte, um nach Duisburg-Duissern zu kommen. Hatte ich aber nicht. Und so war ich zum sinnfreien Warten verurteilt. Grrrr…

Als mir klar wurde, dass ich das erste Rennen der Tageskarte abschreiben konnte, begann ich mich langsam mit dem Gedanken an einen Gewaltmarsch durch den Duisburg-Mülheimer Wald auseinanderzusetzen, um zumindest das Hauptereignis an jenem Tag, das Berberis-Rennen für die zweijährigen Stuten, nicht auch noch zu verpassen. Aber die kiloschwere Büchertasche drückte wirklich sehr, also konnte ich mich nicht recht aufraffen, sondern brodelte nur leise frustriert vor mich hin. Grrrr…

Und dann, etwa in dem Moment, als nach dem Zurückführen der Pferde aus dem zweiten Rennen ihre zweijährigen Artgenossen, unter ihnen Taifun und eben auch ein gewisser Lavirco den Führring in der Nachbarstadt betreten haben dürften, erschien endlich zu meiner großen Freude am Horizont die Silhouette einer Straßenbahn der Linie 901. Sollte es doch noch zu schaffen sein?

Nun ja, man soll sich nie zu früh freuen, denn kaum hatte ich die Büchertasche und mich in die Bahn befördert, als wir nach nur einer Haltestelle am Zoo wieder aus- und in eine Ersatzbahn umsteigen mussten. Die fuhr dann allerdings erst einmal nicht, sondern stand gemütlich an der Haltestelle Zoo/Uni. Grrrr…

Irgendwann, als ich gedanklich auch das dritte Rennen aufgegeben hatte, zockelte sie – was für eine Sensation! – dann doch noch los, nahm rasch Fahrt auf, sauste durch den Wald über die Stadtgrenze nach Mülheim, passierte die Monning, schaffte es sogar bis zum Raffelberg und brachte mich schließlich wirklich zur Haltestelle Rennbahn.

Geschafft – fast!

Die Startzeit für das dritte Rennen nahte unbarmherzig, und ich Gemütlichläuferin bin wohl selten so flott den kleinen Berg hinunter in Richtung Haupteingang geeilt. Die Bücher mussten wohl oder übel mit auf die Rennbahn kommen. Noch auf halber Strecke hörte ich über die Lautsprecher, dass das Rennen kurz vor dem Start stand, also legte ich noch einmal einen Zahn zu und passierte das Eingangstor bei zum Glück damals noch freiem Eintritt für die Damen ziemlich genau in dem Moment, als auch die Zweijährigen in die Zielgerade einbogen und der Tribüne zustrebten.

Es war ein – unbeabsichtigt! – beeindruckendes Erlebnis, dieses Rennen aus ganz anderer Perspektive als sonst vorne am Ziel oder oben auf der Tribüne mitzuerleben. Ich sah das Feld nur kurz als ein Durcheinander leuchtender Rennfarben und um eine möglichst gute Positionierung ringender Pferde, sprintete über die kleine Wiese vor zu den Rails, und dann flitzten sie auch schon unter lautem Hufschlag an mir vorbei. Das Gras flog, die Luft vibrierte für einen Moment, und schon sah ich das Rudel Vierbeiner nur noch von hinten.

Meine eigene Atemnot nach dem flotten Marsch den Berg hinab mag dazu beigetragen haben, aber meine Herz schlug plötzlich im Takt. Fasziniert starrte ich den wunderschönen Pferden nach. Und so bekam ich perfekt mit, wie sich ein Starter unwiderstehlich vom Feld löste, die Konkurrenz scheinbar spielerisch stehen ließ und am Ende mit einem satten Vorsprung von drei Längen durchs Ziel flog. Leider war es nicht Taifun, denn für den langte es bei seinem zweiten Versuch, dem noch viele weitere Starts und auch insgesamt neun Siege folgen sollten, nur zu einem dritten Platz. Die Rivalen liefen eben in diesem speziellen Rennen einfach zu gut, und es war – natürlich – Lavirco, der gleich sein Lebensdebüt in einen, wie der Zielrichter feststellte, hochüberlegenen Sieg ummünzte.

Angetan von der Vorstellung des in Bruchteilen von Sekunden für sehr schön empfundenen Pferdes lief ich rasch über die Wiese an den beiden Tribünen vorbei in Richtung Absattelring, um mir den Fährhofer genauer anzusehen, denn er schien intuitiv einfach ein verdienter Hoffnungsträger zu sein. Auch aus der Perspektive vom Rand des Absattelrings bestätigte sich der Eindruck für mich, und die hochzufriedene Reaktion von Jockey Torsten Mundry und Trainer Peter Rau auf den Sieg ihres Schützlings war ebenfalls bezeichnend. Zugegeben, ich habe auch Taifun ausgiebig bewundert, bis die Glocke zum Waageschluss zu hören war, aber Lavirco ist mir sehr lebhaft im Gedächtnis geblieben.

Wie gemalt: Lavirco porträtiert von Manfred Hentschel
So hat es mich auch gefreut, rund einen Monat später zu lesen, dass er im Preis des Winterfavoriten antreten würden – einfach, weil ich mit ihm einen konkreten Eindruck verbinden konnte… einen sehr positiven noch obendrein. Von den anderen Kandidaten in der Prüfung, die damals anders als heute noch keine Gruppe-Ehren bot, sondern als eher zahmes „Nationales Listenrennen“ gelaufen wurde, hatte ich schon den „bei uns“ in Mülheim trainierten Barlovento und den anderen Fährhofer Surako am Start und auch bei einem Sieg miterlebt. Auch Decamerone, dessen Name mich doch sehr an den Inhalt eines damals gerade aktuellen Uni-Seminars erinnerte, war schon Sieger aus Mülheim. Insgesamt aber räumte mein Vorstellungsvermögen damals Lavirco nach seinem imponierenden Mülheimer Treffer die größten Chancen ein, auch wenn sein Engagement im Preis des Winterfavoriten erst sein zweites Rennen überhaupt war und ihm somit praktisch alle Konkurrenten einige Erfahrung voraus hatten. Dieser Mangel an Vorbereitungsrennen störte Lavirco aber ganz und gar nicht, denn wieder gelang ihm auf der Bahn in Köln Weidenpesch ein souveräner Erfolg vor – genau! – Barlovento und Surako, die auch insgesamt gesehen hinter dem Sieger die auf Dauer erfolgreichsten Pferde in diesem Zweijährigenfeld werden sollten.

Nun stand die Winterpause an, und während ich 1996 mit wachsender Begeisterung im Saisonverlauf die Entwicklung „meiner“ Wurftaube (wohl bis heute mein absolutes Lieblingsrennpferd!) verfolgte, war auf der Seite der Hengste Lavirco auch als Dreijähriger der ganz große Star. Nur zu Saisonbeginn konnte ihn – wie bereits erwähnt – Surako einmal schlagen, doch danach schien es kein Halten für Lavirco mehr zu geben. Er absolvierte eine klassische Vorbereitungsroute in Richtung Derby, die mehr und mehr sein Stehvermögen austesten sollte, und er bestand diese mit einem leichten Sieg im Mehl-Mülhens-Rennen sowie dem folgenden sogar wieder überlegenen Treffer in der Union souverän.
Danach konnte es einfach ernsthaft keine Zweifel mehr geben: Lavirco war genau das, was wir in dieser Saison nicht haben: Er war der uneingeschränkte und scheinbar nicht schlagbare Jahrgangsprimus und damit auch der rechtmäßige Derbyfavorit.

Lavirco mit seinem ständigen Reiter Torsten Mundry
Nun ist es ja so, dass gerade am Derbysonntag manchmal die größten Favoriten rüde entzaubert werden. In Lavircos Fall geschah jedoch genau dies nicht, denn auch in Hamburg-Horn konnte ihm keiner seiner immerhin siebzehn Konkurrenten das Wasser reichen. Auch Surako, der ihn ja einmal geschlagen hatte, blieb mit vier Längen Abstand deutlich hinter dem überlegenen Triumphator  zurück, der sich nicht davon irritieren ließ, dass Konkurrent Arctic Boy nicht in die Startbox zu bewegen war. Nach dem Start ergab sich auf dem schon optisch sehr weichen Horner Geläuf ein nicht ganz alltägliches Bild, als sich das Feld an den Tribünen vorbei fast in zwei Hälften teilte. Zunächst waren die Pferde von Heinz Jentzsch vorne, dann aber rückten außen die beiden Fährhofer Farben – Lavirco mitgezogen durch den flott antretenden Surako – auf.

Lavircos Derby-Video


Gegenüber hielt Torsten Mundry seinen Hengst im vorderen Mittelfeld, „in Lauerposition“, wie Manfred Chapman es mit einem klaren Blick erkannte, und bereits beim Einbiegen in den Horner Bogen war klar, dass der Fährhofer gemeinsam mit seinem Zuchtgefährten Surako zu einer kleiner werdenden Gruppe von Pferden zählte, die auch fürs Auge weiter richtig gut gingen. Die bislang Führenden, darunter Agnelli und auch der für einen Moment noch chancenreich aussehende Schimmel Silver Sign waren jedoch rasch keine ersthaften Rivalen mehr, als eingangs der Zielgeraden die beiden Fährhofer – um den dort vermutlich besseren Boden auszunutzen – weit nach außen strebten. Währenddessen wurde der Ittlinger Agnelli, der lange vorne gelegen hatte, rapide nach hinten durchgereicht, als ihm die Kraft ausging. Er hatte mit der Entscheidung nichts mehr zu tun, ebensowenig wie Silver Sign.

Die Musik spielte an anderer Stelle – nämlich außen bzw. in der äußeren Bahnmitte: Fast schien es für einen Moment als dränge Surako dabei Lavirco zu weit ab und nehme ihm die freie Entfaltungsmöglichkeit, aber schon wenige Galoppsprünge später waren die Verhältnisse klargestellt, und Lavirco konnte auf den letzten dreihundert Metern einem triumphalen Sieg entgegeneilen, während für den ebenfalls gut laufenden Surako nur der zweite Rang blieb.

Vier Längen waren es im Ziel – das war schon ein deutliches Wort, das zeigte, dass Lavircos Favoritenposition mit 29:10 in einem Feld von weit überwiegend dreistellig am Toto stehenden Konkurrenten absolut gerechtfertigt gewesen war… trotz aller (wie auch immer begründeter) Zweifel. Und so formulierte es auch Manfred Chapman aus der Moderatorenkabine:

„Lavirco ist der Derbysieger! Und wie der gewinnt! Alle haben es nicht geglaubt, dass der doch so gut ist. Er ist der Beste! Lavirco hat gewonnen!“

Begeistert riss Jockey Torsten Mundry unmittelbar vor dem Ziel, Augenblicke vor dem größten Triumph seiner reiterlichen Laufbahn, die linke Faust hoch, und dann war er auch schon unangefochten als Erster mit Lavirco am Spiegel vorbei. Der logische Favorit hatte gewonnen und wurde zusammen mit seinem Jockey, Trainer Peter Rau und natürlich seinen Züchtern und Besitzern vom Gestüt Fährhof in Hamburg gebührend gefeiert.

Torsten Mundry erinnert sich an Lavirco


Tja… und dann?

Dann hätte es ja eigentlich mit diesem innerhalb seines eigenen Jahrgangs so völlig überlegenen Pferd ebenso spielerisch triumphal weitergehen müssen. Wer sollte denn Lavirco in den im weiteren Saisonverlauf noch anstehenden Rennen überhaupt schlagen?

Große Erwartungen an das "Pferd mit dem fünften Gang" - und ein kleines bisschen "Was-wäre-wenn...?"


Nun, einer fand sich beim nächsten Auftritt in Hoppegarten tatsächlich noch, bei dem Lavirco zwar als erdrutschartiger 11:10-Favorit die Machtverhältnisse zu fast allen Rivalen aus dem Derby, so etwa Flamingo Garden, Ocean Sea oder Agnelli, klar bestätigte, aber dennoch ausgerechnet in einem Pferd seinen vorübergehenden Meister fand, das noch im letzten Rennen in Hamburg satte fünfzehn Längen hinter ihm völlig geschlagen als Elfter über die Ziellinie gekommen war: Bad Bertrich Again, der vierbeinige Werbestar eines gesamten Kurorts, dessen bis dato bester und einziger Treffer ein Nationales Listenrennen als Zweijähriger in Gelsenkirchen gewesen war.

Naja… manchmal geschehen eben gerade im Rennsport doch größere Wunder. Für den vermeintlich unbezwingbaren Lavirco und sein Team war es ein rüdes Erwachen aus dem Traum von vielen weiteren Siegen, aber anders als manche Derbysieger, die später nie wieder recht an ihren allergrößten Erfolg anknüpfen konnten, gelang dies Lavirco nach einer kleinen Pause doch. Noch einmal sah man ihn 1996 am Start, und in diesem im Vergleich zum Hoppegartener Rennen hochkarätig besetzten Preis von Europa bestätigte Lavirco mit einem 3,5-Längen-Erfolg gegen Pferde wie u.a. die Klassestute Hollywood Dream, Dauerläufer Protektor und den englischen Spitzenhengst Luso seinen Gruppe-I-Treffer aus Hamburg.

Die Ehre war gerettet, der Nimbus des Überpferdes wieder hergestellt, und für die kommende Saison setzten alle Rennsportfreunde die größten Hoffnungen auf die vielen schönen Treffer von Lavirco, die 1997 zu erwarten waren. Insbesondere wurde schon vorab von einem baldigen Duell mit der so famos gesteigerten Ravensberger Stute Wurftaube geschwärmt. Das wollte man sehen... Doch dazu kam es nie - leider!

Schon im späten Herbst 1996 hatte nämlich das Unglück zugeschlagen, das später dafür sorgte, dass Lavircos leichter Sieg im Preis von Europa auch bereits sein letzter Start auf der Rennbahn gewesen war. Im Training kam es zu einer Verletzung am rechten hinteren Fesselgelenk, die zunächst gar nicht so extrem dramatisch aussah. Zunächst wurde jedenfalls alles Erdenkliche für eine erfolgreiche Rekonvaleszenz des Spitzenpferdes getan, und es schien auch gut auszusehen, bis dann zu Jahresbeginn 1997 erneut eine Lahmheit am betroffenen Bein auftrat.

Dieser traurige Befund bedeutete das Ende für Lavircos Rennlaufbahn, auch weil man auf dem Gestüt Fährhof befürchtete, dass der Ruf des Hengstes Schaden nehmen könne, wenn es ihm durch die Verletzung bedingt nicht mehr gelingen würde, an seine alten Spitzenleistungen anzuschließen. Also sollte er lieber präventiv gleich als Deckhengst aufgestellt werden. Edel genug gezogen war der dunkle Hengst ja nach dem bewährten Erfolgsrezept als Königsstuhl-Sohn aus einer Surumu-Tochter – allerdings begann hier auch gleich ein gewisses Problem, das es Lavirco schwer machen sollte, sich in Deutschland, und ganz besonders in seinem Heimatgestüt, dauerhaft als Beschäler durchzusetzen, denn sein Pedigree war einfach zu klassisch und deckte sich damit zu stark mit jenem vieler Fährhofer Stuten, die ähnlich gezogen waren.

Das limitierte natürlich per se die Zahl der Stuten, die ihm die Fährhofer zur Unterstützung zuführen konnten. Dennoch – man wollte es versuchen. Und obwohl Lavircos erster, 1998 geborener Jahrgang ziemlich klein und wenig spektakulär ausfiel, waren es doch ausgerechnet die beiden Fährhofer Produkte Sabana und Somotillo, die als (immerhin!) Black-Type-Pferde auf Anhieb gewisse Lorbeeren für ihren Vater ernten konnten. Somotillo offenbarte dann auch in fortgeschrittenem Alter noch Talent über die Sprünge, wo er in Italien immerhin ein Gruppe-III-Rennen gewann, das für die spätere Laufbahn seines Erzeugers wegweisend wurde. Erwähnt werden sollte außerdem unter Lavircos deutschen Nachkommen auf jeden Fall der 2000 geborene Soterio, der als mehrfacher Listensieger auf Steher- und Extremsteherdistanzen für positive Nachrichten sorgen konnte, ehe er später vornehmlich in Frankreich mit sehr wechselndem Erfolg in einer Serie von Verkaufsrennen an den Start kam.

Lavircos Jahrgänge bis zu Beginn des neuen Jahrtausends sahen zahlenmäßig gar nicht einmal so schlecht aus, aber es verging eine Weile, ehe 2001, in dem Jahr, in dem seine ersten Nachkommen Dreijährige waren, sein wohl bester Sohn Fight Club das Licht der Welt erblickte. Der später wie so viele deutsche Spitzenpferde jener Zeit an Gary A. Tanaka verkaufte Fight Club verfügte zwar nicht über die ganz große Klasse seines Vaters, tummelte sich aber mit schöner Regelmäßigkeit und durchaus einigen Platzierungen auf Listen- und Gruppeebene. Große Schlagzeilen machte Fight Club, als er im September 2005 in Baden-Baden ausgerechnet Königstiger (ein entzauberter Derbyfavorit wie er im Buche steht!) bezwingen konnte – sein wohl größtes Rennen. Der ganz gehobene und vor allem beständige Erfolg blieb ihm allerdings letztlich doch versagt.

Sein Vater Lavirco weilte damals auch bereits seit einer Weile nicht mehr in Deutschland, denn nachdem seine Karriere sich nicht so entwickelt hatte wie insgeheim sicher erhofft, hatte man für den Derbysieger von 1996 eine andere – alles andere als zweitklassige – Lösung gefunden und ihm einen Beschälerplatz in den Haras Nationaux besorgt, wo er überwiegend zur Zucht von Hindernispferden Verwendung fand – das auch mit einigem Erfolg, wie im vergangenen Jahr der talentierte Seriensieger bei den Hürdlern Bel La Vie oder zuvor bereits Mikael d’Haguenet, der mehrfach in Irland und England auf höherer und höchster Gruppe-Ebene über die Sprünge gewinnen konnte, unter Beweis stellten. Ganz aktuell konnte sich im Jahr 2011 auch bereits der Lavirco-Sohn Quarouso in einem Jagdrennen auf Gruppeebene siegreich präsentieren.

Lavirco als Deckhengst in Frankreich
Lavircos letzter regulärer deutscher Jahrgang 2003 geboren worden war. Dieser enthielt zwar keine Fülle herausragender Könner, aber mit Lord of the Dark immerhin ein Pferd, das uns als wahrer Dauerläufer (wenn auch in einer ganz anderen Leistungsklasse) auch heute noch ein Begriff ist und seinem Vater nebenbei ausgesprochen ähnlich sieht. Und dann… tja, dann kam da noch eine Stute mit dem reizvollen Namen Lolita auf die Welt, die es drei Jahre später schaffte, sich zunächst mit dem Vorsprung von bloß einer Nase den Düsseldorfer Stutenpreis zu holen, um anschließend einen ungleich größeren und wichtigeren Sieg hinzuzufügen, als sie die 2006er-Auflage der German Guineas – immerhin gegen die spätere Diana-Siegerin Almerita – gewann.


Dass die später in die USA überstellte Lolita Lavircos beste Tochter ist, dürfte wohl völlig außer Frage stehen, auch wenn sie sich anschließend auf europäischer Gruppe-I-Ebene nicht durchsetzen konnte, doch geriet der Hengst anschließend in Frankreich zumindest aus deutscher Perspektive einigermaßen in Vergessenheit. Und so mag es für manch einen, der sich so wie ich noch gut an den Derbysieger von 1996 erinnern konnte, im November 2009 die Nachricht von Lavircos gesundheitsbedingter Einschläferung als traurig stimmender Schock gekommen sein. Nach einer Operation im September war der Hengst nur noch durch eine Sonde ernährbar gewesen, hatte auch nicht mehr saufen können - eine schwere Belastung, wie die französische Gestütsseite schrieb. Zwar habe Lavirco noch regelmäßig einen Paddock aufsuchen können, aber als sich seine Gesundheit Anfang November rapide verschlechterte, entschloss man sich zwei Tage später schweren Herzens dazu, Lavirco von seinem Leid zu erlösen.


Ein großartiges Rennpferd war er, dieser Lavirco, und ich hätte ihn so gerne noch öfter – vielleicht auch persönlich – am Start gesehen als bei unserer einzigen „Begegnung“, als ich atemlos an die Mülheimer Rails eilte und mir nur dieser berauschende Eindruck blieb, wie ein fast schwarzes Pferd unwiderstehlich antrat und an mir vorbei in Richtung Ziel rauschte. Dieser Eindruck allerdings ist auch viele Jahre später noch sehr lebendig geblieben.

Sonntag, 12. Juni 2011

Vor sechs Jahren: Royales Raubtier und stiller Wind

Der folgende Erinnerungstext ist exakt ein Jahr alt, erschien damals im Tippspielforum und wurde - besonders im Hinblick auf die Nachkommen des einen "Hauptdarstellers" - ein wenig aktualisiert. Das Ziel: Ein wenig Lust machen auf morgen, wenn die 2011er-Ausgabe des Union-Rennens in Köln-Weidenpesch ansteht, und das mit einem Feld, das durch Pferde wie Arrigo, Gereon, Saltas, Sundream... ebenfalls eine Menge Spannung verspricht. Ich freue mich jedenfalls schon heute auf morgen.


Es war einmal vor sechs Jahren

Heute springen wir zur Abwechslung einmal nicht gar so weit in die Vergangenheit, sondern lediglich sechs Jahre zurück, zum 12. Juni des Jahres 2005. Es war der mit einiger Spannung erwartete Tag der wichtigsten Derby-Vorprüfung, an dem das Union-Rennen in Köln ausgetragen wurde. Ganz so hochkarätig wie das Feld, das fast exakt sechs Jahre später, also am morgigen Nachmittag, in die Startboxen einrücken wird, war die 2005er-Auflage des Union-Rennens möglicherweise nicht, aber sie enthielt doch mit dem späteren Derbysieger (im Ziel hier nur Fünfter) und dem Hengst, um den es in diesem Text geht, zumindest zwei sehr gute Rennpferde.


So war es 2010: Union-Sieger Zazou vor dem Zweitplatzierten Lindentree


In der Favoritenrolle stand jedoch nur einer, und das war – wohl eher eine zufällige Parallele zu Scalo, der im vergangenen Jahr die meisten Wetten auf sich vereinigen konnte, dann aber, wie man inzwischen mit einiger Gewissheit sagen kann, unter Wert geschlagen blieb – der bislang bei drei Starts ungeschlagene und bereits doppelte Gruppesieger Königstiger. Auf 18:10 hatten die Besucher der Kölner Rennbahn den Ritt von Andreas Suborics schließlich vor dem Start heruntergewettet, was deutlich das gewaltige Vertrauen unterstreicht, das sie in den Schlenderhaner Tiger Hill-Sohn aus der Kittiwake setzten. Königstiger sollte seine Anhänger letzten Endes auch nicht enttäuschen und gewann das Union-Rennen, aber ein Spaziergang wurde es für ihn und seinen Jockey wahrlich nicht. Im Gegenteil – was sich vor sechs Jahren in Weidenpesch abspielte, verdient wohl zurecht die Adjektive „kurios“, „dramatisch“, „mitreißend“ und „unterhaltsam“.

Bei Menschen ist es wohl nicht grundsätzlich anders als bei Rennpferden. Da gibt es manche Vertreter, die auf diesem oder jenem Gebiet eine besondere Gabe haben und mit diesem Talent offenbar mühelos brillieren. Es scheint ihnen keine spezielle Mühe zu machen, die Konkurrenz spielerisch leicht hinter sich zu lassen. Fast wirkt es so als nähmen sie sie im Höhenrausch der eigenen Fähigkeit gar nicht wahr. Und dann existieren da andere Menschen, die ähnlich talentiert sind, aber zum Abrufen ihrer Höchstleistung stets nahezu ebenbürtige Konkurrenz benötigen. Sie leben von der Auseinandersetzung, vom Kampf, und erst in der Herausforderung durch einen Gegner finden sie jene Kraft in sich, die es ihnen im allerletzten Moment gestattet, den Rivalen doch noch zu überflügeln.

Königstiger – so viel dürfte bei aller unterschiedlichen Wahrnehmung, die der Hengst in seiner leider nur sehr kurzen Rennlaufbahn erfuhr, unumstritten sein – war ein typischer Vertreter der zweiten Gruppe. Er benötigte das Kämpfen wie die Luft zum Atmen. Siege mit dem Prädikat „hochüberlegen“ waren seine Sache nicht – im Gegenteil! Je knapper es vorne wurde, je unerbittlicher der Zielpfosten näher rückte, je eindeutiger ein anderes Pferd den Sieg bereits in trockenen Tüchern zu haben schien, desto schneller wurde der Schlenderhaner, bis es ihm auf den allerletzten Drücker meistens doch gelang, die Partie noch einmal zu wenden. Nur einen einzigen seiner vier in Folge errungenen Siege (davon zwei als Zweijähriger und weitere zwei während seiner Kampagne als Dreijähriger 2005) hat er anders als durch „Kampf“ entschieden. Dies war sein Maidensieg beim allerersten Start im September 2004 in Baden-Baden. Ausnahmsweise war er hier gegen teilweise gar nicht einmal so schlechte Pferde mit einem sicheren Vorteil als erstes Pferd über die Ziellinie galoppiert. Danach aber machte er seinem Ruf als großer Kämpfer dreimal hintereinander alle Ehre.

Er war gewiss ein richtig gutes Rennpferd, denn schon beim zweiten Lebensstart schickte Trainer Peter Schiergen Königstiger nach Italien, wo er im Gran Criterium ausgesprochen knapp den vermeintlich höher eingeschätzten Stallgefährten Idealist unter Andreas Suborics düpierte. Filip Minarik saß an jenem Tag im Sattel der vorab „nur“ zweiten Farbe Königstiger, doch am Ende avancierte er mit dem Hengst zum Gruppe-I-Sieger, so dass die beiden Schlenderhaner dieses Rennen unter sich ausmachten. Auch bei seinem folgenden Auftritt, dem ersten in seiner Dreijährigensaison, gewann Königstiger in ganz ähnlichem Stil. Wieder war es nur ein Kopfvorteil, den er – erneut unter Filip Minarik – nach hartem Kampf und erneut gegen einen Stallgefährten namens Bernard ins Ziel brachte.

Bis zum Start des Union-Rennens musste sich also unter den Rennbahnbesuchern herumgesprochen haben, dass dieser Königstiger nicht von ungefähr als einer der ganz großen Aspiranten auf den Derbysieg galt, sich aber zum Anlegen einer Wette nur für Menschen ohne schwaches Nervenkostüm und Herzrhythmusstörungen anbot. Vielleicht war dies auch der Grund, warum der Schlenderhaner eigens für die große Derby-Vorprüfung einen Pacemaker in Gestalt des Ullmann-Hengstes Silent Wind zur Seite gestellt bekam. Dass dieser Silent Wind jedoch dem großen Favoriten am Ende noch beinahe die Tour vermasselt hätte, statt nur das Tempo schön flott zu machen und nebenbei noch für jede Menge Unterhaltung zu sorgen, war wohl so nicht geplant gewesen.

Silent Wind machte seinem Namen nämlich alle Ehre – zielstrebig führte und zog er das Feld bis in die Zielgerade hinein, wobei er durch einen ziemlich cleveren Ritt von Terry Hellier die innere Spur ganz an den Rails geschickt für Königstiger frei hielt, in dessen Sattel nun wieder Andreas Suborics saß. Der einzige ernsthafte Konkurrent, der nicht von Peter Schiergen trainiert wurde, das Schütz-Pferd Le King aus dem Gestüt Wittekindshof, war so gezwungen, in einer weiter außen liegenden Bahn deutlich mehr Strecke zurückzulegen. Es waren also eigentlich optimale Voraussetzungen geschaffen worden für den großen Favoriten, aber im Einlauf tat sich Königstiger zunächst alles andere als leicht. Für einen Moment mochte man sogar glauben, er sei bereits geschlagen – aber da täuschte sich das gebannt zusehende Publikum.

Ort des Geschehens in einer alten Luftaufnahme: Rennbahn Köln-Weidenpesch


Was dann folgte und mit Hilfe des Rennvideos, das inzwischen auf der Website des Gestüts Fährhof bei den Informationen über den Deckhengst Königstiger anders als im letzten Jahr leider nicht mehr verfügbar ist, war ganz großes Rennbahnkino. Nicht nur, dass auf den letzten Metern bis zum Zielspiegel eine Kampfpartie sondergleichen entbrannte, an deren Ende Königstiger knapp – knapper – am knappsten mit lediglich einer Nase das bessere Ende für sich hatte, nein, es gab auch noch kostenlos eine Zugabe, die beinahe Slapstick-Charakter hat. Silent Wind nämlich, der wohl ohne dass es beabsichtigt gewesen war, fast das Rennen gewonnen hätte, machte seinem Namen alle Ehre und erzeugte... Wind. Er bediente sich dazu im Einlauf wieder und wieder sehr gekonnt seines Schweifs, mit dem er schlug und wedelte, ohne im Galopp aus dem Takt zu kommen. Auch beim wiederholten Ansehen des Videos konnte ich mir ein Grinsen nicht verkneifen.

Was in den Zuschauern vorgegangen sein mag, während sich dieses Spektakel vor ihren Augen live abspielte, kann man nur ahnen. Am Ende jedoch hatte Königstiger noch einmal – ein letztes Mal, wie sich später herausstellen sollte – das bessere Ende für sich gehabt. Er gewann, aber wer auf dem Video den bei der Siegerehrung ziemlich erledigt und perplex wirkenden Jockey Andreas Suborics betrachtete, sah, dass dies wohl kaum sein leichtester Gruppesieg gewesen sein dürfte.

Der Nimbus der Unbesiegtheit war jedenfalls trotz der Umstände seines Erfolgs gewahrt geblieben, und so ging Königstiger auch als einer der Mitfavoriten ins Hamburger Derby. Lediglich sein Stallgefährte Arcadio (noch ein erstklassiger Schlenderhaner!) wurde in diesem Rennen aller Rennen von den Wettern höher eingestuft als der Union-Sieger. Gewinnen konnten beide Pferde das Rennen am Ende allerdings nicht, denn genau in dem Moment, in dem es darauf ankam, erlebte der Außenseiter Nicaron, den Königstiger zuvor noch klar und deutlich geschlagen hatte, die Sternstunde seines Lebens. 


Eine vergleichbare Leistung konnte der Derbysieger des Jahres 2005 später nie wieder erbringen, aber so ist es halt im Rennsport: Ein Triumph zur rechten Zeit genügt. Das Blaue Band konnte ihm danach niemand mehr nehmen. Und es sah in der Tat schon spektakulär aus, wie Nicaron auf den letzten dreihundert Metern des Rennens außen an den vermeintlich so siegessicheren Schlenderhanern vorbeizog, insbesondere Königstiger dabei vollkommen stehen ließ und auch die sehr gut aussehende Schlussattacke des späteren Zweiten Night Tango, der einen recht schlechten Rennverlauf gehabt hatte, ganz locker abwies. Auch Nicaron ist inzwischen zum Deckhengst avanciert, doch stehen die ersten Rennbahnstarts seiner Nachkommen noch aus.

Und Königstiger, dem möglicherweise in Hamburg der Weg doch ein wenig zu weit geworden sein könnte? Lange war trotz der vorhandenen Zweifel an seinem Stehvermögen über eine Revanchepartie gegen Nicaron im Rheinland-Pokal und somit erneut auf Derby-Distanz spekuliert worden. Königstiger wurde auch als Starter angegeben, dann jedoch am Tag des Rennens wegen des aufgeweichten Bodens zurückgezogen. Er erschien im Herbst nur noch einmal am Start – nun über deutlich kürzere 2000 Meter, aber gegen Fight Club gab es hier ebenfalls kein Ankommen, und so kam er „nur“ als Zweiter ins Ziel. Der Verdacht drängt sich auf, dass Königstiger möglicherweise bereits vor dem Derby all seine ihm zur Verfügung stehenden Kämpfe gekämpft hatte. Danach endete seine Karriere als Rennpferd abrupt mit der überraschenden Meldung, dass das Gestüt Fährhof ihn als Deckhengst aufstellen werde, wobei diese Entscheidung wohl auch viel mit dem tragischen Unfall eines anderen Pferdes namens Eagle Rise zu tun hatte. Zudem hatte Königstigers so erfolgreicher Vater Tiger Hill das Gestüt Fährhof gerade verlassen, und was lag da näher als ihn gewissermaßen durch seinen Sohn zu ersetzen?

Deckhengst Königstiger


So verständlich die Entscheidung ist, dass Königstiger aus dem Rennstall genommen wurde, so schade ist es doch auch, dass er nicht mehr die Gelegenheit bekam zu zeigen, ob er (vielleicht nach einer kleinen Erholungspause?) noch zu weiteren faszinierenden Kämpfen in der Lage gewesen wäre. 


Noch auf dem Gestüt Fährhof - Deckhengst Königstiger bekommt Besuch


Als Deckhengst bekam der Gruppe-I-Sieger jedenfalls in den ersten Jahren seiner Tätigkeit auf dem Fährhof trotz seiner zunächst recht stattlichen Decktaxe alle nur erdenkliche Unterstützung und hatte auch von anderen Züchtern regen Zulauf. Inzwischen sind die Pferde seines ersten Jahrgangs vierjährig, und auch aus dem zweiten Jahrgang sind bereits einige Pferde gelaufen. Manche von ihnen, darunter z.B. Anking, Wild Pearl, Zirkel und Lavallo, haben auch bereits als Sieger auf sich aufmerksam machen können. Am erfolgreichsten hat sich bislang die Rennkarriere von Devilish Lips gestaltet, und auch bei der vierjährigen Shining Glory und dem dreijährigen Arazjal dürfte noch manch ein Traum geträumt werden. Der ganz große Treffer ist dem Königstiger-Nachwuchs aber bislang noch nicht geglückt.

Königstiger-Tochter Shining Glory


Seit diesem Jahr hat er auch einen neuen Standort bezogen und ist ins Gestüt Zoppenbroich gewechselt. Sein 2011er-Jahrgang ist ebenfalls noch recht kopfstark und umfasst auch einige Black-Type-Stuten größerer Gestüte. 

Was die Zukunft nun für Königstiger bringen wird? Ich plädiere für Abwarten... noch ist nicht aller Tage Abend, und wer weiß – vielleicht setzt sich ja am Ende auch einmal eines seiner Kinder auf den allerletzten Drücker durch und zeigt, dass es den fulminanten Kampfgeist des Vaters geerbt hat?

Donnerstag, 2. Juni 2011

Unsanfte Landung

Morgen geht es los nach Baden-Baden, und das lange Wochenende kommt wirklich wie gerufen. Ich freue mich schon auf möglichst viele spannende Rennen, wobei berühmte Namen unter den aktiven Zwei- und Vierbeinern zwar das Salz in der Suppe sind, aber nicht der hauptsächliche Motivationsfaktor.  Auch wenn mein Fokus eindeutig auf dem deutschen Galopprennsport liegt, gibt es aber einige Jockeys aus anderen Ländern, über deren gelegentliche Stippvisiten auf unseren Bahnen ich mich immer freue. Olivier Peslier ist solch ein Mann, Johan Victoire ebenfalls, dann auch Maxime Guyon. Und dann ist da natürlich noch der alles überragende Star der blauen Flotte, der gar nicht so selten (und häufig höchst erfolgreich) hierzulande in den Sattel gehoben wird, um ihn im Erfolgsfall mit seinem berühmten Strecksprung nach dem Rennen wieder zu verlassen.


Es geht natürlich um Lanfranco Dettori. Eine ganze Reihe großer Ritte des Godolphin-Stalljockeys trage ich in meiner Erinnerung nun schon mit mir. Hinzu kommt, dass Frankie, wie ihn seine vielen Fans nennen, ein großes Talent hat, sich professionell und gleichzeitig sympathisch mit ansteckend guter Laune in Szene zu setzen - so zuletzt noch nach seinem Erfolg auf Scalo im Kölner Gerling-Preis, als er die versammelte Trainer-, Besitzer- und Offiziellenschar auf dem Siegerpodest kurzerhand einer Formel-1-würdigen Sektdusche unterzog.


Kein Zweifel, ohne Lanfranco Dettori wäre der Galopprennsport viel, viel langweiliger und ärmer an mitreißenden Erlebnissen. Aber dass es seine vielen großen Ritte überhaupt gab, ja, dass es Lanfranco Dettori selbst noch gibt, ist schon einem kleinen Wunder zu verdanken. Heute nämlich vor genau elf Jahren geschah im englischen Newmarket ein Unglücksfall, der, wenn eine ganze Armada an Schutzengeln auch nur etwas weniger aufgepasst hätte, beinahe nicht nur Dettoris Karriere, sondern auch sein Leben tragisch früh beendet hätte.


Vor einem Jahr habe ich bereits Mitte Juni einen kurzen Bericht über dieses Ereignis geschrieben, das auch im Zusammenhang mit dem Derbysieg eines großartigen Rennpferdes (inzwischen Deckhengstes) steht, welches für mich inzwischen als Vater einer gewissen vierjährigen Stute, der noch einige Hoffnungen gelten, eine ganz neue Bedeutung gewonnen hat: Sinndar...


Sinndar - ein großartiges Pferd!


Es war einmal vor 10 Jahren

Am 10. Juni 2000 wurde das englische Derby gelaufen. Gewonnen wurde es von dem von John Oxx trainierten Hengst Sinndar unter Jockey Johnny Murtagh. Liest man die Liste der übrigen beteiligten Reiter durch, so kann man leicht ins Schwärmen geraten ob der hier versammelten großen Namen, doch ein Jockey, der so bekannt ist wie wohl kaum ein anderer Aktiver des Galoppsports, fehlt in der illustren Aufzählung – und das hatte einen wenig erfreulichen Grund.

Jockeys leben gefährlich. Diese einfache Tatsache dürfte jedem bekannt sein, der öfter eine Rennbahn besucht und das Geschehen dort mit ein wenig Aufmerksamkeit verfolgt. Leichtere und leider manchmal auch schwere Verletzungen, wie sie im Training oder bei den Rennen selbst immer wieder vorkommen, gehören zum Berufsrisiko der Zweibeiner, die mit den schnellen Pferden umgehen – und in der Regel werden sie von ihnen einfach stillschweigend in Kauf genommen.

Nicht selten müssen die Schutzengel der Jockeys also Überstunden leisten, doch kaum je werden sie dermaßen gefordert wie vor zehn Jahren, als in England ein dramatischer Unfall mit zwei Jockeys geschah, der glücklicherweise zumindest für zwei der drei Betroffenen noch halbwegs glimpflich ausging. Ihre Schutzengel hatten am 1. Juni 2000 auf der Rennbahn in Newmarket ganze Arbeit geleistet, obwohl in den Unfall, der bald darauf weit über Großbritannien hinaus Schlagzeilen machte, gar keine Vierbeiner verwickelt waren. Die Namen der derart Beschützten, die wie durch ein Wunder überlebt hatten, waren eben weithin bekannt, handelte es sich doch um Ray Cochrane und Lanfranco Dettori, zwei der führenden britischen Jockeys.

Ein Kleinflugzeug war an jenem Tag in Newmarket direkt am Rand der Rennbahn beim Startversuch abgestürzt und in Flammen aufgegangen. Betrachtet man die Fotos, die die britische Presse vom Wrack der Maschine des Typs Piper Seneca veröffentlichte, ist es schwer zu glauben, dass zwei der drei Insassen – die Passagiere eben, die auf dem Weg zu einem Renntag in Goodwood gewesen waren – das Flugzeug lebend verlassen konnten. 


Link zu einem englischen News-Bericht über den Flugzeugabsturz von Newmarket


Für den Piloten hingegen, Patrick Mackey (52), gab es keine Rettung. Er starb noch an der Unfallstelle. Unmittelbar im Anschluss an den Absturz wurde er von den Journalisten selbst, aber auch von den überlebenden Passagieren als Held gefeiert. Nur ihm, seinem Können und seinem Mut, so ließen die beiden verletzten Jockeys Cochrane und Dettori noch vom Krankenhaus aus verlauten, verdankten sie ihre Rettung. Erst ein halbes Jahr später kamen gewisse Zweifel an dieser Theorie auf, als eine polizeiliche Untersuchung ergab, dass der verstorbene Pilot zwar über eine Menge Erfahrung in seinem Beruf verfügt, jedoch vor dem Unfall erst wenige Flugstunden in einer Piper Seneca absolviert hatte. Normalerweise hatte er immer am Steuer einer Maschine des Typs Cessna gesessen, die gerade beim Startmanöver anders bedient wurde als der Unglücksflieger.
Von Blessuren gezeichnet und dennoch halbwegs glimpflich entkommen -
Lanfranco Dettori  nach dem Flugzeugabsturz
Weder Frankie Dettori noch Ray Cochrane kommentierten diese Untersuchungsergebnisse öffentlich, obwohl der Unfall zumindest für einen der beiden Reiter schwerwiegende Folgen gehabt hatte. Anders als bei Frankie Dettori, der zwar das neun Tage nach dem Crash ausgetragene englische Derby mit Verletzungen an Daumen und Knöchel versäumte, bedeutete der Absturz für Ray Cochrane das Ende seiner Karriere als Jockey. Seine Verletzungen an Brust, Schultern und Rücken erwiesen sich im Nachhinein als zu gravierend, und so musste er seine Reitstiefel ein knappes halbes Jahr später an den Nagel hängen. Auch die königliche Tapferkeitsmedaille, die ihm verliehen wurde, weil er dem verwundeten Dettori geholfen hatte, aus der Gepäckluke des brennenden Flugzeugs zu entkommen, ehe er zurücklief und noch einen vergeblichen Versuch startete, auch den Piloten aus den Flammen zu retten, wird angesichts dieser Folgen nur ein schwacher Trost gewesen sein.
Ray Cochrane - Erinnerung an seine Zeit als Jockey
Nach seinem Karriereende als Jockey arbeitete Ray Cochrane als Agent für Lanfranco Dettori, dessen damals bereits glanzvolle Laufbahn in den vergangenen zehn Jahren seit dem Flugzeugabsturz nur noch glanzvoller geworden ist. 


Wer kürzlich zum Mehl-Mülhens-Rennen in Köln anwesend war, konnte erleben, wie herzlich der Mann in den blauen Godolphin-Farben bereits vor dem Rennen beim Betreten des Führrings von seinen deutschen Fans beklatscht wurde. Auch nach dem Rennen waren sie noch begeistert von Frankie Dettori, obwohl dieser mit einem Glanzritt auf dem vermeintlich höchstens zweitklassigen Hengst Frozen Power soeben den deutschen Pferden die Hufe gezeigt hatte. Sicher war es auch die Hoffnung, mit Dettoris speziellem Markenzeichen, dem Strecksprung aus dem Sattel nach einem großen Sieg, beglückt zu werden. Ihre Erwartung wurde nicht enttäuscht, denn auch in Köln zeigte der sichtlich erfreute Jockey den Dettori Jump, sein berühmtes Zirkuskunststückchen. Wenn man in diesem umjubelten Moment daran dachte, dass der Flugzeugabsturz vor fast genau zehn Jahren ohne viel Glück, die Hilfe eines mutigen Kollegen und die entschlossene Hand seines Schutzengels sehr leicht auch anders für den Meisterjockey hätte enden mögen, konnte einem schon ganz anders werden. 
Jockey mit bewegter Biographie - übrigens ziemlich lesenswert! ;-)