Samstag, 29. Dezember 2012

Vor zehn Jahren: Ein Kreis schließt sich fast vollkommen rund

Ein Jahreswechsel, so wie er uns in wenigen Tagen wieder ins Haus steht, wird aus nachvollziehbaren symbolischen Gründen gerne genutzt, um den Übergang von einer Lebensphase in die nächste zu markieren. Eine sinnbildliche Tür mag sich schließen, doch gleichzeitig öffnet sich der Ausblick auf etwas Neues. Und auch für einen Blick zurück auf das, was in der Vergangenheit erreicht wurde, wird ein Jahreswechsel immer gern genutzt. Nicht anders war das heute vor exakt zehn Jahren, als in der (deutschen) Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 2002 in den USA eine Stute mit Namen Uriah ein Rennen bestritt, die als die unwiderruflich allerletzte Starterin des Trainers Harro Remmert in die Annalen des deutschen Rennsports eingehen sollte.

Calder Race Course in Miami - Ort des letzten Auftritts eines von Harro Remmert trainierten Pferdes
Dass sich Uriahs Start ausgerechnet so weit entfernt auf dem Calder Race Course in Miami, Florida und nicht etwa in Deutschland abspielte, hatte seine Gründe. Doch hätte man den Trainer, der Uriah auf einer sicher für ihn ungewohnten Reise sogar selbst ins vermeintliche Land der unbegrenzten Möglichkeiten begleitete fünfundzwanzig Jahre früher, als er seine Laufbahn in Neuss begann, erzählt, dass er diesen Lebensabschnitt ein Vierteljahrhundert später einmal so beenden würde, dürfte er es wohl selbst kaum für möglich gehalten haben.

Schon allein die Vorstellung, einmal eine Stute zu trainieren, die angesichts ihrer deutschen Erfolge dringende Kaufgelüste in den USA erwecken würde, dürfte er damals für kaum vorstellbar gehalten haben, denn die wenigen Pferde, mit denen er das Trainieren im Sommer 1977 begonnen hatte, waren überwiegend mit recht bescheidenem Können gesegnet. Angefangen hatte nur diese zweite Rennsport-Karriere ein Jahr nach seinem folgenschweren Sturz im Dr. Busch-Memorial in Krefeld auf der Rennbahn in Neuss, auf der er bis 1972 für mehrere Jahre erfolgreich als Stalljockey von Trainer Georg Zuber gearbeitet hatte, mit gerade einmal neun Pferden. Bald war die Anzahl seiner Schützlinge angefeuert durch die sich rasch einstellenden Erfolge - so vor allem mit Twistlady, die auf Listenebene gewinnen konnte - gewachsen, so dass ein SPIEGEL-Artikel Ende 1977 bereits von fünfundzwanzig Pferden zu berichten wusste, die von Neutrainer Harro Remmert auf ihre Rennen vorbereitet wurden. 

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40680539.html

Das war jedoch noch längst nicht das Ende der Fahnenstange, denn nach einigen Jahren hatte sich Harro Remmerts Neusser Stall so etabliert, dass auch auf höherer Ebene Erfolge wie 1981 die doppelten Treffer der Zoppenbroicherin Anmut im Gontard- und Festa-Rennen oder die ersten Gruppesiege im Fürstenberg-Rennen 1980 sowie im Spreti-Rennen 1982 mit dem Hengst Ludovico zu verzeichnen waren. Auch Odenat, Kyros, Auenliebe und Germinal gehörten zweifellos zu den besseren Rennpferden, die Harro Remmert in seiner Neusser Zeit vorbereiten konnte.

Der ganz große Sprung nach oben auf der Erfolgsleiter gelang dem Trainer, der diese Laufbahn vor seinem Unfall eigentlich immer ausgeschlossen hatte und erst durch den Zoppenbroicher Gestütsbesitzer Kurt Bresges und Trainer Sven von Mitzlaff dazu animiert wurde, es angesichts seiner durch die Querschnittlähmung dramatisch veränderten Lebenssituation doch zu versuchen, dann aber in den Jahren nach seinem Wechsel an den Olymp-Stall in Köln - genau dorthin, wo er unter Sven von Mitzlaffs Führung drei Jahre lang mit großem Erfolg als Stalljockey tätig gewesen war. 


Sven von Mitzlaff:
In vielerlei Hinsicht ein wichtiger Mensch in der aktiven
Laufbahn von Harro Remmert
als Jockey und Trainer

Der Wechsel nach Köln war Harro Remmert, wie er an verschiedenen Stellen in Interviews berichtete, keineswegs leicht gefallen, da er nur wenige seiner angestammten Besitzer mitnehmen konnte und sich auch von fast allen seinen Mitarbeitern, zu denen er ein ausgezeichnetes Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, schweren Herzens verabschieden musste. Trotz des ersten spektakulären Treffers mit Kamiros im Preis von Europa bereits im Herbst 1987 dauerte es einige Jahre, bis er wirklich ganz und gar in seinem neuen Quartier in Köln "angekommen" war und dort - mit einer Reihe von neuen Besitzern - auch wieder große und ab Mitte der 1990er Jahre sogar größte Erfolge vorzuweisen hatte.

Zu den großen Träumen des Trainers Harro Remmert hatte es immer gezählt, einmal mit einem seiner Schützlinge das Deutsche Derby zu gewinnen und/oder es auf 1.000 Erfolge zu bringen. Beide Ziele konnte er in den fünfundzwanzig Jahren seiner Trainertätigkeit verwirklichen - und möglicherweise war es gerade die magische Zahl 1.000, die ihn dazu motivierte trotz aller alltäglichen Mühen, gelegentlicher Rückschläge und Herausforderungen weiterzumachen, selbst als es etwa im Jahr 2001 gar nicht rund lief. Eigentlich wäre schon in jener Saison der tausendste Treffer fällig gewesen, doch blieb die Zahl der Siege, die seit seinem Wechsel nach Köln kaum je geringer als vierzig gewesen war und oft auch über fünfzig Erfolgen gelegen hatte, ungewohnt niedrig. Nur 26 Rennen konnte der Olymp-Stall 2001 für sich entscheiden. Das reichte (noch) nicht - aber Aufgeben, erst recht nicht so kurz vor dem Ziel, kam für Harro Remmert sicher aus Prinzip schon nicht in Frage.

Und so dauerte es mit dem symbolträchtigen tausendsten Trainererfolg eben bis zum 9. Juni 2002. Es ist ein Renntag, an den ich mich noch lebhaft erinnern kannn - nicht nur, weil er sich auf meiner Heimatrennbahn am Mülheimer Raffelberg abspielte. Mit vier Pferden war Harro Remmert an jenem Tag nach Speldorf gereist - und allesamt waren sie mit guten Chancen unterwegs. Zu Beginn der Grasbahnsaison war ich durch die Stallparade in der Sport-Welt auf den Umstand aufmerksam geworden, dass nur noch relativ wenige Siege bis zum ersehnten Meilenstein fehlten, und seither hatte ich mitgezählt. Dementsprechend war neben der Tatsache, dass an jenem Tag der Preis der Diana in Mülheim entschieden wurde, vor allem eine Frage für mich von Bedeutung: Konnte es gelingen, aus vier chancenreichen Ritten zwei Siege zu machen und so die magische Zahl zu erreichen? Meine Daumen waren jedenfalls gedrückt!

Der Renntag begann aus dieser spezielle Perspektive betrachtet auch gut, denn gleich im zweiten Rennen konnte sich die Fährhoferin Anna Simona unter Norman Richter einen zweiten Platz hinter der Schlenderhaner Konkurrenz Shoah sichern - ein Renneinlauf, wie er in den 1970er und 1980er Jahre viele, viele Male zu sehen gewesen war. Nun ist ein zweiter Platz natürlich ein schöner Erfolg, zumal Anna Simona nur eine halbe Pferdelänge von der Siegerin trennte, aber es ist eben doch kein voller Erfolg. 

Auch im Hauptereignis, dem Preis der Diana, war der Stall von Harro Remmert dank Midnight Angel aussichtsreich vertreten. Die Stute hatte zuvor auf der Raffelberger Bahn überlegen ihre Maidenschaft abgelegt und sich anschließend sogar auf Gruppe-I-Ebene in den Oaks d'Italia platzieren können. Favoritin wurde sie nicht, denn diese Ehre fiel der Ullmann-Starterin Guadalupe aus dem Stall von Peter Schiergen zu, doch Chancen musste man auch Midnight Angel einräumen. Und so galt es wieder einmal Daumen zu drücken - (fast) mit Erfolg. Wieder wurde es ein zweiter Platz, den sich Midnight Angel, geritten vom heutigen Kölner Trainer Waldemar Hickst, hinter der Höny-Hofer Siegerin Salve Regina sichern konnte. Grund zu Freude ganz sicher - aber es blieb eben bei der Tatsache, dass bis zur Zahl 1.000 weiter zwei Treffer fehlten. 

Gerade hatte ich mich damit "abgefunden", dass es dann wohl vermutlich an diesem Raffelberger Renntag nicht klappen würde, als sich gleich im folgenden Rennen Dictum aus dem Gestüt Simmenach den Sieg im Ausgleich I sicherte. Dieses Pferd, das sich im Verlauf der weiteren Saison 2002 zum Vierfachsieger mauserte, war in der Schlussphase der Trainerkarriere von Harro Remmert ohnehin etwas ganz Besonderes. Sollte da also vielleicht doch noch...?


In Fährhofer Farben: Waldemar Hickst 
Eine Starterin blieb - Templerin, ebenfalls in Fährhofer Farben unterwegs. Und beinahe schien es als wollten die Rennbahnbesucher den Jubiläumstreffer nun tatsächlich herbeiwetten. Die Quote von 17:10 für Templerin, die erneut von Waldemar Hickst geritten wurde, sprach jedenfalls Bände. Und wirklich wurden die Favoritenwetter am Ende nicht enttäuscht, denn Templerin schaffte den tausendsten Sieg. 

Es ist sicher nicht übertrieben, die Reaktion des Mülheimer Publikums an jenem Diana-Tag als ausgesprochen herzlichen Jubel zu bezeichnen. Standing Ovations, das trifft es irgendwie auch. Kaum einem Anwesenden dürfte entgangen sein, was für eine markante Leistung der Trainer Harro Remmert, der von Dr. Christoph Berglar - einem der treuesten Besitzer an seinem Stall - im Rollstuhl auf das Geläuf gebracht wurde, an jenem Tag feiern konnte. Wie oft, wenn ein Remmert-Pferd ein wichtiges Rennen gewonnen hatte, war die große Sympathie deutlich spürbar, die diesen nicht ganz durchschnittlichen Trainer auf den deutschen Rennbahnen begleitete. Man freute sich bei ihm eben einfach besonders gerne mit. Und dass es ausgerechnet das Sven von Mitzlaff-Rennen gewesen war, das Templerin gewonnen hatte, machte den ohnehin schon perfekten Renntag noch ein bisschen perfekter.

Natürlich war dieses Ereignis auch ein Anlass für Medienberichte und Interviews. In einem bei Galopp Online veröffentlichten Gespräch äußerte sich Harro Remmert auf die Frage nach seinen weiteren Zielen so:

"Ich habe jetzt eigentlich alles erreicht, was ich erreichen wollte. Das Derby und 1000 Rennen zu gewinnen, war immer mein Wunsch. Alles Weitere muss sich zeigen. Solange ich gesund bleibe und es mir weiter Spaß macht, möchte ich aber weitermachen."

Vielleicht hätte man bei dieser Aussage schon ahnen können, dass sich ein Ende seiner Trainerlaufbahn nun, da der zweite Teil seines Traums verwirklicht war, unaufhaltsam anbahnte. Mir selbst ist damals dieser Gedanke aber nicht gekommen, und so hat mich im Oktober die Nachricht, dass am Ende der Saison 2002 tatsächlich Schluss sein sollte mit dem Trainieren, wie viele Turf-Fans in Deutschland doch heftig überrascht und - ich gebe es gerne zu - auch ziemlich traurig gemacht. Rennbahn ohne von Harro Remmert trainierte Pferde - das wollte ich mir zunächst gar nicht vorstellen, denn viel zu sehr hatte er schon immer, seit ich als Kind mit zum Raffelberg genommen wurde, als ganz großer Sympathieträger "dazugehört".

Die Entscheidung war aber getroffen, aber die Pferde des Olymp-Stalls schien es nicht groß zu stören, dass die Tage ihres Trainingsquartiers gezählt waren. Im Gegenteil - es lief weiter gut. Zwei Pferde kamen jetzt erst so richtig in Schwung - einmal der bereits erwähnte Dictum, der als letzter Starter von Harro Remmert in einem deutschen Gruppe-Rennen Ende Oktober mit seinem Sieg in der Flughafen Frankfurt Trophy auch auf diesem Niveau für einen ausgesprochen runden Abschluss sorgte, und eben Uriah. 

Treu lief die selbst gezogene Stute aus dem Besitz von Herrn Erhardt und Frau Schönwälder immer und immer wieder ins Geld. Nach drei Siegen in Folge steigerte sie sich dann über die Listen-Ebene bis hin zu ihrem dritten Platz hinter Liquido im St. Leger. Doch hier war noch lange nicht Schluss, denn inzwischen war man im Ausland auf die vielversprechende Uriah aufmerksam geworden. Gary A. Tanaka hieß der Mann, der damals gerne und in großem Umfang aufstrebende Pferde aus deutschen Rennställen in seinen Besitz brachte, um sie dann in die USA zu exportieren.

Es war nicht das erste Mal, dass sich Tanaka mit neuen Pferden aus dem Stall von Harro Remmert versorgte. Zwei Jahre zuvor war er hier bereits mit Moonlady fündig geworden, die dann bei ihrem ersten Start im New Yorker Long Island Handicap für den allerersten Gruppe-Treffer eines von einem deutschen Trainer vorbereiteten Pferdes in den USA überhaupt sorgte - dies zu einer Zeit, wohlgemerkt, als die heute beinahe schon alltäglich anmutende Globetrotterei deutscher Pferde noch weit weniger üblich war. 


Gary A. Tanaka (Zweiter von rechts), der neue Besitzer von Uriah,
mit einem seiner erfolgreichsten Rennpferde, Docksider
Auch Uriah wechselte also in Tanaka-Besitz, und ihr neuer Eigner beließ die Stute zwar in der Obhut ihres alten Trainers, schickte sich aber zugleich auch an, das mit Moonlady so erfolgreiche Rezept einfach zu wiederholen. Auch Uriah sollte in die USA reisen und dort im Long Island Handicap antreten. 

Herrlich blumig und süffisant geschriebener Artikel über Uriahs Sieg in New York

Es passt irgendwie perfekt zur ausgesprochen erfolgreichen Schlussphase von Harro Remmerts Trainerkarriere, dass das Unternehmen (natürlich?) erneut gelang. Knapper hätte der Ausgang kaum sein können, aber am Ende hatte Uriah die sprichwörtliche Nase im Ziel vorne und sorgte dafür, dass der Kölner Trainer seinen spektakulären Amerika-Erfolg von vor zwei Jahren wiederholen konnte.

Dieser Treffer weckte trotz der recht langen Saison, die die dreijährige Uriah mit sieben Starts bereits hinter sich gebracht hatte, neue Hoffnungen, und so wurde das La Prevoyante Handicap in Miami als nächster Start für sie ausgesucht - obwohl sie aus rechtlichen Gründen nicht in den USA bleiben konnte, sondern zunächst wieder nach Deutschland zurückkehren musste. Dort hatte sich inzwischen der Olymp-Stall immer mehr gelehrt. Mit dem Ende der Trainer-Karriere von Harro Remmert mussten sich die Besitzer der Pferde, die in der kommenden Saison weiter an den Start kommen sollten, neue Trainer suchen, denn am 30. November 2002 sollten sich die Stalltüren für immer schließen. 

Bereits am 24. November war der endgültig letzte Remmert-Starter in Deutschland an den Ablauf gekommen - Tiers Above, der als Leichtgewicht unter Josef Bojko einen Ausgleich III auf Sand in Dortmund gewinnen konnte - erneut ein ungemein runder Abschluss, denn genau auf der Bahn in Wambel hatte Harro Remmert in den 1950er Jahren seine erste Zeit als Jockeylehrling bei Otto Schmidt verbracht, ehe er zum Gestüt Ravensberg nach Gütersloh wechselte und dort bei Trainer Johannes Kuhr seine eigentliche Ausbildung erhielt.


Was aus ehemaligen Rennpferden so alles werden kann:
Tiers Above in seiner neuen Bestimmung für das Leben nach der Rennbahn

Mit dem Sieg von Tiers Above war das Trainerkapitel also eigentlich bereits beendet, und doch blieb für eine Weile noch ein Pferd vorzubereiten auf ein Abenteuer in großer Entfernung - Uriah eben, die täglich von Waldemar Hickst in der Arbeit geritten wurde, bis sie erneut Mitte Dezember über den großen Teich aufbrach. 

Vollkommen rund wurde der Abschied vom Trainer-Dasein dann doch nicht, denn Uriah konnte ihren zweiten Auftritt in den USA nicht in einen erneuten Erfolg ummünzen. Als Achte blieb sie im Gegenteil vollkommen chancenlos. Auch später konnte sie an ihre deutschen Erfolge nicht mehr anknüpfen, aber als Zuchtstute hat sie inzwischen bereits für sehr talentierten Nachwuchs gesorgt, indem sie vor allem den in Hong Kong sehr erfolgreichen King Dancer stellte.


Uriahs Sohn King Dancer
Harro Remmert, der mit dem Ende seiner aktiven Laufbahn einen Urlaub in Florida verbunden hatte, dürfte diese Niederlage im allerletzten Rennen seiner Karriere vermutlich nur wenig bekümmert haben, denn zu sehr muss die Zufriedenheit überwogen haben, in den fünfundzwanzig Jahren seiner Tätigkeit jeden Tag mit viel Fleiß und Durchhaltewillen, dafür aber praktisch ohne jeden Skandal oder Drama Enormes geleistet zu haben, das ihm so wohl nach seinem Unfall 1976 kaum ein Mensch zugetraut hatte. 


Nur ein Beispiel für einen herausragenden Erfolg des Trainers Harro Remmert:
Diana-Siegerin Centaine 1995
Aber eine Zukunft im Ruhestand so ganz ohne Pferde? Nun ja... Das war sicher weder realistisch, noch ernsthaft auf Dauer angestrebt, und so blieb der Kontakt zum Galopprennsport weiter rege. Befragt, ob ihm denn die Pferde nicht fehlen würden, äußerte sich Harro Remmert im Frühsommer 2003 zustimmend und sprach davon, ein leichtes Kribbeln zu verspüren. Langeweile war offenbar dank einer großen Zahl von lange beruflich bedingt vernachlässigten Hobbys und vieler Freundschaften noch nicht aufgekommen, aber beim Morgentraining auf der Weidenpescher Rennbahn war Harro Remmert gerne zu Gast und sagte so auch zielsicher den späteren Derbysieger Dai Jin voraus. Eine Frage verneinte er allerdings zu jenem Zeitpunkt noch recht kategorisch. Als Züchter oder Besitzer wolle er nur wiederkommen, falls er einen Sechser im Lotto treffe.


Mehr als ein Sechser im Lotto: Rennpferd Wiesenpfad
So viel rein zufälliger Glücksspielerfolg war dann aber am Ende doch nicht notwendig, denn ein just in jenem Jahr 2003 geborenes Pferd, das später den traditionell "ravensbergerisch" anmutenden Namen Wiesenpfad erhielt, sorgte bald für einen Sinneswandel. Und mit jenem Wiesenpfad, der zu Harro Remmerts früherem Jockey und in gewisser Weise, wenn auch mit zeitlichem Abstand von einem Jahr seinem Nachfolger, ins Training gegeben wurde, verbindet sich ein neuer, enorm erfolgreicher - sicher auch emotional sehr bewegender - Teil der Rennsport-Lebensgeschichte des inzwischen beinahe siebzig Jahre alten früheren Jockeys und Trainers, der selbstredend weiterhin häufiger Besucher der Galopprennen in NRW und anderswo ist. 


Wiesenpfad als Deckhengst
Inzwischen ist er, da Wiesenpfad sich aus kleinen Anfängen tatsächlich zum Deckhengst gemausert hat, auch unter die Züchter gegangen. Die ersten Wiesenpfad-Jährlinge sind inzwischen auch bereits in den Rennstall eingerückt. Zidar, so heißen sie, Pamina und Abendwind. 

Der Traum von weiteren Erfolgen darf also noch ein Weilchen weitergeträumt werden...

         
          

Samstag, 21. Juli 2012

Vor vierzig Jahren: Olympische Ehren


Lange wird es nun nicht mehr dauern, bis am 27. Juli 2012 in London die XXX. Olympischen Sommerspiele beginnen. Da erscheint es irgendwie in der manchmal amüsant passenden Zufälligkeit des Lebens interessant, dass ausgerechnet an dem Tag, an dem Lanfranco Dettori die Olympische Fackel auf dem Rücken eines Pferdes nach Ascot trug, via German Racings Facebook-Präsenz ein ziemlich genau vierzig Jahre altes Privat-Video auftauchte. Es wurde einst auf der Münchener Rennbahn gedreht und dokumentiert den „Olympia-Preis“.



Doch Dabeisein war damals ganz sicher nicht alles, denn es handelte sich bei diesem am 7. September 1972 ausgetragenen internationalen Pferderennen immerhin um das hochkarätige Hauptereignis des Renntages. Der Name „Olympia-Preis“ kam natürlich nicht von ungefähr, denn schließlich war die Stadt München im September vor vierzig Jahren gerade Veranstalter der XX. Olympischen Sommerspiele, die nach anderthalb sportlichen Wochen bereits langsam in die Zielgerade einbogen. Was lag da näher als auch ein in München ausgetragenes Galopprennen entsprechend zu benennen?

Die "heiteren Spiele" von München 1972 - hier als Briefmarke

Es war natürlich auch nicht irgendein Ausgleich IV, der mit diesem verpflichtenden sportlichen Titel dekoriert wurde, sondern ein ausgesprochen hoch dotiertes Rennen mit dem Zusatz „International“. Insgesamt 250.000 DM an Preisgeldern hatte der Rennverein für den Sieger und die Platzierten über die klassische 2400m-Strecke ausgelobt – nur unwesentlich weniger Geld als im zwei Monate zuvor in Hamburg ausgetragenen Deutschen Derby. Kein Wunder also, dass der Olympia-Preis 1972 ausgezeichnet besetzt war. Nicht nur der amtierende Derbysieger Tarim aus dem Besitz von Ferdi Ostermann war anwesend. Nein, neben dem späteren Ersten im Preis von Europa 1972, dem Röttgener Prince Ippi, und zwei englischen Gästen begab sich vor allem der erklärte Rennbahnliebling jener Tage, der inzwischen fünfjährige Schlenderhaner Fuchshengst Lombard, an den Start.

Galopprennbahn Riem - Austragungsort des Olympia-Preises 1972

Es war also alles angerichtet für einen großen Renntag. Die Filmsequenzen verraten, dass die Rennbahn in Riem an jenem Tag offenbar ausgezeichnet besucht war. Auch der Hobbyfilmer, dem wir diese kostbaren bewegten Bilder aus der Vergangenheit verdanken, gab sich viel Mühe mit seinen Aufnahmen, die einer klaren Dramaturgie folgen, und vertonte sein Werk anschließend noch liebevoll mit dem „Rondo alla Turca“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Die so entstandene Heiterkeit überträgt sich auch heute, vierzig Jahre später, noch scheinbar mühelos auf den Betrachter. Sie täuscht aber – dies muss am Rande auf jeden Fall erwähnt werden – darüber hinweg, dass gar nicht so weit von der Riemer Rennbahn entfernt die namengebenden Olympioniken Trauer trugen, denn nur zwei Tage zuvor war es zu der schrecklichen terroristischen Geiselnahme gekommen, in deren Folge insgesamt siebzehn Menschen starben. Dass die so genannten „heiteren Spiele“ von München 1972 längst nicht mehr heiter waren, auch wenn sie weitergeführt wurden, verrät das private Renntag-Video nicht. Auf der Rennbahn schien die sportliche Welt an jenem 7. September 1972 voll und ganz in Ordnung zu sein.

Ohnehin stand hier ja der Galopprennsport – keine olympische Disziplin, weder damals, noch heute – im Mittelpunkt. Und so kann der Betrachter zunächst das Gelände der Rennbahn mit Absattelring, Waagegebäude und Tribüne kennenlernen, ehe der erste Star erscheint. Es handelt sich allerdings um einen zweibeinigen Helden der Rennbahn, doch stand dieser in den frühen 1970er Jahren dem vierbeinigen Liebling Lombard sicher um nichts nach, denn Jockey Fritz Drechsler genoss ungeheure Popularität. Die Aufnahmen lassen ahnen, dass sein charmantes Auftreten, sein freundliches Lächeln und seine entspannte Extrovertierheit wohl großen Anteil an dieser Beliebtheit gehabt haben dürften.

Zum Einstimmen bekommt der Zuschauer noch ein früheres Rennen vor dem eigentlichen Hauptereignis geboten, und es kann sich nach Anzahl der teilnehmenden Pferde und Zieleinlauf eigentlich nur um das dritte Rennen der Tageskarte, eine Konkurrenz für die Zweijährigen, handeln. Die teilnehmenden Jockeys huschen blitzschnell durchs Bild, und man erkennt den selbst für einen Jockey sehr klein gewachsenen Erwin Schindler, Peter Alafi und Peter Remmert. Das bekannteste Gesicht trägt aber – für deutsche Augen ganz ungewohnt – den Renndress des Gestüts Röttgen. Es handelt sich um niemand Geringeren als Lester Piggott, der an jenem Tag gleich mehrere Ritte in der bayrischen Landeshauptstadt wahrnahm. Später gelang ihm in den Röttgener Farben auch noch ein Volltreffer mit Sparkler im zweiten Hauptereignis, dem Großen Internationalen Preis der Spielbank Bad Wiessee, doch in der im Film festgehaltenen Zweijährigenprüfung hatte er mit der Entscheidung nichts zu tun. Der von ihm gelenkte Röttgener Stradivari spielte hier noch nicht die erste Geige. Er wurde nur Vorletzter, während Otto Gervai vorne mit einer dreiviertel Länge vor dem Erlenhofer Supervisor einen Heimsieg auf Hubertus Liebrechts Andiamo holte.

Am 7. September 1972 zu Gast in Riem: Lester Piggott

Dann aber wird es Zeit für den Olympia-Preis, und die Vorbereitungen dieses Rennens werden in aller Ausführlichkeit und aus verschiedenen interessanten Blickwinkeln gezeigt. Beeindruckend ist dabei ganz am Rande, wie dicht der Führring vom Publikum umlagert ist. Es wird gesattelt, und ein markanter Fuchs mit vier weißen Beinen, vermutlich der dreijährige Hengst Germanist, trägt mit seinem Zweibeiner eine kurze Meinungsverschiedenheit zum Thema Laufrichtung im Führring aus. Derweil wirkt die vierbeinige Konkurrenz – mal aus der Nähe, mal von weiter entfernt aufgenommen – zwar munter, dreht aber ansonsten sehr fügsam ihre Runden um den Führring, während die natürlich in hellblau-weiße Dirndl gewandeten Hostessen irgendetwas Wichtiges miteinander diskutieren.

Schon vor dem Start, als die Pferde Richtung Geläuf geführt werden, hat die Kamera des unbekannten Rennbahnbesuchers vor allem für ein Pferd Augen. Es ist ein Fuchs, und die Rennfarben lassen es sofort erkennen: Hier kommt einer der beiden Schlenderhaner im Feld. Die Satteldecke mit der Nummer 1 macht auch deutlich, dass es sich nicht etwa um den dreijährigen Schiwago handelt, sondern um seinen zwei Jahre älteren und ungleich berühmteren Stallgefährten Lombard. Natürlich – Lombard! Die breite weiße Blesse machte ihn für die Zeitgenossen leicht erkennbar. Und auch die Menschen der 1970er Jahre hielten offenbar besondere Begegnungen schon gerne im Bild fest. Wo heute schnell das Handy für einen digitalen Schnappschuss gezückt würde, mussten 1972 noch Polaroidkameras ihren Dienst tun. Und so wird der berühmte Lombard auf dem kurzen filmisch festgehaltenen Wegstück hin zum Geläuf gleich dreimal geknipst. Ein Star eben!

Lombard und sein Jockey Fritz Drechsler

Verständlich irgendwie, denn dieses fantastische Rennpferd war 1972 wohl auf dem Zenit seines Könnens angekommen und hatte bis dahin nicht weniger als sechs Siege auf sein Saisonkonto bringen können. Früh – und natürlich bereits siegfertig – war er am 9. April 1972 in Dortmund ins Rennjahr gestartet, um sich dann einen Monat später mit vier Längen Vorsprung den Gerling-Preis zu sichern. Zwei Wochen danach folgte in Düsseldorf ein Gruppe-II-Treffer auf seiner Paradestrecke von 2400 Metern, um dann am Tag vor dem Derby, dem 1. Juli 1972, auch den Hansa-Preis mit einem beeindruckenden Vorsprung von 5½ Längen zu gewinnen. Drei Wochen später siegte Lombard zudem auf Gruppe-I-Ebene in Düsseldorf und lief dann auch in Baden-Baden mit dem Spreti-Rennen davon. Sechs Starts – sechs Siege: Lombard war in jener Saison zu keiner Zeit irgendein Konkurrent bedrohlich geworden. Kein Zweifel – er war vollkommen zu Recht der vierbeinige Star dieses Olympia-Renntags.

Konnte ihn überhaupt ein anderes Pferd gefährden? War Lombard, der zu Odds von 17:10 in klarer Favoritenstellung in die Startboxen einrückte, überhaupt zu schlagen? Am ehesten traute das Münchener Rennbahnpublikum einen solchen Favoritensturz wohl noch einem Pferd zu, das auf dem Weg zum Geläuf hinter dem Schlenderhaner folgte – Tarim war es, der aktuelle Derbysieger des Jahres 1972, der nun erstmals mit dem großen Lombard die Klingen kreuzte. Optisch hätte der schwarzbraune Hengst aus dem Besitz von Ferdi Ostermann seinem zwei Jahre älteren Gegner wohl kaum weniger ähnlich sehen können. Hier der muskulöse Fuchs mit der breiten weißen Blesse, dort der traumhaft schöne, beinahe schwarze und hellwache Hengst in den Farben, die heute für das Gestüt Ittlingen stehen. Es war also alles angerichtet für das große Duell.

Auch in den Filmsequenzen spürt man als Betrachter förmlich die knisternde Spannung und die Neugier des zum Geläuf strömenden Publikums. Aufgalopp – Tarim huscht durchs Bild, und dann wartet alles gebannt auf den Start!

Zweimal passiert das Feld des Olympia-Preises den unbekannten Mann mit der Kamera direkt vor dem Zielspiegel, und gleich beim ersten Mal ist Lombard vorne. So, das lässt sich unter anderem aus den in Buchform festgehaltenen Erinnerungen von Jockey Fritz Drechsler entnehmen, lief und gewann Lombard seine Rennen am liebsten. „Als die Boxen geöffnet wurden, übernahm ich mit dem Hengst sofort die Spitze, forcierte das Tempo und hatte vor den Tribünen meinen Vorsprung auf mehr als zehn Längen ausgebaut“, so schreibt Drechsler auf S. 137 von „So gut waren meine Pferde. Ein Leben zwischen Stall und Rennbahn“.

Jockey Fritz Drechsler

Der Film lässt den Abstand von Lombard zu seinen Verfolgern eher wie fünf, vielleicht sechs Längen aussehen, aber wie dem auch sei: Der Schlenderhaner geht erkennbar gut, während sein vermeintlich größter Konkurrent Tarim, der als Dreijähriger immerhin verlockende fünf Kilo weniger an Gewicht zu schleppen hatte als Lombard, noch irgendwo im Mittelfeld mitläuft. Dann springt der Film rasant und lässt fast den gesamten Rennverlauf aus, um sofort den Zieleinlauf festzuhalten. Und siehe da – Lombard ist weiterhin vorne. Und wie! Tarim greift zwar unter dem energisch reitenden Lester Piggott noch an, aber mühelos kann Lombard sich vorne weiter vom Feld lösen und bringt es im Ziel auf einen überlegenen Vorsprung von drei Längen, während dem frischen Derbysieger nur der zweite Platz vor der französischen Stute Rocaille bleibt.

Es war eine Demonstration sondergleichen – Lombards siebter Saisonsieg bei ebenso vielen Starts und zugleich der Treffer, der seine Gewinnsumme über die damals für ein deutsches Rennpferd noch kaum erreichbare Millionengrenze bugsierte. So schreibt Lombards Jockey Fritz Drechsler dann auch in seinem Buch immer wieder besonders liebevoll und bewundernd über den großen Schlenderhaner. „Alle liebten Lombard“, so lautet das Eröffnungskapitel des Buches, und nicht nur an dieser anrührend geschilderten Begegnung eines reichlich nervösen Jockeys mit seinem Paradepferd in der Nacht vor einem großen Rennen wird deutlich, dass gerade Fritz Drechsler Lombard heiß und innig liebte und verehrte. So bezeichnete er dann auch den Olympia-Preis vom 7. September 1972 als eine seiner schönsten Erinnerungen an die vielen Erfolge, die er im Rennsattel errungen hat, und das veröffentlichte Foto von der Siegerehrung jenes Rennens – angemessen bayrisch mit einem von einem Pferd gekrönten silbernen Riesenhumpen – hat ebenfalls seinen Weg in das Buch gefunden.

Lesenswert! Fritz Drechslers Buch "So gut waren meine Pferde"

Der Olympia-Preis, so viel lässt sich sicher sagen, muss für den Schlenderhaner Stalljockey auf der Rennbahn, auf der seine reiterliche Laufbahn einst begonnen hatte, ein ganz besonderes Erlebnis gewesen sein. Und so sieht man ihn auch im Film strahlen, als sein Pferd nach dem Rennen durch die begeistert klatschende Menschenmenge zurück zum Absattelring geführt wird. Trainer Heinz Jentzsch, unter dessen Obhut Lombard so meisterlich auf seine Renneinsätze vorbereitet wurde, wird dann die Ehre zuteil, den riesenhaften Siegerpreis nach der Siegerkür schleppen zu dürfen. 

Abschließend betreibt der Filmemacher noch ein wenig Prominentenschau und konzentriert sich dabei ganz auf den anderen großen Trainer aus dem Westen Deutschlands, Hein Bollow, der zwar an jenem Tag in München nichts gewann, aber augenscheinlich auch so beste Laune hatte. Und dann war da ja auch noch der Außenminister Walter Scheel, damals häufiger Gast auf den deutschen Rennbahnen, dessen Erscheinen das kurze Filmchen vom Olympia-Preis 1972 beschließt.

Und was wurde aus den vierbeinigen Protagonisten des Renntages in ihrer weiteren Karriere?

Nun, Lombard hatte für die Saison wahrlich genug geleistet. Nach dem Münchener Rennen ging er in die Winterpause und wurde – wie hätte es auch anders sein sollen? – am Jahresende zum zweiten Mal als Galopper des Jahres ausgezeichnet. Auch sechsjährig kam Lombard 1973 wieder an den Start, aber möglicherweise war er über den Zenit seines läuferischen Könnens bereits hinaus, und so folgte zwar auf eine deutliche Niederlage in Frankreich noch ein letzter deutscher Sieg in Düsseldorf, aber die alte Überlegenheit, mit der Lombard vor allem als Fünfjähriger seine Gegnerschaft dominiert hatte, schien nicht mehr abrufbar. Was lag also näher als seine hocherfolgreiche Rennlaufbahn für beendet zu erklären und den Hengst in einem Gestüt aufzustellen?

Wer jedoch erwartet hatte, dass Lombard in Deutschland als Deckhengst wirken würde, sah sich durch die Entscheidung überrascht, das Lieblingspferd so vieler deutscher Rennbahnbesucher nach Großbritannien zu geben, wo er für mehrere Jahre in insgesamt drei verschiedenen Gestüten deckte. Erst 1982 kehrte der inzwischen fünfzehnjährige Lombard wieder nach Deutschland zurück, wurde zunächst im Gestüt Harzburg aufgestellt und fand schließlich wieder den Weg heim nach Schlenderhan, wo er 1967 als Fohlen das Licht der Welt erblickt hatte.

Späte Heimkehr ins Gestüt Schlenderhan

Sein letzter Jahrgang wurde 1988 geboren, doch bereits in den Jahren zuvor waren recht viele der Lombard zugeführten Stuten güst geblieben. Allgemein gelang es Lombard bedauerlicherweise zunächst nicht, sich in der Zucht ebenso eindrucksvoll in Szene zu setzen wie er dies als Rennpferd getan hatte. Anno, Alya, Shepard, Blue Moon, Bonität, Index, Apollonios – sie alle führen Lombard als Vater in ihrem Pedigree und waren auf der Rennbahn überdurchschnittlich talentiert, aber die ganz großen Erfolge blieben ihnen letztlich verwehrt. Doch noch war züchterisch nicht das letzte Wort gesprochen, denn vor allem Lombards Tochter Allegretta legte am Ende Ehre für den Schlenderhaner Hengst ein. Sie fohlte unter anderem Urban Sea, Allez les Trois, Turbaine sowie King’s Best und ist zweite Mutter zu solch herausragenden Pferden wie Galileo und Sea the Stars. In ihnen und ihren Nachkommen steckt also immer noch ein wenig Erbmaterial des 1994 im Alter von 27 Jahren an Herzversagen eingegangenen Lombard.

Lombard im Pedigree: Urban Sea

In der aktuellen Schlenderhaner Zucht hingegen spielt Lombard zumindest im Hinblick auf die Stutenherde nur noch eine untergeordnete Rolle. Atanua ist noch dabei, die bei einem einzigen Rennbahnstart 2009 gleich gewinnen konnte, in der Zucht aber noch nicht zu beurteilen ist. Dann gibt es da noch Tucana als Tochter der Turbaine, die bereits solch talentierte Pferde wie Titurel und Tahini brachte. Vor allem Adlerflug aber als noch junger Deckhengst, dessen Nachkommen bislang keine Rennbahn gesehen haben, führt ebenfalls Lombard im Pedigree. So ganz verschwunden ist „der galoppierende Millionär“ also in der deutschen und internationalen Vollblutzucht zum Glück noch nicht. Und wer ganz aktuell – wenn auch auf einem ganz anderen Niveau als dem, auf welchem dieser sich einst bewegte – einem Lombard-Nachkommen die Daumen drücken möchte, kann sich am Sonntag das letzte Rennen der Bad Harzburger Karte anschauen. Der Stammbaum von Brianna aus dem Stall von Werner Heinz geht mütterlicherseits nämlich ebenfalls auf Lombard zurück.



Und der Unterlegene des Olympia-Preises 1972, der Derbysieger des Jahres 1972? Nun, anders als Lombard entpuppte sich Tarim in der Folge nicht unbedingt als Siegertyp, sondern als Pferd, das in großen Rennen in Deutschland und Frankreich in die Platzierung laufen konnte, jedoch meist ohne dabei eine echte Siegchance zu haben. So blieb der Derbyerfolg sein größter Triumph, ehe er ebenfalls aufgestellt wurde. Seine ersten Fohlen kamen 1975 auf die Welt, doch blieb sein Erfolg in der Zucht geringer als bei Lombard – mit einer berühmten Ausnahme, denn 1985 kam die Tarim-Tochter Britannia auf die Welt, die unter anderem Zweite im Preis der Diana war, aber vor allem das St. Leger und das Oleander-Rennen für sich entscheiden konnte. Außerdem fohlte sie später die großartige Borgia und den Derbysieger Boreal.

Tarim im Pedigree: Borgia

Mein ganz persönlicher Favorit unter den Nachkommen von Tarim war aber ein Pferd, das nicht die vergleichbare Klasse seines Vaters oder dessen berühmtester Kinder hatte, mich dafür aber über viele Jahre hinweg während meiner Kindheit und Jugend auf den Rennbahnen im Ruhrgebiet begleitete: Kai – ein wunderbares Pferd mit einem schlichten Namen, das ich sehr verehrt habe. Manchmal sind es eben die Kleinen, nicht die galoppierenden Millionäre, die es mir, und vermutlich auch anderen Rennbahnbesuchern ganz besonders angetan haben. Nicht immer geht es nämlich nur um Siegesserien, wie sie Lombard einst auf dem grünen Rasen zur Begeisterung des Publikums zelebrierte. Manchmal ist – ganz olympisch – schon Dabeisein eine Menge wert.

Samstag, 9. Juni 2012

Vor zwanzig Jahren: Schwarz-gelbe Farbenblindheit


Achtung – dieser Blogeintrag (der eigentlich schon vor einer Woche fertig war, aber irgendwie vergessen wurde) beginnt ausnahmsweise relativ fußball-lastig. Das wird sich aber rasch ändern, wenn der Galopprennsport wieder im Mittelpunkt steht. Versprochen!

Schwarz und gelb – wer in der ersten Jahreshälfte 2012 in Deutschland diese Farbkombination zu Gesicht bekommt, kann wohl gar nicht anders als an die großartigen Fußballerfolge eines Vereins namens Borussia Dortmund zu denken, dem nicht nur das Kunststück der Meisterschaftswiederholung, sondern zugleich auch das Titeldoppel im Pokalfinale in Berlin gelang. Keine Frage – schwarz-gelb dominiert derzeit das (leider!) so extrem stark auf Fußball konzentrierte deutsche Sportgeschehen nach Belieben.


Vor zwanzig Jahren war dies ein wenig anders: Im Pokal hatte Borussia Dortmund es lediglich bis in die dritte Hauptrunde geschafft und war dann gegen Hannover 96 ausgeschieden. In der Bundesliga hatte es im Verlauf der Saison 1991/92 zwar immer wieder sehr gut für eine Meisterschaft des BVB ausgesehen, doch am Ende war das Spielglück nicht auf ihrer Seite. Dabei war die Entscheidung hauchdünn ausgefallen, denn vor dem letzten Spieltag standen die Dortmunder gemeinsam mit Eintracht Frankfurt und dem späteren Meister VfB Stuttgart punktgleich an der Tabellenspitze. Den Ausschlag gab schließlich lediglich die Tordifferenz, und so fanden sich die Schwarz-Gelben am Ende eben nur auf dem Vize-Platz wieder statt ganz oben an der Spitze.
So kam es also, dass zumindest manche Deutsche, die sportlich nicht nur auf das runde Leder fixiert waren (soll es ja durchaus hier und da geben) und auch noch anderen grünen Rasen kannten als jenen zwischen zwei Toren und vier Eckfahnen, mit der Farbkombination schwarz-gelb andere Sportereignisse verbinden konnten – das Frühjahrsmeeting in Baden-Baden etwa, bei dem das Gestüt Fährhof nämlich vor zwanzig Jahren eine großartige Frühsaison fortsetzte. Siebzehn Siege standen Ende Mai 1992 bereits zu Buche – und in Iffezheim ging es munter weiter. Besonders jene Fährhofer, die vom kürzlich erst verstorbenen Meister im Trainerfach Heinz Jentzsch in Köln vorbereitet und von Andrzej Tylicki geritten wurden, heimsten einen Treffer nach dem anderen ein.
Schwarz-gelbe Glanzzeiten: Heinz Jentzsch und Andrzej Tylicki
Das Meeting damals war etwas später im Jahreskalender terminiert, und während der deutsche Galopprennsport 2012 Anfang Juni bereits mit einem Auge Richtung Union-Rennen schielt, war man vor zwanzig Jahren eben erst aus dem Badischen zurückgekehrt. Und dort war es eben ziemlich schwarz-gelb zugegangen: Asilo, Libano, La Fabiola und Quebrada hießen die Fährhofer Pferde, die im Iffezheimer Fährhof-Frühling 1992 siegreich den Zielpfosten passieren konnten. Sie veranlassten meinen Patenonkel, als er am Ende jener Rennwoche wieder zurück im Ruhrgebiet war und zum nachträglichen Gratulieren für sein frischgebacken erwachsenes Patenkind vorbeikam, zu einem Ausspruch, der mir bis heute im Gedächtnis geblieben ist:
„Jo, die vierbeinigen Schwatt-Gelben können dat wirklich wat besser als die Fußballer. Die sollten mal bei denen Nachhilfe nehmen. War schon erste Sahne – nur der Bekloppte wollte halt nicht.“
Tja, Duisburger Charme, wie er leibt und lebt, leicht erklärt durch die Tatsache, dass mein Patenonkel ein lebenslanges Zebra war. Wer wie er fast in Hörweite des Wedau-Stadions wohnte, konnte ja gar nicht anders. Aber eigentlich war ihm Fußball ziemlich egal, so lange er nur ausgiebig über seine geliebten Pferderennen „philosophieren“ konnte. Genau das tat er dann auch intensiv und wie üblich kaum zu bremsend, um mich auf unserer kleinen Nachfeier über all das zu informieren, was ich während des Frühjahrsmeetings verpasst hatte. Anno 1992 war das wie bereits erwähnt eine ausgesprochen schwarz-gelbe Angelegenheit gewesen – so schwarz-gelb, dass selbst mein Patenonkel, dessen rennsportliche Vorlieben eigentlich ganz woanders lagen, nicht umhin konnte begeistert zu sein.


„Ich bin mal ausnahmsweise farbenblind“, so verkündete er mit einem Augenzwinkern.
Und so berichtete er in einem kaum zu stoppenden schwarz-gelben Redeschwall von Asilo, der sich als heißer Favorit im Pergolese-Rennen durchgesetzt und dabei l(leider!) „unseren“ Templer geschlagen hatte, von Libanos Auftaktsieg am Dienstag des Meetings – ein Pferd, das ihn spontan begeistert hatte und dem er später, auch wenn es mit der spekulativen Derbyteilnahme nichts wurde, über Jahre hinweg durch manche Höhen und Tiefen seiner Karriere bis auf die Jagdbahn in Gelsenkirchen die Treue hielt. Libano lockte ihn auch bei schlechtestem Wetter hinaus auf die Rennbahn, selbst als er schon längst kein Fährhofer mehr war.
Die negativen Erlebnisse jener Rennwoche im Frühjahr 1992, an deren Spitze der furchtbar tragische Tod des Amateurs Hans Strompen stand, blendete er keineswegs aus. Das hatte meinen Patenonkel sehr mitgenommen, wie ich merkte, als er mit zitternder Stimme davon berichtete. Verunglückte Jockeys – das waren für ihn ganz schlimme Ereignisse, vor allem dann, wenn sie solch schwerwiegende Konsequenzen hatten wie damals in Baden-Baden. Fast schien es als habe mein Onkel anschließend ganz bewusst nach den kleinen und großen Höhepunkten gesucht, um wieder Freude an seinem Galoppsport empfinden zu können, dem er damals bereits seit rund drei Jahrzehnten treu war – eine wohl nur zu menschliche Reaktion.
Neben dem Treffer des später zu einem wahren Seriensieger avancierten Fantomas – damals noch in einem harmlosen Ausgleich IV unterwegs – waren es eben vor allem die schwarz-gelben Fährhofer gewesen, die diese Höhepunkte für ihn bestimmten. Lafabiola gewann zum Beispiel im Festa-Rennen, und die hatte er auch gewettet. An diese Stute, die in Baden-Baden ihr Saisondebüt absolvierte, konnte ich mich auch erinnern, weil sie im Vorjahr als Zweijährige in Mülheim gewonnen hatte. Damals hatte mein Onkel mir lange und ziemlich verwirrende Vorträge über die verflochtenen Pfade der Fährhofer L-Familie gehalten, die mir leichtes Ohrensausen verursacht hatten. Offenbar hatte er sie im Auge behalten und mit seiner Einschätzung richtig gelegen.
Das Highlight aus Fährhofer Perspektive hatte jedoch der abschließende Sonntag der Rennwoche gebracht, wenn auch vielleicht nicht ganz so wie erwartet. „Schuld“ daran hatte – wie mein Onkel grinsend unterstrich – der „Bekloppte“. Ja, Lomitas… den nannte er in seiner ganz besonders liebevollen Art immer so. Lomitas mochte er einfach nicht, aus einer intensiven und ziemlich irrationalen Antipathie heraus. Warum? Schwer zu erklären… Er fand ihn zu kompliziert und zu anstrengend, geniales Rennpferd hin oder her. Und seiner Meinung nach hatte Lomitas am letzten Tag des Frühjahrsmeetings 1992 wie bei seinen Startboxeneskapaden als Dreijähriger erneut demonstriert, warum er meinen Onkel nicht zu seinen zugegebenermaßen zahlreichen Fans zählen durfte. Lomitas wird es nicht gestört haben, denn er hatte ja jede Menge anderer Verehrer, deren Liebe zu diesem Pferd natürlich auch durch die Iffezheimer Niederlage nicht erschüttert wurde.

Lomitas vs. Startmaschine
Schaut man in den Jahresrennkalender für das Jahr 1992, ist aber auch zwanzig Jahre später noch die heftige Wehmut über die rüde Entzauberung des großen Lomitas, der selbstredend als haushoher 13:10-Favorit in die Startmsachine einrückte, mit Händen greifbar. Wobei… er sollte einrücken, was ja bei Lomitas immer so eine Geschichte für sich war. Eigentlich schien seine intensive Aversion, die im Vorjahr für manch eine bange Minute und auch ordentliche Enttäuschung bei den Lomitas-Fans gesorgt hatte, damals dank Monty Roberts Intervention ausgestanden. 

Lomitas und Monty Roberts
Eigentlich… Glaubt man den Erinnerungen meines Onkels, dann war der Fährhofer Star aber am 31. Mai 1992 schon im Führring nass und äußerst unwirsch gewesen. Lange habe es so ausgesehen als wolle er sich nicht einmal in die Nähe der Startmaschine begeben. „Völlig durch den Wind – bekloppt eben“, urteilte mein Patenonkel unbarmherzig.


So lief Lomitas dann allerdings auch und wurde prompt geschlagen. Die zweite Niederlage seines Lebens war es erst, nachdem ihn ja im Derby des Vorjahres vollkommen überraschend ein gewisser Temporal bezwungen hatte. Ähnlich groß war auch die Sensation, die sich in Baden-Baden abspielte, als der vermeintlich unbesiegbare Lomitas ausgerechnet von Hondo Mondo mit über einer Länge abgehängt wurde. Hondo wer? Nun, der Hengst aus dem Mülheimer Quartier von Uwe Ostmann war zwar ein richtig nettes Pferd, das immer wieder einmal für Platzierungen in der Grand-Prix-Klasse gut war, aber unter normalen Umständen hätte er niemals vor dem galoppierenden Idol so vieler deutscher Rennbahnbesucher sein dürfen, die Lomitas einfach nur vergötterten.

Traumpferd und Rennbahn-Idol Lomitas
War er aber… und zwar deutlich!
Der Kurzbericht im Jahresrennkalender sprach reichlich melodramatisch von „Weltuntergangsstimmung“, nachdem der „Mythos der Unbesiegbarkeit als Illusion entlarvt“ worden war. Dann wurde noch rasch ein einigermaßen überzogener Vergleich zu einer Boxniederlage von Muhammad Ali bemüht. Mein Onkel sah das anders, denn für ihn war Lomitas ja, wie bereits erwähnt, einfach nur „bekloppt“. „Kopfsache“, so meinte Simon Stokes, der den Fährhofer Hengst wohl mit am besten kannte, anschließend ernüchtert und wählte damit etwas freundlichere Worte, die aber eigentlich in die gleiche Richtung gingen.
In der Tat war dieses ernüchternde Laufen von Lomitas in Baden-Baden schon beinahe der Auftakt zum Ende einer großen und immer intensiv diskutierten Rennlaufbahn, die ohne diese „Kopfsache“ vielleicht noch viel spektakulärer ausgefallen wäre. Einmal noch konnte Lomitas in jener Saison im Hamburger Hansa-Preis durch sein eigentliches Können brillieren, als er unter Höchstgewicht von satten 61 Kilo locker mit vier Längen den Sieg nach Hause galoppierte – eine Demonstration sondergleichen von einem Pferd, das an diesem Tag offenbar den Kopf frei hatte und definitiv nicht „bekloppt“ war. Dass Lomitas bei seinem nächsten Start eine solch eindrucksvolle Rehabilitation gelingen würde, konnte natürlich am Ende des Frühjahrsmeetings noch niemand ahnen, und so hinterließ seine Schlappe gegen Hondo Mondo zunächst einmal reichlich Ratlosigkeit.
Was der Fährhofer Hengst im weiteren Verlauf der Saison noch so alles erleben würde, als lange geheim gehaltene Drohungen eines Erpressers eintrafen, der seine Ankündigung, er werde Lomitas vergiften, im Sommer offenbar wahr machte und so mutmaßlich das dramatische Versagen des Pferdes im Deutschland-Preis verursachte, mutet noch heute auf eine traurige Art und Weise wie ein Dick-Francis-Krimi an. Noch mysteriöser wurde diese Geschichte, als der Hengst zunächst spurlos verschwand, um deutlich später nach unzähligen Gerüchten und Spekulationen, die ich nur mit ungläubigem Kopfschütteln verfolgen konnte, wieder in den USA aufzutauchen, wo er nach längerer Rekonvaleszenz den wesentlich weniger erfolgreichen zweiten Teil seiner aktiven Rennlaufbahn absolvierte. Ende Mai 1992 hätte man sich eine solch dramatische Entwicklung wohl nicht einmal in den wildesten Fantasien ausgemalt, und doch gehört sie mit zu Lomitas‘ ausgesprochen bunter und rätselhafter Biographie. Nach Deutschland kehrte Lomitas jedenfalls erst später, und dann als Deckhengst zurück.


In dieser neuen Karriere wirkte er ausgesprochen erfolgreich, wenn man allein an solch hervorragende Pferde wie Silvano, Belenus, Sanagas, Sumitas, Liquido oder – ohne jeden Anspruch auf Vollständigkeit – Silvaner denkt. 

Unter vielen Guten der Beste? Lomitas-Sohn Silvano
Und spätestens mit einer eher unscheinbaren, aber ganz sicher nicht „bekloppten“ Stute namens Danedream hat der leider 2010 im Alter von 22 Jahren an den Folgen einer Kolik eingegangene Lomitas seine Leistung als Deckhengst posthum gekrönt. Inzwischen wirken auch bereits eine Reihe seiner Söhne und Töchter selbst in der Zucht und können z.B. wie die Lomitas-Töchter Serenata durch Santiago und Sordino, Imelda durch It’s Gino und Zaza Top durch Zazou oder der Lomitas-Sohn Silvano durch Nachkommen wie Proudinsky, Mi Emma, Fair Breeze Bold Silvano auf bemerkenswerte Erfolge verweisen. Lomitas wird durch die Vollblutzucht in seinen Kindern und Kindeskindern sicher noch lange weiterleben.

Lomitas' Erbin - Danedream, frisch geschlüpft
Im Frühsommer 1992 am letzten Tag der Iffezheimer Rennwoche war dies noch Zukunftsmusik. Und so musste die unerwartete Niederlage, die Lomitas gegen Hondo Mondo hinnehmen musste, die Fährhofer Freudenstimmung trüben. Ob es da trösten konnte, dass ein anderes schwarz-gelbes Pferd die Kohlen aus dem Feuer holte, das sowohl meinen Onkel als auch mich in der Folgezeit richtig begeistern sollte? Es handelte sich um die erste Zweijährigensiegerin der noch jungen Saison, die zweijährige Stute Quebrada, die mit fünf Längen Vorsprung den Badener Jugend-Preis gewann. Es muss eine grandiose Vorstellung gewesen sein – vielleicht so ähnlich wie der lockere Erfolg einer gewissen Zazera im gleichen Rennen zwanzig Jahre später. Quebrada brachte meinen Onkel ganz untypisch ins Schwärmen, und spätestens nachdem ich sie im Herbst jenen Jahres bei ihrem Doppeltreffer in der Mülheimer Young Ladies Series – also nach ihren Siegen im Berberis-Rennen und im Preis der Winterkönigin – zweimal live am Raffelberg erlebt hatte, war ich da ganz seiner Meinung.
Wir waren uns sicher, dass wir in Quebrada die künftige Diana-Siegerin entdeckt hatten, zumal ihr ja die Rennbahn direkt vor meiner Haustür gut zu liegen schien. Als sie dann vor etwas mehr als neunzehn Jahren am 3. Juni 1993, in Düsseldorf die 1000 Guineas gewann, schien die Sache endgültig klar. Aber wie das manchmal auf der Rennbahn so ist – im entscheidenden Moment langte es dann doch nicht für den vollen Treffer, und so fand Quebrada, deren Sache vielleicht die Steherdistanz nicht ganz war, am Ende in Mülheim doch eine Bezwingerin in der Ebbesloher Stute Arkona. Aber auch diese Erkenntnis, dass man eben nicht immer ganz vorne sein kann, lag ja im Frühsommer 1992 noch weit in der Zukunft. Zunächst einmal steckten die begeisterten Erzählungen von Quebrada und Co. mich an.
Eigenartig war es allerdings schon, meinen sonst so hellblau-weißen Patenonkel derart enthusiastisch von schwarz-gelben Pferden schwärmen zu hören. Und genau dies habe ich ihm auch gesagt.
„Naja,“ meinte er. „Fair ist fair – die haben einen Lauf. Und darum machen wir jetzt ganz farbenblind eine schwarz-gelbe Wette.“
„Ja? Auf wen?“
„Naja, nächste Woche –Preis der Diana.“
„Auf Longa, meinst du?“
Ja, genau die meinte mein Onkel – die Zweite in der Winterkönigin des vergangenen Jahres, nur Fünfte allerdings in den 1000 Guineas, doch dann, gestern vor zwanzig Jahren, auf unserem Mülheimer Raffelberg passend zu den allgemeinen Fährhofer Frühsommerfeierlichkeiten ganz vorn. Manchmal ist eben bewusst farbenblindes Verhalten gegen den Trend sonstiger Sympathien und Vorlieben der Schlüssel zum Erfolg. 

Zwanzig Jahre nach Lomitas, Quebrada und Co.: Secessio siegt in Baden-Baden
Übrigens: Auch wenn das diesjährige Frühjahrsmeeting in Iffezheim, bei dem das Gestüt Fährhof durch Dr. Andreas Jacobs ja ohnehin allgegenwärtig präsent ist, nicht ganz so hocherfolgreich verlaufen sein mag wie damals vor zwanzig Jahren, so gab es doch auch 2012 eine schwarz-gelbe Siegerehrung zu beklatschen, als Secessio das Derby Trial für sich entschied. Wer weiß... 


Und wenn man an die stetig neuen Hoffnungen und Träume denkt, die die Vollblutzucht und der Galopprennsport so mit sich bringen, sollte auch erwähnt sein, dass es da aus dem letzten Jahrgang der von Lomitas gezeugten Nachkommen eine derzeit noch namenlose Stute auf dem Fährhof gibt. Ihre Mutter? Eine gewisse Quebrada... Wie gesagt: Wer weiß... 

Sonntag, 6. Mai 2012

Vor zehn Jahren: Have another Mint Julep on War Emblem?


Es war einmal vor zehn Jahren


Mit dem heutigen Bericht bewege ich mich für meine Verhältnisse ziemlich weit über meine üblichen Interessensgrenzen hinaus, denn ich bin einfach sehr stark auf den deutschen Galopprennsport fokussiert. Das hat möglicherweise mit meiner frühkindlichen Prägung als Ruhrgebietspflanze und Patenkind eines Rennsportfreundes zu tun, für den bereits die jährlichen Meetings in Hamburg und die Große Woche in Iffezheim große Reisen bedeuteten…

Das Geschehen im Rest Europas interessiert mich allerdings seit einigen Jahren schon deutlich mehr, aber zu behaupten, dass ich von der amerikanischen Rennsportszene gesteigerte Ahnung hätte, wäre wirklich extrem übertrieben. Was dort, im Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten, geschieht, bekomme ich normalerweise eher am Rande (wenn überhaupt) mit. Manches, was dort üblich ist, betrachte ich in ziemlich negativem oder zumindest skeptischem Licht. Und dennoch bin ich heute Nacht lange wach geblieben, um mir ein absolutes Highlight des US-Rennsportkalenders im Livestream anzusehen – das Kentucky Derby.

Auslosung der Startboxen in Kentucky - nicht mit Hein Bollow

Um zu erklären, wie es zu dieser freiwilligen Nachtwache kam, muss ich aber ein wenig ausholen und gleichzeitig in nostalgischen Erinnerungen an die Zeit damals vor zehn Jahren schwelgen, die zunächst einmal rein gar nichts mit dem Galopprennsport zu tun hatten, mich dann aber doch ganz unverhofft dazu brachten, mein erstes (und bis dato auch einziges) Kentucky Derby so zu zelebrieren wie es eben viele Amerikaner tun. Aber der Reihe nach…

Vor zehn Jahren schrieben wir das Jahr 2002, und ich befand mich mitten im Referendariat für den Schuldienst in NRW. So langsam kam das zweite Staatsexamen immer näher, und die ständige Mischung aus sehr hoher Arbeitsbelastung, permanenter Selbst- und Fremdhinterfragung sowie chronischem Schlafmangel (in anderen Worten: vollkommen normal im Referendariat) hatten bei mir zu einer sehr starken, einseitigen Fixierung auf alles Schulische und die Aufgabe praktisch sämtlicher Hobbys und Freizeit geführt (auch das leider kein unübliches Phänomen). So hatte ich 2001 auch die Zahl meiner Rennbahnbesuche im Vergleich zu den Vorjahren deutlich eingeschränkt und habe auf dem grünen Rasen einige Dinge verpasst. Irgendwie hatte ich nur noch Schule und Lehrerinwerden im Kopf.

Eines Tages früh im Jahre 2002 sprach mich meine Seminarleitung überraschend auf dem Gang an und meinte, ob ich denn schon etwas geplant hätte für den obligatorischen Auslandsaufenthalt, den ich im Rahmen meiner Zusatzausbildung für den Einsatz an bilingualen Zweigen absolvieren müsste. Äh… bitte was?

Ich war zunächst einmal ziemlich konsterniert. Dass ich davon noch nichts gehört hatte, war nicht besonders verwunderlich, denn es gab diese Regel, die das Kultusministerium meines Heimatbundeslandes in seiner unermesslichen Güte spontan vom Himmel hatte fallen lassen, um sie für die folgenden Jahrgänge prompt wieder aufzuweichen, erst seit einem knappen Monat. Mir als einziger betroffener bilingualer Referendarin an meinem Seminar hatte man natürlich nichts davon gesagt. Warum auch? Nicht dass ich den Sinn und gleichzeitig den Reiz eines solchen längeren Auslandsaufenthaltes in einem (für meine Zwecke) englischsprachigen Land nicht eingesehen hätte, aber mitten im Referendariat? So plötzlich? Und logischerweise ohne irgendwelche finanzielle oder logistische Unterstützung?

Sagen wir so: Es war eine ziemliche Herausforderung, die vorgeschriebenen zwei Monate irgendwie selbstständig zu organisieren, aber letztlich kam ich so ganz unverhofft in den Genuss einer Erfahrung, an die ich mich bis heute äußerst positiv und mit viel Dankbarkeit erinnere, denn durch die großzügige Hilfe und enorme Gastfreundschaft vieler verschiedener Menschen auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans wurde es eine unvergessliche, enorm bereichernde Zeit.

Atlanta, Georgia in den USA - anno 2002 mein Praktikumszuhause für zwei Monate 

Möglich war dies alles nur dadurch, dass meine Ausbildungsschule hier im Ruhrgebiet eine Partnerschaft mit einer High School in Atlanta, Georgia hatte. Der dorthin zaghaft aufgenommene Kontakt brachte mich bald in einen immer angeregteren E-Mail-Austausch mit Elizabeth, der Leiterin des dortigen Social Studies Departments, die mir auf Anhieb ungeheuer sympathisch war. Obwohl sie mich ja gar nicht kannte, warf Elizabeth sich voll in die Vorbereitung meines Aufenthalts an ihrer Schule, half mir mit Formularen und administrativen Anträgen, und fand für mich vier Gastfamilien, die mich jeweils für zwei Wochen meiner Zeit in Atlanta betreuen würden. Man stelle sich so etwas an einer deutschen Schule vor… unglaublich, eigentlich! Es musste sogar eine Art Casting veranstaltet werden, da sich etwa vierfach so viele mögliche Gastfamilien für den „visiting student teacher from Germany“ gemeldet hatten wie überhaupt benötigt wurden!

In der zweiten Märzwoche ging es dann los über den großen Teich. Noch heute kann ich nur schwärmen von den vielen, vielen positiven Erfahrungen, die ich in den kommenden knapp neun Wochen in Atlanta gemacht habe. Viel gelernt, viel gesehen, viel erfahren – eine ganz intensive Zeit, und das verdanke ich neben der ausgesprochen warmherzigen Elizabeth und den oft fantastischen jungen Amerikanern, die ich an „meiner“ High School kennen lernen durfte, besonders meinen Gastfamilien. Jede davon war auf ihre ganz eigene Art völlig individuell und überhaupt nicht so stereotyp wie uns Fernseh-Sitcoms weismachen wollen, und vor allem haben sie mich alle mit offenen Armen aufgenommen und in kürzester Zeit in ihr ganz normales Familienleben integriert.

Merkt man, dass ich auch heute, immerhin zehn Jahre später, noch vollkommen begeistert bin?

Ja?

Dann ist es ja gut.

Es wurden also zwei fantastische Monate, aber was ich in meiner letzten Woche in Atlanta erlebt habe, schlug alles bis dahin Geschehene noch einmal um Längen – und so langsam kommt nun auch wieder der Galopprennsport ins Spiel.

Gastfamilie Nummer 4 war nämlich an und für sich gar nicht aus Atlanta, sondern nur der Arbeit wegen zugezogen. Sie stammte aus einer New Yorker Familie und arbeitete kunst- und bewegungstherapeutisch mit mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen, er war Steuerfachanwalt und stammte aus Kentucky. Ja, genau… aus Kentucky – gleich sind wir wieder bei den Pferden. Als ich nämlich das erste Mal in das Haus meiner letzten Gastfamilie trat (man stelle sich in etwa eine Wohngegend wie die Wisteria Lane aus der Fernsehserie „Desperate Housewives“ vor), fiel mein Blick sofort auf ein riesiges Gemälde mit einer packenden Rennsportszene. Das Bild hatte die Herrin des Hauses, wie ich später erfuhr, selbst gemalt, und es zog mich logischerweise sofort in seinen Bann.

So ähnlich, ganz im Stil der Wisteria Lane, sah es aus, das Zuhause von Gastfamilie Nr. 4

Beim ersten gemeinsamen Abendessen, einer relaxten Grillrunde rund um den kleinen Pool im Garten hinter dem Haus, kamen wir angeregt durch das Gemälde auch auf das Thema Galopprennsport zu sprechen. Wie sich herausstellte, hatte mein Gastvater seiner Liebsten auf der Rennbahn von Churchill Downs (allerdings quasi menschenleer im Rahmen eines Picknicks drei Tage vor dem großen Derby Day) einst den Hochzeitsantrag gemacht. Er selbst war als Kind jedes Jahr mit seinem Großvater beim Run for the Roses gewesen und schwärmte von all den Pferden, die er dort live erlebt hatte: Northern Dancer und Secretariat, das waren zumindest zwei Namen, mit denen ich etwas anfangen konnte. Auch seine Frau und die beiden damals im Grund- und Mittelschulalter befindlichen Kinder hatten sich bei ihm mit der Begeisterung für das Kentucky Derby angesteckt, und so erfuhr ich bald, dass die inzwischen 128. Austragung des großen Rennens gar nicht mehr weit entfernt lag.

Auch ein netter Ort für einen Heiratsantrag: Die Rennbahn Churchill Downs
Dieser Abend mit Gastfamilie Nr. 4 war ein prima Auftakt zu den zwei abschließenden Wochen meines Atlanta-Aufenthalts, der ja auch vorher alles andere als unangenehm gewesen war. Wir haben nicht nur (aber immer wieder!) über Rennsport miteinander gesprochen, und sie hatten tatsächlich ernsthaftes Interesse am deutschen Galoppgeschehen, kramten sogar einen Atlas hervor, um nachzusehen, wo Hamburg liegt, also der Ort, an dem unser Derby traditionell gelaufen wird, und ließen sich von mir von einigen deutschen Turf-Helden namens Acatenango, Orofino, Lando und Co. erzählen. Den Namen Lomitas kannten sie sogar, vor allem, weil die Tochter des Hauses Monty Roberts sehr verehrte. Und der gesamten Familie war anzumerken, dass sich das Thema Galopprennsport auch in der Exil-Heimat Atlanta immer wieder durch den Alltag zog.

Tja, und dann offenbarten sie mir am Anfang meiner letzten Woche in Amerika, dass sie mich eigentlich gerne behalten würden , aber wenn ich schon wieder nach Hause müsse, zumindest eine schöne Abschiedsparty für mich machen wollten. Vor überraschter Rührung konnte ich gar nicht richtig antworten, und es wurde noch besser, als mir meine Gastmutter erklärte, es solle eine typisch amerikanische Nachbarschaftsparty werden, zu der jeder Gast etwas beiträgt, denn sie wollten alle einladen, mit denen ich während meiner zwei Monate in ihrem Land engeren Kontakt gehabt habe. Und als Motto hatten sie an „Derby Day“ gedacht. Wie ich das finden würde…

Na, wie wohl?

Was für eine großartige Idee!

Ich war begeistert und half gerne, wenn auch recht wehmütig wegen des bevorstehenden Abschieds von diesen lieben Menschen, bei den Vorbereitungen mit, die aber typisch amerikanisch sehr entspannt und in guter Stimmung abliefen. Von den Kindern des Hauses lernte ich Melodie und Text der Hymne „My Old Kentucky Home“, bis ich beides zumindest mitsingen konnte. Meine Gastmutter weihte mich in die Zubereitung des traditionellen Getränks Mint Julep (inklusive der alkoholfreien Variante für die zahlreich erwarteten Kinder) ein, wir bereiteten Snacks vor, stellten Liegestühle rund um den Pool und Plastikstühle sowie einen Pavillon in den Garten und kauften allerhand Dekomaterial für einen Hutdekorationswettbewerb. Rosensträuße dienten als Dekoration, die meisten davon aus dem eigenen Garten. Auf den ebenfalls traditionellen Eintopf Burgoo wurde dann doch verzichtet, weil es am Tag der Party in Atlanta wieder einmal sehr heiß wurde, aber Burger und Steaks wollte der Hausherr mit seinem Sohn grillen, und er verriet mir mit einem Augenzwinkern, dass die sowieso leckerer seien als Burgoo.

Muss beim Kentucky Derby sein: Mint Julep

Irgendwann zwischendurch wurde auch das Starterfeld des Derby-Rennens studiert, denn es sollte ja den in Amerika üblichen Derby Pool unter allen Anwesenden geben, ehe der Start erfolgte. Mir sagten die Namen logischerweise alle nichts, aber meine Gastfamilie geriet in heftige Diskussionen über die Abstammung, Vorleistungen und allgemeinen Chancen aller möglichen Kandidaten, die darauf hinausliefen, dass jeder Gast eine gewisse Anzahl Jelly Beans beim Eintreffen bekommen würde, mit denen dann Pferde statt mit echtem Geld ersteigert werden konnten.

Und dann war der große Tag da – erster Samstag im Mai, der Tag nach meinem ziemlich tränenreichen Abschied von den tollen Klassen meiner High School auf Zeit. Es war morgens schon sommerlich warm, also warf ich mich ebenso wie meine Gastmutter und -schwester in ein leichtes Kleid und Sandalen und half bei den letzten Vorbereitungen, ehe dann die Gäste für die Kentucky Derby and Farewell Party eintrafen. Und alle kamen… meine übrigen drei Gastfamilien mit Kindern und dem einen oder anderen Großelternteil, die Nachbarn, einige der Lehrer, bei denen ich hospitiert und eigene Unterrichtsversuche absolviert hatte, der Priester der katholischen Gemeinde, in der ich mit Gastfamilie Nr. 2 öfter gewesen war, aber auch der Rabbi von Gastfamilie Nr. 3, meine Betreuerin Elizabeth, die netten Nachbarn… Das Kentucky-Derby-Fieber hatte sie alle erfasst. Insgesamt werden es wohl um die fünfzig Gäste gewesen sein, unter denen viele Kinder waren.

Es war eine ganz und gar ungezwungene Atmosphäre, denn jeder hatte etwas fürs Büffet mitgebracht (und alles, aber auch wirklich alles war lecker!), Getränke gab es reichlich, wer wollte, sprang einfach in den Pool, alle Gäste unterhielten sich angeregt miteinander, auch wenn sie sich vor meinem Praktikum gar nicht gekannt hatten, der Barbecue-Grill lief auf Hochtouren, Hutwettbewerb und Derby-Pool waren ein voller Erfolg. Allerdings waren die Jelly Beans verschwunden (vermutlich von einem Kind gegessen), also wurde die geplante Versteigerung kurzerhand in eine Verlosung umfunktioniert. Niemand nahm das Missgeschick krumm, und es wurde viel gelacht, vor allem als ich meinen blind von der Liste gewählten Wunschkandidaten namens Saarland tatsächlich bekam. Irgendwie musste ich ja ein wenig Lokalpatriotismus zeigen, und wenn da schon ein deutsches Bundesland in Kentucky mitlief… Das Schicksal schien es so zu wollen.

Der Sohn von Gastfamilie Nr. 1 erloste mindestens so ahnungslos in Sachen amerikanischer Rennsport wie ich ein Pferd namens War Emblem und versuchte zwei Stunden lang, seinen Vierbeiner mit demjenigen seiner Schwester zu tauschen, aber die hatte Medaglia d’Oro, einen Vorabfavoriten, erwischt und gab ihn logischerweise nicht mehr her, zumal ihr Vater ihr verraten hatte, dass der Name auf Italienisch „Goldmedaille“ hieß. Da konnte das Pferd ja nur gewinnen… dachte sie.

Medaglia d'Oro - nicht der Sieger, aber später immerhin Vater einer gewissen Rachel Alexandra

Schließlich rückte, während es im weit entfernten Deutschland schon wieder Nacht war, die Startzeit heran, und der Pool lag vollkommen verlassen im Sonnenlicht, der Grill war verwaist und dafür das Wohnzimmer der Gastfamilie rappelvoll, denn alle hatten sich vor dem (zum Glück großen) Fernseher versammelt. Kinder im Schneidersitz auf dem Boden, Erwachsene auf, neben und hinter dem XXL-Sofa, und alle sprangen auf, als „My Old Kentucky Home“ gespielt wurde. Natürlich wurde mitgesungen, und es stellte sich heraus, dass auch in den anderen Familien geübt worden war. Diese Atmosphäre verschaffte mir einen winzigen, aber nachhaltigen Eindruck davon, wie die Stimmung wohl am Ort des Geschehens in Churchill Downs selbst sein mochte, und Gastvater Nr. 4 versprach seinen Kindern spontan, eine alte Familientradition aufleben zu lassen. „Next year I am taking you all there.“ Tochter und Sohn nickten zustimmend und starrten weiter gebannt auf den Fernseher.

„Aaaaannnd they’re off!“



Ich muss gestehen, dass ich einen großen Teil der ersten Hälfte des Rennens mit der Orientierung im Feld und dem Suchen nach den Rennfarben meines Pferdes Saarland (lange Zeit Vorletzter, später eher unspektakulär auf dem zehnten Platz im Ziel) verbracht habe. Erst recht spät fand meine Aufmerksamkeit den Führenden War Emblem, was aber vor allem an Sohn von Gastfamilie Nr. 1 lag, der direkt vor mir auf dem Teppich saß und unkontrollierte herumwibbelte, als er entdeckte, dass er den Spitzenreiter gezogen hatte. Und der machte – anders als Bodemeister in der 138. Austragung des Kentucky Derbys gestern Nacht, keine Anstalten, einem heraneilenden Angreifer zu weichen, denn er legte, als es in die Zielgerade ging, immer und immer wieder neu zu, so dass er mit sehr komfortablem Abstand vor Proud Citizen (nicht zu verwechseln mit dem kürzlich in Frankfurt erfolgreichen deutschen Namensvetter) und Perfect Drift gewann.

War Emblem gewinnt die 128. Austragung des Kentucky Derby

Um mich herum herrschten damals in Atlanta begeisterter Jubel und aufgeregtes Quietschen, man fiel sich in die Arme, dem ziemlich konsternierten Sohn von Gastfamilie Nr. 1 wurde mindestens so enthusiastisch zu seinem Losglück gratuliert als hätte er selbst, und nicht Jockey Victor Espinoza War Emblem zum Erfolg geritten. Das alles war einfach nur ansteckend in seiner Hingabe an die gute Laune und das Mitfeiern eines nationalen Sportereignisses mit langer, ehrwürdiger Tradition. Ich habe mich gerne mitreißen lassen, und so endete die Party an jenem 128. Kentucky Derby Day erst ziemlich spät am Abend, als die ersten Kinder schon längst erschöpft auf irgendwelchen Sesseln oder in den Armen ihrer Eltern eingeschlafen waren.

Es war also ein Abschluss für ein wider Erwarten fantastisches Auslandspraktikum, der so ziemlich alles übertraf, was ich bis dahin an gemeinsamem Feiern miterlebt hatte. Am folgenden Montag reiste ich wieder zurück nach Deutschland, um mich an die letzte Etappe meines Referendariats zu machen, aber diese Kentucky Derby and Farewell Party habe ich logischerweise nie vergessen. Auch zu einigen der damals anwesenden Amerikaner habe ich – sozialen Netzwerken sei Dank! – nach wie vor regelmäßigen Kontakt, so auch zur Mutter des mit dem Los von War Emblem beglückten Sohnes von Gastfamilie Nr. 1. Inzwischen wohnt die Familie, nachdem die Kinder im College sind, nicht mehr in Atlanta, aber ein wenig scheint der Rennsport diese Frau immer noch gepackt zu haben, denn sie schrieb mit gestern Nachmittag, während ich in Mülheim auf der (im Vergleich zu Kentucky natürlich arg trostlosen und menschenleeren) Rennbahn war, dass sie in ihrem Office Derby Pool (was es in den USA alles gibt… kann sich jemand das in Deutschfussballland vorstellen?) ein Pferd namens I’ll Have Another gezogen habe.

I'll Have Another - Sieger in Kentucky 2102

Sie spekulierte, dass damit wohl der Mint Julep gemeint sein müsse, den sie abends zur Feier des Derby Day und in Erinnerung an unsere tolle Feier damals in Atlanta trinken werde. Hausgemacht, natürlich… Ihrer Meinung nach müsse ja eigentlich Bodemeister gewinnen, ein Pferd, bei dem sie immer an mich denken müsse, weil sein Name so deutsch klinge. Im Chat haben wir noch ein wenig über dieses und jenes getratscht, wie es den Kindern so geht hauptsächlich, und als ich feststellte, dass es schon relativ spät war, habe ich mich spontan entschlossen, für das Derby-Rennen wach zu bleiben. Und anschließend konnte ich ja dann gleich gratulieren, denn wieder einmal hat diese amerikanische Familie Losglück gehabt. 



I’ll Have Another sprintete auf der Schlussgeraden noch am lange führenden Bodemeister vorbei, und schon einige Längen vor dem Ziel war klar, dass er, geritten von einem bis dato ziemlichen Jockey-Nobody namens Mario Gutierrez, zu einem spektakulären Triumph unterwegs war. So ganz nebenbei… Gutierrez ist Sohn eines Jockeys, in Mexiko geboren, ritt dort seit er vierzehn Jahre alt war Quarter Horses und emigrierte 2006 nach Kanada, wo er zwar recht erfolgreich war. Aber ein Star der amerikanischen Jockeyszene zu werden – dass ihm das so rasch gelingen würde wie durch die Siege mit I’ll Have Another im Santa Anita Derby und gestern Nacht in Kentucky, das hätte er sich vermutlich kaum träumen lassen. Wer weiß, vielleicht wird der Kentucky Derby Winner dieses Jahres ja später einmal ganz am Anfang einer großen Jockey-Karriere stehen, die für den bei seinem Interview nach dem Ziel sehr sympathischen Mario Gutierrez einen ganz persönlichen American Dream wahr macht.

Überaus sympathische Sieger: Mario Gutierrez und I'll Have Another

Ein Sieg in den Preakness Stakes, wie er I’ll Have Anothers Vorgänger War Emblem vor zehn Jahren im Anschluss an das Kentucky Derby gelang, würde da sicher helfen, doch noch ist das – ebenso wie das mögliche Erlangen der begehrten Triple Crown mit den Belmont Stakes – absolute Zukunftsmusik. Die Triple Crown hat sich War Emblem, den ich damals nach dem Zieleinlauf in Churchill Downs, als die Kameras ihn in Großaufnahme über alle Fernsehschirme in den USA flimmern ließen, unglaublich schön fand, übrigens auch nicht sichern können. Nach einem verkorksten Start und einem wenig optimalen Rennverlauf hatte er gegen Sarava aus dem Stall von Bob Baffert keine Chance.

Ende 2002 beendete War Emblem seine Rennbahnkarriere und wurde nach Japan in die Zucht der Shadai Stallion Station verkauft. Dieses riesige Gestüt ist uns ja in Deutschland durch die aktuellen Verkäufe zahlreicher sehr guter Pferde an Teruya Joshida keineswegs unbekannt. War Emblem kostete seinerzeit bescheidene 17 Millionen Dollar, wogegen der Erwerb von fünfzig Prozent an unserer gegenwärtigen deutschen Stargalopperin Danedream vor deren Arc-Triumph und die Nachnennungsgebühr von 100.000 Euro vermutlich eher Schnäppchen gewesen sein dürften. Im Vergleich zu dieser gewaltigen Summe hat der Sieger des Kentucky Derby seinen japanischen Besitzern bereits jede Menge Kopfzerbrechen bereitet, denn seiner geplanten Aufgabe, dem Decken von teuren Vollblutstuten, geht er offenbar wenn überhaupt nur mit extrem gebremster Begeisterung nach. An einer Lösung dieses für einen Deckhengst ja geradezu katastrophalen Problems wird weiterhin gearbeitet, doch ob die Erfolge in der Bedeckungsquote, die sich zuletzt wieder einstellten, von Dauer sein werden, kann nur die Zeit zeigen.

Bis der Sieger von gestern, I’ll Have Another, möglicherweise später einmal in eine solche Stellung als Deckhengst gelangt, werden noch einige Zeit und hoffentlich weitere Rennerfolge vergehen. Für den Moment darf gefeiert werden, so wie man es in den USA sicher nicht nur in Atlanta tut: mit ordentlich Mint Julep.



Na dann: Cheers!