Montag, 17. Oktober 2011

Vor 41 Jahren: Favoritin für den Winter

Seit gestern Nachmittag steht fest, welcher Zweijährige mit dem ebenso ehren- wie hoffnungsvollen Titel des Winterfavoriten 2011 (hoffentlich gut!) überwintern darf. Tai Chi hat das große Rennen in Köln-Weidenpesch gewonnen und damit zumindest mich doch einigermaßen überrascht. Aber ein würdiger Sieger ist er dennoch, und mit seinem Erfolg setzt er eine lange Serie fort, denn seit über dreißig Jahren wurde diese wichtige Prüfung für den Rennbahn-Nachwuchs stets von einem Hengst gewonnen. Bis ins Jahr 1980 muss man zurückgehen, um mit der Röttgenerin Anna Paola eine Winterfavoritin statt eines Winterfavoriten zu finden. Und wiederum genau zehn Jahre vor dieser Stute, die im folgenden Jahr immerhin den Preis der Diana gewinnen konnte, hatte es bereits schon einmal eine Winterfavoritin in den traditionellen Röttgener Rennfarben gegeben. Ihre Geschichte, die am 17. Oktober 1970 einen Höhepunkt erreichte, habe ich vor einem Jahr bereits aufgeschrieben. Hier folgt die leicht überarbeitete Version:


Es war einmal vor 41 Jahren

Sie war eine kleine Hübsche mit einer interessant geformten, langen Blesse, eine, die auf den erhaltenen Schwarz-Weiß-Bildern mit augenscheinlicher Begeisterung und viel Engagement galoppiert und dabei weit die Ohren spreizt… und sie hatte einen äußerst amüsanten Namen: Widschi.

Winterfavoritin Widschi auf dem Weg zum Sieg 
Am 17. Oktober 1970, gewann Widschi für ihr Heimatgestüt Röttgen das Rennen, das gestern Nachmittag wieder in Köln ausgetragen wurde, und avancierte zur… nun ja, zur Winterfavoritin, einer Ehre, die nur wenigen zweijährigen Stuten bislang zuteil wurde. Üblicherweise geben nämlich die Hengste in dieser hochrangigen Traditionsprüfung für zweijährige Hoffnungsträger den Ton an. Auch im Jahre 2011 war das nicht anders, denn es kam überhaupt keine Stute an den Start. Seit Widschis Sieg hat es ihr auch erst eine Geschlechtsgenossin gleichgetan, nämlich Anna Paola, ebenfalls eine Röttgenerin, die das Rennen 1980 gewinnen konnte.

Mit ihrem Kölner Sieg, der gegen den späteren Derby-Sieger Lauscher und den Hengst Naipur (im folgenden Jahr Vierter im Derby) ausgesprochen komfortabel ausfiel, trat die kleine Widschi zudem in die Fußstapfen ihres Vaters Dschingis Khan, der 1963 bereits zum Winterfavoriten avanciert war. Mitte der Geraden, so vermerkt es das Album des Rennsports, hatte sich eine Lücke aufgetan, Widschi – gesteuert von keinem Geringeren als dem großen französischen Jockeyidol jener Tage Yves Saint-Martin – hatte sie genutzt und war dem Feld rasch enteilt. 

Röttgen - Heimat von Widschi, Anna Paola und vieler anderer ausgezeichneter Rennpferde
Und dabei war die Siegerin, die im Absattelring von der in einen kostbaren Pelz gehüllten Maria Mehl-Mülhens liebevoll gestreichelt wurde, eigentlich gar nicht die große Hoffnung des Gestüts für die Zweijährigensaison gewesen. Diese Rolle kam einem Hengst namens Guardi zu, der auch nicht enttäuscht hatte, aber kurz vor dem Winterfavoriten wegen eines warmen Beins im Stall bleiben musste. So musste eben Widschi in die Bresche springen und bekam dann auch den französischen Star-Jockey in den Sattel gehoben.

Widschis Reiter Jockey-Idol Yves Saint-Martin, hier im Sattel von Allez France
Die Stute hatte zu jenem Zeitpunkt bereits eine recht ambitionierte Saison hinter sich gebracht, obwohl sie erst am 21. Mai 1968, und damit vergleichsweise spät im Jahr, das Licht der Welt erblickt hatte. Sie war so früh wie überhaupt nur möglich für eine Zweijährige, nämlich im Versuchsrennen der Stuten im Juni 1970 in Köln, debütiert, hatte gleich gewonnen und sich auch bereits das renommierte Sierstorpff-Rennen in Dortmund und das Horster Criterium an die Fahnen geheftet. Einzig im Ratibor-Rennen hatte sie sich nicht platzieren können, und im Preis der Winterkönigin fehlte ihr lediglich eine Halslänge, um diesen beeindruckenden Resultaten noch einen weiteren Sieg hinzuzufügen. Der Start im Preis des Winterfavoriten bedeutete so aber für die Zweijährige bereits den sechsten (!) Rennbahnauftritt. Da kann nicht einmal der Winterfavorit des Jahres 2011 Tai Chi, der es immerhin auf fünf Rennen brachte, von denen er vier gewinnen konnte, konkurrieren.

Zu viel, zu früh? Darüber kann man natürlich höchstens spekulieren. Nach dem Preis des Winterfavoriten bezog Widschi jedenfalls Winterquartier und meldete sich gleich beim folgenden Rennen am 23. Mai 1971 in Gelsenkirchen-Horst mit einem erneuten Sieg zurück. Die Stute, nunmehr klassische Siegerin, denn dieses Rennen war keine geringere Konkurrenz als das Henckel-Rennen gewesen, hatte offenbar nichts verlernt. Ihr beträchtlicher Anhang konnte also weiterhin größte Hoffnungen auf die Dreijährigen-Saison der Röttgenerin hegen. Von Guardi, ihrem Stallgefährten, der noch deutlich besser gewesen sein soll als sie, sprach man 1971 nicht mehr.

Allerdings war auch Widschi nach ihrem triumphalen Jahresdebüt kein Rennbahn-Glück mehr beschieden. Im Gegenteil… Sie war plötzlich immer wieder krank und fieberte, so dass zwei geplante Starts auf höchster Ebene im Union-Rennen und im Preis der Diana abgesagt werden mussten.

Erst im Deutschen Derby am 4. Juli 1971 bekam das Rennbahnpublikum Widschi wieder zu Gesicht, und ihre Stellung als zweite Totofavoritin hinter dem Union-Sieger Florino mit 48:10 verdeutlicht das große Vertrauen, dass die Wetter trotz der vergleichsweise langen Pause in die fantastische Stute setzten.


Derbysiegerin wurde Widschi jedoch nicht. Diese Ehre ging an Lauscher, den sie bereits im Preis des Winterfavoriten geschlagen hatte. Die Stute kam, nachdem sie sich beim Start den Kopf gestoßen und verspätet abgesprungen war, weit hinter dem Sieger ins Ziel, hatte aber noch eine große Aufholjagd gestartet, so dass sie sich immerhin auf den zwölften Platz im Siebzehnerfeld vorkämpfte. Das aber war wohl zu viel für sie gewesen, denn unmittelbar nach dem Zieleinlauf ereignete sich im Horner Bogen ein dramatischer Zwischenfall, als Widschi urplötzlich wie ein Stein zu Boden ging. Das heftig bewegte Publikum, das den Vorfall aus nächster Nähe beobachten konnte, musste denken, dass die Stute tot war, denn sie bewegte sich zunächst lange nicht und gab auch keine Lebenszeichen von sich. Für zusätzliche Entrüstung sorgte noch die Tatsache, dass in all der Aufregung nach dem gerade erst entschiedenen Derby der Tierarzt lange auf sich warten ließ, ehe er sich um Widschi kümmern konnte.

Schließlich – und zur unendlichen Erleichterung der vielen besorgten Zuschauer – stand Widschi doch wieder auf und ließ sich führen. Dennoch dauerte es sehr lange, bis sie wieder gesund wurde. Eine Rennbahn hat die Röttgenerin anschließend nicht mehr betreten können, und so betitelte das Album des Rennsports Widschi auch als „Klasse-Stute ohne Glück“. Diese Charakterisierung blieb ihr leider auch in ihrer wenig erfolgreichen Zucht-Karriere i n ihrem Heimatgestüt treu. Widschi, in deren mütterlicher Linie sich so erfolgreiche Rennpferde wie Woge, Wicht und Waldcanter finden, brachte es nur auf eine Handvoll Fohlen, von denen keines auch nur entfernt an ihre Glanztaten auf der Rennbahn anknüpfen konnte.

Auf der Rennbahn aber, damals vor einundvierzig Jahren, war sie die Größte gewesen!




Sonntag, 16. Oktober 2011

Vor 45 Jahren: Benzolring mit Aminogruppe mal drei

Umzugsbedingt hatte dieser Blog eine Weile lang Pause, aber nachdem nun auch die Küche montiert ist und fast (!) alle Kartons ausgeräumt sind, kann es hier munter weitergehen. In der Zwischenzeit hat Danedream als frische Arc-Siegerin die deutsche Galopperwelt begeistert und zumindest ein wenig für mehr Medienpräsenz unseres tollen Sports gesorgt.

Wenn eins der wichtigsten Rennen eines Landes – oder gar das allerwichtigste überhaupt wie im aktuellen Fall des Prix de l’Arc de Triomphe 2011 – von einem ausländischen Gast „entführt“ wird, können die Reaktionen der Einheimischen schon einmal eher verhalten ausfallen. Meistens haben sie sich ja doch den Sieg eines ihrer „eigenen“ Pferde gewünscht. Dies ist wohl nur natürlich – und doch gibt es unter solchen weitgereisten Vierbeinern dann auch manchmal derart große Stars, dass ihre Herkunft an Bedeutung verliert und es ihnen gelingt, auch das heimische Publikum zu begeistern.

Um dieses Ziel zu erreichen, sind Siege in Serie natürlich ein besonders geeigneter Weg. In Deutschland demonstrierte dies wie kaum ein anderes Rennpferd vor immerhin über vierzig Jahren ein Gast, der sogar mehrfach eine besonders weite Anreise hinter sich bringen musste, um zu gewinnen… und zu gewinnen… und zu gewinnen.


Es war einmal... vor 45 Jahren

Er war (nicht unbedingt sehr poetisch) nach einem Benzolring mit einer Aminogruppe benannt, doch das Kölner Publikum störte sich wenig daran, denn in den Jahren 1965 bis 1967 gelang diesem Pferd namens Anilin im damals noch sehr jungen, aber äußerst ambitionierten Weidenpescher Prestige-Rennen, dem 1963 ins Leben gerufenen Preis von Europa, ein lupenreiner Hattrick. Und wenn nicht schon seine exotische Herkunft den in seiner Heimat Russland und den umliegenden Ländern des Ostblocks ungeschlagenen Hengst für die Kölner zu etwas Besonderem gemacht hätte, so tat dies spätestens seine Weltenbummler-Tour, die den 1961 geborenen Anilin außer nach Köln unter anderem auch noch nach Paris und Washington D.C. führte. Und das mitten im Kalten Krieg…

Anilin als Chemie-Piktogramm... Da ziehe ich doch die vierbeinige Variante deutlich vor!
Anilin scheinen mögliche politische Hintergründe seiner Auftritte auf westlichen Rennbahnen jedoch nicht großartig gekümmert zu haben, denn fast überall, wo er im Westen antrat, konnte er ähnlich wie in seiner Heimat überzeugen. Wen wundert es, dass er für die Sowjetunion zu einem vierbeinigen Werbeträger wurde, der außer stattlichen Geldpreisen in begehrten Devisen nebenbei auch noch etwas für den Ruhm des Landes tun sollte?

Eins der wenigen verfügbaren Bilder des vierbeinigen Anilin


Wer genau nun hinter den gerade in den Sechzigern regelmäßig erfolgenden Expeditionen sowjetischer Pferde ins westliche Ausland steckte, ist aus den Quellen nicht ganz eindeutig zu ermitteln – ebenso wie der Trainer, der letztlich für die lukrativen Treffer von Anilin verantwortlich war. Mal ist von einem Leiter des staatseigenen Vollblutkollektivs namens Rogalewitsch die Rede, dann wieder von Staatstrainer Pjotr Parischew. Der Rennkalender des Jahres 1965 vermerkt als Trainer einen Herrn namens W. Schimschirt, während in den beiden folgenden Jahren der siegreiche Jockey Nikolai Nassibow auch zugleich an der Stelle des Trainers angegeben ist. 
Geniales Gespann: Nikolai Nassibow und Anilin
Fest steht allerdings offenbar, dass die Verantwortlichen der sowjetischen Vollblutzucht Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger Jahre intensiv in die Leistungsverbesserung ihrer vierbeinigen Stars investierten. Geradezu wissenschaftlich muten die Schilderungen eines scheinbar detailliert informierten SPIEGEL-Journalisten an, der die verschiedenen Strategien schildert, die eingesetzt wurden, um am Ende Pferde zu züchten und zu trainieren, die nicht nur im Westen konkurrenzfähig waren, sondern bei ihren Ausflügen durchaus auch einmal der „kapitalistischen“ Konkurrenz die Hufe zeigen konnten.


So eben wie Anilin… Die Kölner Rennbahn war dem Hengst ebenso wie seinem Reiter Nikolai Nassibow (in deutschen Artikeln gerne malerisch stereotyp als „pockennarbiger Georgier“ bezeichnet“) bereits bekannt, denn im Vorjahr hatte der damals Dreijährige dort bereits das über 1800 Meter führende Robert-Pferdmenges-Rennen gewinnen können. Zweiter war damals übrigens ein weiteres sowejtisches Pferd namens Grafolog gewesen – erst fünf Längen dahinter hatte sich mit Novalis der beste deutsche Vertreter platzieren können.

Man kannte die Gäste aus dem Ostblock also durchaus, und auch wenn es nun am 17. Oktober 1965 um eine 600 Meter längere Strecke ging, traute man ihnen offenbar alles zu. Ob die Tatsache, dass Anilin zwei Wochen zuvor im Prix de l’Arc de Triomphe gar nicht einmal schlecht gelaufen war, hier eine Rolle spielte? 

Es muss wohl so gewesen sein, denn anders lässt sich die enorme Favoritenstellung des Gespanns Anilin-Nassibow vor dem Start des Rennens kaum erklären. Obwohl mit Opponent immerhin der erste Sieger im Preis von Europa am Start war, obwohl der Ravensberger Waidwerk, der Zoppenbroicher Kronzeuge oder Mercurius ja wahrlich keine schlechten Pferde waren, avancierten die russischen Gäste nämlich zu sagenhaften 10:10-Favoriten in einem Feld, das ansonsten durch die Bank dreistellig am Toto stand. Die Zahl der Menschen, die sich nach dem Zieleinlauf zum fröhlichen Geldwechseln an die Auszahlkassen begeben durften, muss enorm gewesen sein, denn Anilin erfüllte ihre Hoffnungen mit einem überlegenen Vier-Längen-Sieg vor Kronzeuge und dem französischen Gast Lagopede.

Im folgenden Jahr trat Anilin also als Titelverteidiger in Köln an. Diesmal jedoch war seine Favoritenstellung am Toto – in der damals noch existierenden Stallwette kombiniert mit dem anderen sowjetischen Starter Anschlag – mit 30:10 weniger exponiert. Auch dem deutschen Hengst Bandit und vor allem dem französischen Gast Carvin traute das Publikum an diesem unangenehm regnerischen Oktobertag auf durchgeweichtem Boden etwas zu. Ganz Unrecht sollten die Wetter mit ihrer vergleichsweise vorsichtigeren Haltung gegenüber einer möglichen Titelverteidigung von Anilin am Ende nicht gehabt haben, denn er gewann zwar, doch es wurde ungeheuer knapp. 

Ein britisches Pathé-Newsreel, das als echtes Archivschätzchen erhalten geblieben ist, zeigt den Ablauf des Rennens.


Da ist der vor Kraft strotzende Anilin mit seiner unverwechselbaren breiten Blesse zu sehen, der gleich nach dem damals noch mit Bändern erfolgten Start in der Spitzengruppe galoppiert, sich danach an der Spitze das Rennen selbst macht, um im Zielbogen aus guter Lage davon zu streben. Dass Jockey Nassibow dabei offenbar so etwas Ähnliches wie ein durchsichtiges Plastik-Regencape über seinem Dress trägt, das munter im Wind flattert, gehört zu den Kuriositäten am Rande dieses sehenswerten, leider aber stummen Filmchens.

Wenige Bilder später zieht Anilin in der Bahnmitte auf dem einem umgepflügten Acker gleichen Geläuf scheinbar unwiderstehlich davon. Es scheint eine Demonstration seiner überlegenen Klasse zu werden, bis... huch! Wenige Meter vor dem Zielspiegel taucht noch ein weiteres Pferd außen an de Rails auf und holt in flotten Sprüngen Meter um Meter auf: Salvo, ein Gast aus England mit Jockey Joe Mercer im Sattel!

Joe Mercer - nach dem Kölner Rennen wohl weniger zufrieden als hier
Sollte die Wende gegen den zunächst so überlegen wirkenden Anilin doch noch zu schaffen sein?

Für das trotz aller Regenschirme ordentlich durchfeuchtete Kölner Publikum muss diese Aufholjagd enorm spannend gewesen sein, denn ganz zuletzt, in dem Moment, in dem die beiden Paare das Ziel erreichten, schienen Salvo und Mercer es tatsächlich geschafft zu haben. Knapp vorbei an Anilin, auf den allerletzten Drücker!

Oder doch nicht?

Das Resultat ist bekannt: doch nicht. Gewonnen hatten Anilin und Nikolai Nassibow und damit erfolgreich ihren Titel aus dem Vorjahr verteidigt.

Oder… oder etwa doch nicht?

Die englischen Gäste jedenfalls protestierten, denn Joe Mercer war sich sicher, genau am Zielspiegel vorne gewesen zu sein. Hatte ihn sein Gespür etwa getrogen?



Zum intensiv diskutierten Streitobjekt wurde schließlich das Zielfoto, denn auf diesem fehlte, weil die Spur ganz außen an den Rails wegen der Position, in der die Kamera angebracht war, nicht erfasst wurde, Salvo ganz einfach. Auch das Negativ half nicht wirklich weiter, da vielleicht der Spiegel wegen des nasskalten Wetters beschlagen gewesen war oder sich die gesamte Aufholjagd gleich in einem toten Winkel abgespielt hatte. Ein ziemlicher Skandal eigentlich – und zu Recht damals heftig diskutiert, auch wenn die genauen Hintergründe von Anilins zweitem Sieg im Preis von Europa heute schon fast im Nebel der Geschichte entschwunden zu sein scheinen.



Salvo, der möglicherweise schnöde um den Sieg gebrachte Zweite, hielt sich im kommenden Jahr schadlos, als er in Baden-Baden den Großen Preis gewann, doch wird dies nur ein mäßiger Trost für die Beteiligten gewesen sein, die sich sicher waren,, dass sie Anilin eigentlich eine Niederlage beigebracht hatten. Das Ergebnis blieb jedoch trotz aller Diskussionen unverändert – Glück für Anilin und sein Kollektiv, und so bekam der vierbeinige „Klassenfeind“ schließlich sogar Möhrchen und tätschelndes Lob aus der Hand keines Geringeren als Bundespräsident Lübke. Und das mitten im Kalten Krieg…

Aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei, und so kamen Anilin und Nassibow auch 1967 wieder an die Stätte ihres doppelten Erfolgs zurück. Diesmal wurden sie gleich von zwei Lands"pferden" namens Aktasch und Dagmar begleitet, doch waren diese eher schmückendes Beiwerk, als Anilin die deutsche und internationale Konkurrenz regelrecht demontierte und selbst dem großen deutschen Helden Luciano, Sieger im Derby, im Aral-Pokal und im St. Leger, nicht den Hauch einer Chance ließ. Vier Längen waren es, die der sowjetische Vorzeigegalopper seinem deutschen 15:10-Konkurrenten aus dem Stall von Trainer Sven von Mitzlaff am Ende abnahm – und das mit 6,5 Kilo mehr an Gewicht im Sattel. Was für ein Pferd!

Drei Treffer im Preis von Europa – das ist seither keinem anderen Galopper mehr gelungen, und so ist Anilin mit seinem Jockey Nikolai Nassibow zu Recht in die Annalen des deutschen Galopprennsports eingegangen. An diese spektakulären Erfolge konnten die späteren sowjetischen Expeditionen in den Westen nie wieder anknüpfen, obwohl sie es bis in die Neunziger Jahre hinein immer wieder versuchten. Anilin blieb eben ein Ausnahmepferd.

Zeit verging, und Nachrichten über das weitere Schicksal des Dreifach-Siegers von Köln waren angesichts des politischen Klimas rar. Er ging in seiner Heimat  in die Zucht, wo er nicht nur bei den Vollblütern, sondern z.B. auch bei den Trakehnern seine Spuren hinterließ.

Anilin-Spuren in der Trakehnerzucht

Indirekt war der offenbar um 1975 eingegangene Anilin Anfang der Achtziger Jahre in einen Beinahe-Skandal verwickelt, als herauskam, das einer seiner Nachkommen namens Gasolit, der wie sein berühmter Vater eine Einladung für den Preis von Europa 1981 erhalten hatte, offenbar nicht das Produkt eines wie in der Vollblutzucht vorgeschriebenen Natursprungs sein konnte. Da war wohl bei Gasolits Zeugung 1977 schon seit einiger Zeit tiefgefrorener Anilin-Samen im Spiel gewesen, und so lud man in Köln Gasolit unzeremoniell wieder aus. Der SPIEGEL, nie verlegen um drastische Wortwahl, sprach damals süffisant von den „ehrpusseligen Vollblutkreisen in Deutschland“, die an der scheinbar nicht länger zeitgemäßen Tradition des Natursprungs festhielten.

Auch der Große Preis von Europa 2011 hat mit dem fantastischen Campanologist einen ausländischen Gast als Sieger gesehen, der sogar noch weiter in der Welt herumgekommen ist als seinerzeit Anilin. 

Campanologist - auch 2011 ein Gästeerfolg im Preis von Europa
Auch er scheint die Kölner Bahn zu mögen, hat er doch hier bereits zwei Gruppe-I-Treffer an sich bringen können. Ob er es Anilin aber eines Tages im Hinblick auf den Preis von Europa-Hattrick gleichtun können wird, ist eher fraglich, denn Campanologist ist schließlich bereits sechs Jahre alt. Und dennoch – manchmal sind es bei allem notwendigen Lokalpatriotismus gerade die Gäste von anderswo, die uns besonders zu begeistern vermögen. Man muss eben auch gönnen können!

Donnerstag, 1. September 2011

Vor vierzig Jahren: Fundstück

Umzüge bringen es ja so mit sich, dass einem beim Einpacken und Ausmisten manchmal interessante Besitztümer in die Hände fallen, deren Existenz man schon beinahe vergessen hatte. So ging es mir in der vergangenen Woche beim Ausräumen meiner nicht gerade schwach bestückten Bücherregale ebenfalls, als ich einen Stapel alter Rennprogramme aus Hamburg und Baden-Baden fand. Die insgesamt acht Hefte stammen aus dem Jahr 1971, sind also genau vierzig Jahre alt, und gehen auf eine Zufallsentdeckung bei einem bekannten Online-Auktionshaus zurück. Spontan hatte das Angebot vor einer Weile meine Neugier geweckt, so dass ich das Mindestgebot abgab und einfach abwartete. Scheinbar teilte damals niemand mein Interesse an den Programmen, so dass es dabei auch nach sieben Tagen noch blieb - und drei, zwei eins, waren die Hefte meins! 


Bei der anschließenden Kontaktaufnahme mit dem Verkäufer stellte sich heraus, dass er nichts mit der Post verschicken musste, weil unsere Arbeitsstätten nur fünf Kilometer voneinander entfernt lagen. Ich fuhr also nach Schulschluss bei ihm vorbei, überreichte grinsend den Euro und kam in den Genuss eines sehr netten Gesprächs mit einem freundlichen Zeitgenossen. Er selbst konnte zwar mit Galopprennsport - und folglich auch mit den alten Programmen - gar nichts anfangen, aber er erzählte mir von seinem kürzlich verstorbenen Großvater, aus dessen Besitz das Heftkonvolut stammte. Der war offenbar ein begeisterter Rennbahngänger gewesen, der früher auch regelmäßig zu den großen Meetings fuhr und die Hefte akribisch sammelte. Überrascht war der Enkel davon, dass sich ein Mensch etwa seines Alters für diese Druckerzeugnisse interessierte, denn er hatte gedacht, Pferderennen seien nur etwas für ältere Männer wie seinen Opa. Da konnte ich ihn allerdings vom Gegenteil überzeugen...


Und weil es gerade so schön in den Kalender passt, weil ich außerdem morgen selbst nach Baden-Baden fahre (*freu*), und weil ich die alten Programmhefte gleichzeitig schön und wegen ihres Alters stellenweise amüsant skurril finde, habe ich mir das Exemplar herausgesucht, das heute vor exakt vierzig Jahren, also am 31. August 1971, in Iffezheim verkauft und benutzt wurde, um eine kleine Reise zurück in die Vergangenheit zu unternehmen.


Es war einmal vor vierzig Jahren...


An jenem letzten Tag des Monats August 1971 war Willy Brandt deutscher Bundeskanzler, während in der DDR Erich Honecker erst vor kurzer Zeit Walter Ulbricht an der Spitze der Macht abgelöst hatte. Mitten im Kalten Krieg bestimmten US-Präsident Richard Nixon und auf Seiten der Sowjetunion Leonid Breschnew die Geschicke der Weltpolitik, während einige Golfstaaten wie Katar und Bahrain gerade dabei waren ihre Unabhängigkeit zu verwirklichen. Was die Bundesbürger bewegte, mag ganz unterschiedlicher Natur gewesen sein - vielleicht war es das aktuell verabschiedete und typische deutsche Substantiv-Monster Bundesausbildungsförderungsgesetz, abgekürzt BAFöG, oder der Bundesligaskandal, der der Deutschen liebsten Sport mächtig in Verruf brachte. Mangos und Kiwis würden die Westdeutschen jedenfalls erst Ende September jenes Jahres kennen lernen, und auch sonst wird das Warenangebot deutlich eingeschränkter gewesen sein als in unserer heutigen globalisierten Konsumgesellschaft.


Was es aber schon damals gab, waren die traditionsreichen Rennen in Baden-Baden - und passend zu diesem Ereignis auch ein Programmheft in einem warmen Orangeton, das zum Preis von 1,- DM erworben werden konnte. Der Großvater meines Auktionspartners hatte ein solches Heft erstanden und es im Verlauf des Renntags, des dritten innerhalb der gesamten Meetingswoche, per Kugelschreiber gewissenhaft mit Notizen und Zusatzinformationen gefüllt. So kann man sich heute, vierzig Jahre später, noch ein genaueres Bild von den Ereignissen jenes Nachmittags auf der Iffezheimer Rennbahn machen, der ganz ohne PMU um 14.00 Uhr begann. Weich war der Boden offenbar, und insgesamt standen neun Rennen auf der Karte, deren Titel auch heute noch gelegentlich als Namensgeber dienen. Der Yburg-Ausgleich und der Preis des Casinos Baden-Baden sind jedenfalls nicht völlig aus der Mode gekommen.


Wo es heute im Hinblick auf Nachwuchsförderung oft mit einem Ponyrennen losgeht, stand damals zu Anfang der Tageskarte ein so genanntes Lehrlingsreiten. Die ganz große Karriere hat keiner der immerhin dreizehn am Start versammelten Nachwuchsmänner später gemacht, auch wenn uns der eine oder andere Name heute noch als (Besitzer-)Trainer vertraut ist. Für einen jungen Mann namens Volker Griebel brachte dieses Rennen im Sattel des von Hein Bollow trainierten vierjährigen Wallachs Beständer eine Sternstunde, gewann er doch eines der beiden überhaupt von ihm in seiner nur zwei Jahre währenden aktiven Zeit siegreich gestalteten Rennen. Knapp war der Ausgang zudem, denn der ursprüngliche Besitzer des Heftes notierte mit seinem Kugelschreiber auch den Richterspruch "kk" und die Zeit des Rennens, nämlich 2:23,8 min für 2200 Meter.


Nur eine halbe Stunde später stand das zweite Rennen an, und hier war Volker Griebel wieder im Einsatz, erneut für Hein Bollow auf der Stute Zeremonie. Diese hatte das Höchstgewicht von 63 Kilo zu schleppen und profitierte so sicherlich von den fünf Kilo Gewichtserlaubnis des jungen Reiters, der sie immerhin auf einen dritten Platz brachte. Heute betreibt Volker Griebel einen Reiterhof aus der Nordsee-Insel Neuwerk. Den Sieg in dieser Konkurrenz machten aber zwei der ganz großen Jockeynamen jener Zeit unter sich aus, nämlich Fritz Drechsler, der Mylene Zweiter wurde, und Peter Remmert, der ebenfalls mit dem enormen Gewicht von 63,5 Kilo das Siegerpferd My King steuerte. 


Die Wartezeit zum dritten Rennen konnte das Publikum durch Betrachten einer Handtaschenwerbung überbrücken, ehe im Preis der Jährlingsauktion die Zweijährigen zum Einsatz kamen. Prinzess Didi war ebenso dabei wie Pferde mit so schönen Namen wie Blume, Freddy, Werkmeister oder passend zu Baden-Baden Kurprinz. Und dann gab es da noch Garzer, einen der guten Flieger jener Zeit. An jenem Tag wurde er nur Vierter hinter Missouri, Werkmeister und Prinzess Didi, doch später entwickelte sich Garzer zu einer Art Baden-Baden-Spezialist und erzielte dort Siege und schöne Platzierungen u.a. in der Goldenen Peitsche, im Benazet-Rennen und im Oettingen-Rennen. 


Amüsant mutet aus heutiger Sicht die Werbung für modernste Spezial-Fahrzeuge einer bekannten Kölner Pferdespedition an, die noch einmal unterstreicht, wie sehr sich alltägliche Dinge wie Autos in den letzten vierzig Jahren verändert haben.


Als viertes Rennen folgte der Preis des Casino Baden-Baden, in dem durch den Heftbesitzer zwei Nichtstarter brav durchgestrichen wurden: Weder Wichtig, trainiert von Heinz Jentzsch, noch Who's Who aus dem Röttgener Stall von Theo Grieper rückten in die Startboxen ein. Am Ende gewann hier das Leichtgewicht Federgeist, das Peter Remmert - um erstaunliche elfeinhalb Kilo Blei in den Satteltaschen erleichtert - bereits den zweiten Tagessieg bescherte. Wieder war es nur ein knapper Erfolg, denn an der ersten Stelle des Richterspruchs stand die Abkürzung "Kopf".


Inzwischen war mit dem fünften Rennen der Tageskarte die Hälfte der Veranstaltung erreicht, und Peter Remmerts jüngerer Bruder Harro setzte die Siegesserie der Remmerts fort, indem er mit dem Ostermann-Hengst Bärensohn als Erster die Ziellinie passierte.


Nun war es Zeit für den Rennbahnbesucher, einmal seine Gewinne und Verluste zu überschlagen, und genau dies tat der Heftbesitzer in einer für Notizen reservierten Spalte mit dem erfreulichen Resultat, dass er erstaunliche 407,00,- DM Gewinn gemacht hatte. Das darf wohl als erfolgreicher Renntag gewertet werden. 


Zwei Abteilungen hatte der Yburg-Ausgleich, eines jener typischen Baden-Baden-Handicaps der Kategorie Ausgleich IV, in dem sich offenbar damals wie heute die Starter drängelten. Beide Felder waren bestens gefüllt, und in der ersten Abteilung war es erneut ein Leichtgewicht namens Tupelo mit Horst Horwart im Sattel, das das Rennen machte, während in der zweiten Abteilung Jaspis mit Helmut Straubinger den Sieg nach München holte.


Da sich der Renntag langsam dem Ende zuneigte, wurde auch die Werbung im Programmheft immer interessanter, und so konnte der geneigte Leser per Flüsterpropaganda erfahren, dass Kapseln namens "Geriatric" nicht nur die Widerstandskraft stärkten und die Leistungsfähigkeit steigerten, sondern den Einnehmenden bis ins hohe Alter immer fest im Sattel hielten. Gut zu wissen...


Im letzten Flachrennen der Tageskarte war das Gestüt Röttgen am Zug, denn hier gewann Königin Winnica den Ausgleich III mit Peter Kienzler im Sattel. Und schließlich folgte noch das heimliche Highlight für viele regelmäßige Iffezheim-Besucher, das tägliche Jagdrennen, das allerdings nicht über den Berg führte. Gewissenhaft vermerkte der Heftkäufer, dass Mondsee reiterlos wurde und sowohl Le Sagittaire als auch Papi's Pet gefallen waren, ehe das Höchstgewicht Hemingway unter dem Amateur Jean-Hugues de Chevigny gewann.


Und damit war Schluss für den dritten Renntag. Drei weitere Renntage warteten in jenem Jahr noch auf die Meetingsbesucher der Großen Woche, die erst am Sonntag, den 5. September 1971 ihren Höhepunkt erreichte, als Cortez unter Ossi Langner für das Gestüt Zoppenbroich den Großen Preis von Baden gewann. 


Vielleicht sollte ich ja auch mal die Rennprogramme so sorgfältig mit Notizen füllen und dann aufheben, die ich ab morgen in Iffezheim erstehen werde. Wer weiß, welche Geschichten sie in vierzig Jahren erzählen können...    

Samstag, 27. August 2011

Olejnik auf Gänseblümchen

Mitten hinein in die Umzugspause dieses Blogs verbreitete sich vor vier Tagen über alle Medien hinweg in Windeseile die sehr traurige Nachricht vom Tod eines Mannes, der in Deutschland einen weit höheren Bekanntheitsgrad erreicht hatte als so manch ein Politiker oder vermeintlicher Prominenter. Vielleicht waren ja gerade eine gewisse vornehme Zurückhaltung und sein hintersinniger, augenzwinkernder, aber niemals laut polternder oder persönlich verletzender Humor, die Gründe dafür, dass die Meldung, Vicco von Bülow (alias Loriot) sei am 22. August 2011 im Alter von 87 Jahren friedlich in seinem Haus am Starnberger See gestorben, landesweit und über alle Generationen hinweg für große Betroffenheit sorgte.

Meine wohl erste Begegnung mit Figuren aus Vicco von Bülows kreativer Welt waren Wum und Wendelin, die ich kennen lernte, während ich mit meiner Oma den Großen Preis im Fernsehen guckte. Doch schon bald liebte ich auch Loriots typische Knollennasenmännchen, Herrn Klöbener und Herrn Müller-Lüdenscheidt mit ihrer Gummiente, eine Suppennudel, die Steinlaus und viele andere mehr. Seine im wahrsten Sinne des Wortes fein beobachteten Charakterzeichnungen und seine herrlich skurrilen Sprachspiele haben schon lange Kultstatus erreicht und können von vielen Menschen auswendig mitgesprochen werden.

Und dann sind da noch die beiden Herren von der Rennbahn, ein Profi-Bescheidwisser mit gelber Weste und blauer Krawatte, und der arme Ahnungslose, der schon mit der Benutzung seines Fernglases überfordert ist, aber immerhin begeistert erkennt, dass der Rasen schön grün ist. Eins der wohl bekanntestens Zitate aus diesem beliebten Loriot-Cartoon diente ja darum auch als Ideengeber, als ich damals nach einem guten Namen für meinen Blog suchte: "Ja, wo laufen sie denn? Ja, wo laufen sie denn hin?"

Ich habe diesen Sketch immer geliebt, unter anderem auch, weil er nicht einfach irgendwelche Fantasienamen für die zwei erwähnten Jockeys verwendet, sondern Reiter benannt werden, die es tatsächlich gegeben hat. Über den einen, Otto Schmidt, der im Sattel von Elektrola unterwegs ist (eine Stute mit diesem Namen, deren Pedrigree aber nicht leicht zu ermitteln ist, hat es 1926 tatsächlich gegeben), muss wohl kaum etwas gesagt werden, war er doch der vermutlich profilierteste und beliebteste, dazu auch noch ungeheuer erfolgreiche Jockey in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. 

Otto Schmidt - hier im Sattel von Ticino, nicht von Elektrola
"Den können Sie wetten. Den können Sie wetten. Ich habe da ganz sichere Informationen. Wenn er will, wissen Sie, wenn er will, dann macht er's. Wenn nicht, dann will er gar nicht, ne. (...) Wenn er nicht macht, dann hat er nicht gewollt, oder er konnte nicht."


Aaaaah ja. Klar.


Tatsächlich hätte Otto Schmidt Ende der zwanziger Jahre jene Elektrola reiten können. Ob sie dann allerdings gegen Gänseblümchen angetreten wären? Das ist fraglich, denn die einzigen beiden Stuten dieses Namens, die sich in der DVR-Datenbank finden lassen, wurden erst wesentlich später (1951 als Tochter des Deckhengstes Olymp und 1980 von Dschingis Khan abstammend) gefohlt.

Aber immerhin - es hat Vollblüterinnen mit diesen Namen gegeben, und auch der Jockey, der im Sketch auf Elektrola über den grünen Rasen reitet, ist heute zwar nur noch wenigen Menschen bekannt und erreichte nie die gleiche Popularität wie sein Kollege Otto Schmidt, aber auch Anton Olejnik brachte es im Rennsattel während des Ersten Weltkriegs und in der ersten Hälfte der Weimarer Republik zu einer Reihe guter Erfolge. Zu nennen wären hier unter anderem der knappe Treffer im Union-Rennen 1918 in Hoppegarten mit Orilus oder im gleichen Jahr der Sieg im Bayerischen Zuchtrennen mit Eiffilo. Mit der Stute Orla holte sich Anton Olejnik den Preis der Diana 1920 und avancierte wenig später zum festen Reiter von König Midas aus dem Besitz von L. Lewin, mit dem er einige Siege und viele Platzierungen in herausragenden Rennen erzielen konnte. Nach Sieganzahl am erfolgreichsten gestaltete sich für den Jockey das Jahr 1922, denn da wurde er zum Jockey-Champion gekürt.

Bis zu seinem größten Erfolg musste Anton Olejnik jedoch noch ein wenig warten und zunächst die Rennstiefel an den Nagel hängen, denn was ihm als Reiter verwehrt geblieben war - ein Sieg im Deutschen Derby - gelang ihm dann 1928 in seinem neuen Metier als Trainer auf Anhieb, als sich der von ihm vorbereitete Hengst Lupus unter Everett Haynes das Rennen aller Rennen sicherte. Später wurde er Trainer der Pferde des Traditions-Gestüts Ebbesloh, für das er unter anderem solche Könner wie den Winterfavoriten Elritzling, die Diana-Siegerin Adlerfee oder Effendi vorbereitete, der sowohl das Henckel- als auch das Union-Rennen 1942 gewann. 

Ebbesloher Rennfarben:
Zu Zeiten des Trainers Anton Olejnik ebenso erfolgreich wie auch aktuell wieder
Interessant ist im Hinblick auf den "Ja, wo laufen sie denn?"-Cartoon, dass Anton Olejnik als Trainer für seine Pferde fast immer auf die Dienste des berühmten Jockeys Otto Schmidt vertrauen konnte. War der 1923 geborene Loriot, mit dem der Sketch im Bewusstsein der meisten Deutschen fest verknüpft ist, also ein großer Freund des Galopprennsports, der sich auch in der Turf-Historie so hervorragend auskannte, dass er die Namen der Reiter für den Text bewusst und sachkundig auswählte? Hatte er die Herren Olejnik und Schmidt (und vielleicht auch die Stuten Elektrola und Gänseblümchen?) möglicherweise in den Jahren seiner Kindheit, die er in Berlin verbrachte, ehe er im Alter von vierzehn Jahren mit seinem Vater nach Stuttgart zog, selbst in Hoppegarten am Start erlebt?

Die verfügbaren Biographien Vicco von Bülows geben keinen Aufschluss darüber, ob er ein Rennbahnbesucher war, doch gibt es auch so eine einleuchtende Erklärung für die Wahl der Jockey- und Pferdenamen. Es war nämlich gar nicht Loriot selbst, der den Text zu diesem im Rennsport wohl bekanntesten Werk des Komödianten verfasste. Vielmehr lieferte er mit seinen charakteristischen Knollennasenmännchen "nur" die Bilder zu einer Tonaufnahme aus dem Jahre 1946, die der aus Einbeck stammende Kabarettist Wilhelm Bendow gemeinsam mit dem Schauspieler und Conferencier Franz-Otto Krüger unter dem Titel "Auf der Rennbahn" aufgenommen hatte. Schon 1926 hatte Bendow, dessen künstlerisches Wirken sich vor allem (reiner Zufall?) in den Rennbahn-Städten Hamburg und Berlin abspielte, mit einem anderen Humoristen namens Paul Morgan ein Tondokument namens "Rennbahngespräche" aufgenommen - und da wären wir wieder genau in jener Zeit, in der die Jockeys Olejnik und Schmidt hochaktuell, äußerst erfolgreich und somit wohl mit Bedacht ausgewählt wurden. 
Aktuell sogar als Briefmarke erhältlich: "Ja, wo laufen sie denn...?"
Teilweise ist Vicco von Bülow in den Presse-Nachrufen der vergangenen Tage fälschlicherweise auch mit der Textgrundlage des berühmten Sketches verknüpft worden. So intensiv ist uns heute die aus seiner Feder stammende Zeichentrickversion wohl vertraut, dass wir bei der Phrase "Ja, wo laufen sie denn..." automatisch an Loriot denken. In Vergessenheit wird er sicher lange nicht geraten. Und das ist auch gut so.


Vielen Dank, Loriot. Es war ein Vergnügen!



   

Dienstag, 16. August 2011

Vor 35 Jahren: Kandia und ihre Kindes-Kinder

Zwei Geschichten an zwei Tagen? Ja, ich weiß - das entspricht eigentlich wirklich nicht meinem sonst eher gemächlichen Schreibtempo. Nicht einmal in den Sommerferien... Und dennoch gibt es heute schon wieder etwas neues Altes zu lesen. Allerdings ist dieser Bericht, der auch zum vergangenen Rennbahnwochenende passt, an dem mit dem Rheinland-Pokal der Nachfolger des früheren Aral-Pokals ausgetragen wurde, schon fast zwei Jahre alt. Geschrieben habe ich ihn auf Anregung eines Mitglieds im Tippspielforum, weil wir immer wieder einmal über die Stute und ihre verschiedenen Nachkommen geredet hatten. 


Da ich gerade umziehe, kommen Rennsportalben, Jahresrennkalender und alte Videos nun allerdings erst einmal in Kartons, und der Blog hat vermutlich demnächst auch ein Weilchen Pause, bis wir alle miteinander im neuen Zuhause angekommen sind. Zunächst einmal geht es aber zurück in die Vergangenheit...


Es war einmal vor 35 Jahren
Wie vor einer Weile schon einmal versprochen, will ich mich hier einmal an einer kleinen Würdigung der tollen Stute Kandia und ihrer diversen Nachkommen versuchen. Über ein Pferd zu schreiben, an das man selbst keine Rennbahnerinnerungen mehr hat, weil man zu ihrer aktiven Zeit schlicht und einfach noch zu klein war, um Pferderennen bewusst mitzuerleben, ist natürlich nicht einfach. Kandia hat es aber sicher verdient, in diesem Blog einmal eine Rolle zu spielen, denn die von Ilse Bscher und der Fürstin Oettingen-Wallerstein gezogene Luciano-Tochter der Krönungsgabe war nicht nur auf der Rennbahn eine Klasse für sich, sondern hat auch in der Zucht bis in unsere Zeit hinein deutliche Spuren hinterlassen.

Mal wieder handelt es sich um ein Lieblingspferd meines Onkels, dessen Geschichten von Kandias Rennbahn-Heldentaten ich mir früher demzufolge auch reichhaltig anhören durfte. Solcherlei Prägung aus Kindertagen hinterlässt natürlich ihre Spuren, zumal ich ja wusste, dass Kandia die Mutter eines meiner eigenen frühen Lieblingsgalopper war, der auf den Namen Kamiros hörte. Wie die Engländer so schön sagen: What’s not to like?

Rein optisch allerdings muss ich da eine kleine Einschränkung machen, denn wenn es nach dem Aussehen geht, hat es mir Kandia, sofern man alten Schwarz-Weiß-Aufnahmen in den Alben des Rennsports 1975 und 1976 trauen darf, nicht so recht angetan. Ein Riesenpferd mit einer kleinen unregelmäßig geformten Blesse mittig auf der Stirn, eindeutig mit einer gewaltigen Galoppade und jeder Menge Energie gesegnet, aber die Schönste war sie (ganz subjektiv geurteilt!) nicht. Es mag an den schmalen Augen liegen, die einen beim Betrachten der Bilder irgendwie zu verfolgen scheinen...

Zur Hochform lief Kandia, die im Besitz von Renate von Mitzlaff, der Frau des Trainers (auch Kandias Trainers!) Sven von Mitzlaff, stand, zwar erst drei- und besonders vierjährig auf, aber ihren ersten Lebensstart hatte sie schon früh als Zweijährige am 7. Juni 1974 - und damit nur eine knappe Woche nach meiner Geburt - in Köln gegeben. Ein ansprechender dritter Platz sprang bei diesem Versuch heraus. Zwei weitere Starts erbrachten ebenfalls Platzierungen, wobei Kandia, die in ihrer Rennlaufbahn überhaupt nur ein einziges Mal kein Geld nach Hause brachte, Ende August 1974 in Gelsenkirchen beinahe ihr erster Sieg gelungen wäre. Aber um einen kurzen Kopf hatte sie dann doch das Nachsehen. 


So legte Kandia ihre Maidenschaft erst beim zweiten Anlauf des Jahres 1975 in Dortmund ab. Im weiteren Verlauf ihrer Dreijährigensaison erwies die Stute sich als äußerst beständig und lief wieder und wieder aufs Treppchen, wobei sie insgesamt vier Rennen gewinnen konnte. Die Anforderungen waren Schritt für Schritt gesteigert worden, und im Juli 1975 avancierte Kandia zur Gruppesiegerin, als sie das Ludwig-Goebels-Erinnerungsrennen in Krefeld überlegen nach Hause brachte.

Es kann wohl nur spekuliert werden, ob sie im Anschluss daran bei besserem Rennverlauf auch den Aral-Pokal hätte gewinnen können (mein Onkel kannte bezüglich dieser Frage keine Zweifel!), aber so kam ihr offenbar ein gewisser Stallgefährte namens Athenagoras (ausgerechnet!) drastisch in die Quere, so dass hinter Lord Udo und Marduk „nur“ ein dritter Platz heraussprang. Aber aufgeschoben war in diesem Fall eindeutig nicht aufgehoben... später dazu mehr. Zum Abschluss der Saison holte sich Kandia dann noch zwei zweite Plätze auf Gruppe-Level, bei denen sie zweimal hinter der Schlenderhanerin Idrissa, der anderen Top-Stute des Jahres 1975, knapp das Nachsehen hatte.

Nahtlos knüpfte Kandia im folgenden Jahr an die als Dreijährige gezeigten Leistungen an und erzielte unter wechselnden Jockeys in einer für ihren Stall sehr schwierigen Zeit erneut eine Reihe guter Platzierungen auf höchstem Leistungsniveau, ehe es dann am 15. August 1976 zum Rennen aller Rennen kam. An jenem Tag wurde wieder der Aral-Pokal in Gelsenkirchen ausgetragen, und wieder war neben Kandia, geritten von Erwin Schindler, auch Athenagoras mit Peter Alafi im Sattel am Start. 

Der Hergang des Rennens muss nach allem, was mir berichtet wurde, spektakulär gewesen sein. Das Aufgalopp-Foto zu jenem Wettstreit ist eigentlich das einzige Bild von Kandia, auf dem sie mir wirklich optisch gefällt. „Macht Platz, heute bin ich endlich an der Reihe!“ so scheint ihr stolz überlegener Gesichtsausdruck zu verkünden. Die Wetter hatten sie zumindest zum Favoritenkreis gezählt, dabei aber dem aktuellen Derbysieger Stuyvesant und Athenagoras die etwas größeren Chancen eingeräumt. Was sich dann in Gelsenkirchen-Horst abspielte, ist Rennbahngeschichte geworden: Die Zielgerade hinunter gab es nur noch zwei Pferde mit Aussicht auf den begehrten Gruppe-I-Erfolg: Athenagoras und Kandia, die beiden Stallgefährten aus dem Quartier von Sven von Mitzlaff. Und am Ende hatte dann die Stute hauchdünn das bessere Ende für sich. Vier Kilo weniger hatte sie zu schleppen als Athenagoras, der an jenem Tag nach einigen wenig inspirierenden Rennen seinen Kampfgeist wiederentdeckt zu haben scheint, sich letztlich aber doch mit einem Hals geschlagen geben musste. 

Es muss ein ausgesprochen emotionales Rennen für alle Beteiligten gewesen sein – nicht nur für Jockey Erwin Schindler, für den dies einer seiner allergrößten Erfolge im Rennsattel wurde, sondern sicher auch für Trainer und Besitzerin.

Errang mit Kandia einen seiner größten Erfolge:
Jockey Erwin Schindler, hier nach seinem Sensations-Derbysieg 1982 mit Ako
Am Ende der Saison ging Kandia dann in die Zucht, und auch dort erwies sie sich mit ihren überragenden Erbanlagen über Generationen hinweg als ausgesprochen durchsetzungsstark. Zu ihren direkten Nachkommen zählen neben dem bereits erwähnten späteren Gruppe-I-Sieger Kamiros auch der sehr gute Karos und die Klassestute Kallista (Mutter u.a. von Krombacher). Kandias Tochter Kardia fohlte neben dem hervorragenden Rennpferd Karakal besonders den heutigen Deckhengst Kalatos. 

Kandias Enkel Kalatos als Deckhengst
beim Erkunden seines neuen Standorts im Gestüt Harzburg
Den mochte und mag ich sehr – schon seit seinen ganz frühen Rennbahntagen, so dass es wohl kaum verwunderlich ist, dass es mir neben seinem Sohn Palermo aktuell vor allem Ovambo Queen ziemlich angetan hat. Mal sehen, wie diese sich noch entwickeln wird! 

Einfach eine tolle Stute: Kandias Urenkelin Ovambo Queen
Und dann gibt es da ja auch noch eine gewisse Kazzia, die zur mehrfachen Gruppe-I-Siegerin emporstieg und damit sogar die großartigen Rennleistungen ihrer Urgroßmutter Kandia in den Schatten stellte. Man darf gespannt sein, ob sie ihr auch in der Zucht wird nacheifern können... Ihren Sohn Eastern Anthem haben wir ja in Deutschland 2009 bereits mehrfach im Galopp bewundern können, und der 2007 geborene Zeitoper war ein sehr talentierter Zweijähriger, der 2009 drei Siege einfuhr und als Höhepunkt den Prix de Conde gewann. Leider kam er 2010 gar nicht und inzwischen vierjährig nur einmal zu Jahresbeginn in Meydan an den Start, ist aber weiterhin für Godolphin im Training.

Und die Moral von der Geschichte? Nun, sollte irgendjemand irgendwann einmal die Zeitmaschine erfinden, werden die 1970er Jahre wohl mein erstes Reiseziel sein, um mir Kandia (und all die anderen tollen Pferde, die ich nur aus begeisterten und begeisternden Erzählungen kennen gelernt habe) selbst anzusehen. Träumen darf man ja sicher ein wenig...

Montag, 15. August 2011

Vor dreißig Jahren: Was aus weißen Westen werden kann...

Es ist, auch wenn das Wetter dies nicht unbedingt vermuten lässt, Mitte August, und so langsam tauchen sie wieder auf der Rennbahn auf, die mit mehr oder weniger Erfolg im diesjährigen Deutschen Derby an den Start gekommenen besten Dreijährigen. Die meisten Derbypferde scheinen das verrückteste aller Rennen zum Glück in diesem Jahr heil überstanden zu haben und werden weiter Rennen bestreiten. Einige unter ihnen, so etwa Gereon oder Sommernachtstraum, waren auch bereits wieder fleißig, sei es ohne Erfolg auf Gruppe-Ebene und erneut über eine zweifelhaft lange Steherdistanz, sei es zur Nachholung des länger schon überfälligen Maidensiegs in einer vergleichsweise harmlosen Pflichtaufgabe.

Ein Derbystarter, der nun endlich sein erstes Rennen gewann: Sommernachtstraum


Richtig viele ehemalige Derbypferde konnte man aber an diesem gerade erst beendeten langen Wochenende auf den verschiedenen Rennbahnen bewundern: 

Der Derbyzweite Earl of Tinsdal und der Dritte Saltas haben sich zum Beispiel am Sonntag im Kölner Rheinland-Pokal ebenso ein Stelldichein gegeben wie der in Hamburg doch respektabel geschlagene Silvaner. Alle drei haben sich dort bei ihrem ersten Nach-Derby-Start erstmals auch mit der älteren Konkurrenz messen müssen, und man muss unterstreichen, dass sie dabei eine äußerst gute Figur gemacht haben. Earl of Tinsdal konnte sogar ungemein beeindrucken. Solche jahrgangsübergreifenden Konkurrenzen, die nun immer häufiger stattfinden werden, sind es ja, die für die gesamte zweite Saisonhälfte weiter Spannung garantieren und jede Menge Spielraum für Spekulationen über das jeweilige Leistungsvermögen und die sich daraus ergebenden Kräfteverhältnisse bieten.

Egal unter welchen Bedingungen die ehemaligen Derbystarter sich in den Wochen nach dem größten deutschen Turfereignis wieder dem Rennbahnpublikum vorstellen – besondere Aufmerksamkeit ist ihnen so oder so gewiss, denn schließlich sind sie durch ihr Laufen in Hamburg-Horn alle schon eine besondere Attraktion bei den künftigen Renntagen. Wenn aber bereits jenen Vierbeinern, die im Derby auf den Plätzen oder gar mit dem geschlagenen Feld ankamen, solches Interesse zuteilwird, gilt dies natürlich noch viel stärker für das eine Pferd, dem es im Rennen aller Rennen durch eine ordentliche Portion Können, das nötige Glück und einen taktisch klugen Ritt gelang, vor allen Konkurrenten den Zielspiegel zu passieren.

Ein Derbysieger ist (fast) immer ein ganz besonderes Pferd. Er (manchmal, in Ausnahmefällen, auch sie) hat verwirklicht, wovon die meisten Züchter, Besitzer, Trainer und Jockeys träumen – häufig Zeit ihres Lebens nur vergeblich. In diesem einen, alles entscheidenden Steher-Rennen des Dreijährigen-Jahrgangs war dieses eine Pferd ganz vorne und hat die gesamte Konkurrenz in den Schatten gestellt. 

Zwar noch kein Derbysieger, aber dafür noch mit weißer Weste:
Waldpark vor dem Start im Iffezheimer Derby-Trial
Der Derbysieger des aktuellen Jahrgangs, Gestüt Ravensbergs Waldpark, kam am heutigen Montag wieder an den Start. Allerdings fand dieser erste Auftritt von Waldpark nach seinem Hamburger Triumph nicht vor deutschem Rennbahnpublikum statt, denn als nächstes Saisonziel für den Ravensberger Hengst hatte Trainer Andreas Wöhler den Prix Guillaume d'Ornano in Deauville auserkoren. Am Ende sprang ein alles in allem vielleicht etwas enttäuschender sechster Platz gegen ausgezeichnete europäische Konkurrenz heraus, wobei Waldpark zwar ohne Siegchance, aber für eine bessere Platzierung nicht arg weit geschlagen war. Die weiße Weste, die er bislang durch seine Karriere getragen hatte, ist nun natürlich verloren.

Auch wenn der Ort des Geschehens heute in Frankreich, statt in Deutschland lag, existiert hier doch eine interessante Parallel, denn...

Es war einmal vor dreißig Jahren


Vor dreißig Jahren blieb der amtierende Derbysieger des Jahres 1981 für seinen ersten Auftritt nach dem großen Triumph anders als 2011 im Lande. Mit Waldpark teilt er, der große Orofino, allerdings eine andere Eigenschaft, nämlich den Status des Ungeschlagenen, des Derbysiegers mit sprichwörtlich weißer Weste. Fünf Rennen hatte er seit seinem Debüt als Zweijähriger bestritten, und in allen Fällen hatte er als erstes Pferd den Zielpfosten passiert. Besonders seine immer ambitionierter werdende Dreijährigen-Route nach einem klassischen Muster jener Zeit (Hoffnungs-Preis, Henckel-Rennen, Union-Rennen, Derby), auf der er die Gegnerschaft in der Regel souverän abhängte, hatte enormen Eindruck gemacht. 


Daher stammte also seine völlige Zuversicht, dass Orofino auch in Gelsenkirchen seine weiße Weste behalten würde. Glaubte man den vollmundig vorgetragenen Argumenten während des Abendessens auf der nachgeholten Geburtstagsfeier, bei der ich stolz meine Orofino-Uhr stolz am Handgelenk spazieren trug, war der Zoppenbroicher Derbysieger vollkommen unschlagbar.



Zu einem Pferd fast vom anderen Stern („Ooooorofino Erster, der Rest nirgends“, so titelte die Bildzeitung am Tag danach) war der Zoppenbroicher Hengst jedoch besonders durch seinen Derbysieg am 1. Juli 1981 geworden, denn diesen hatte er sage und schreibe mit einer Weile Vorsprung… nun, von „errungen“ kann angesichts des nachträglich nachgemessenen Abstands zum Zweiten Winslow von beinahe dreizehn Längen eigentlich nicht die Rede sein. Das wäre eine unangemessene Wortwahl. Vielmehr war Orofino wie auf Flügeln dem Feld enteilt und hatte das Hamburger Publikum mit dieser Galavorstellung, wie man sie ausgerechnet im Derby wohl kaum je zu sehen bekommt, in seinen Bann gezogen.


Hatte es überhaupt je einen derart überlegenen Derby-Sieger zu beklatschen gegeben? Viele Rennausgänge des vergangenen Jahrzehnts, die die anwesenden treuen Derby-Besucher vielleicht noch in Erinnerung hatten, waren eher knapp ausgefallen. Es hatte zwar auch klare Siege wie 1973 bei Athenagoras, 1976 bei Stuyvesant oder vor allem 1977 mit dem überlegenen Surumu gegeben, aber die Duelle bis ins Ziel überwogen. Oft war es sogar ausgesprochen eng geworden, so besonders 1974 zwischen Marduk und Lord Udo, 1978 in der Regenmatschpartie von Zauberer und vor allem bei jenem sagenumwobenen Zweikampf der beiden Dauer-Rivalen Königsstuhl und Nebos 1979. Auch Navarino, der Derbysieger des Vorjahres, hatte sich nach einem bravourösen Kampf gegen den Außenseiter Arcosanti gerade noch mit Halsvorsprung in Ziel retten können.


Mitreißend waren diese Derbyentscheidungen für das anwesende Publikum und die Zuschauer daheim an den Fernsehgeräten zweifellos gewesen. Kein Vergleich an Nervenkitzel-Potential war dagegen der nie auch nur eine Sekunde zu bezweifelnde Triumph von Orofino. Sein Derbysieg beeindruckte nicht durch die Pulsfrequenz in die Höhe jagende Spannung, sondern gerade durch die drückend überlegene Demonstration seines Könnens. Man musste lange zurückdenken, bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs genau genommen, um mit Schwarzgolds Triumph von 1940 immerhin einen Zehn-Längen-Vorsprung zu finden, der das restliche Derbyfeld in ähnlicher Weise deklassiert hatte.


Wer sollte dieses Wunderpferd Orofino denn überhaupt zukünftig schlagen? Unter seinen Altersgenossen hatte er, das hatte das Derby zur Genüge unter Beweis gestellt, wohl keinen Gegner zu fürchten. Und die Älteren? Waren sie Orofino vielleicht eher gewachsen oder gar überlegen, weil sein eigener Jahrgang in der Spitze möglicherweise eher schwächer besetzt war?


Heute vor dreißig Jahren bot sich die erste Gelegenheit zur Klärung dieser brisanten Frage, denn wie in jedem Jahr seit seiner Gründung anno 1957 wurde auf einer Rennbahn, die es inzwischen leider schon seit Jahren nicht mehr gibt, im Aral-Pokal die Bühne für den ersten ernsthaften Jahrgangsvergleich auf höchster Ebene bereitet: Gelsenkirchen-Horst.


Ähnlich wie im aktuellen Rheinland-Pokal, dessen Vorläufer der Aral-Pokal war, fand sich mit sieben Startern nur ein überschaubares Teilnehmerfeld zusammen, obwohl es um Gruppe-I-Meriten ging. Außer den Dreijährigen Machtvogel und Ti Amo, die zwar gute Pferde waren, einem Orofino aber nicht das Wasser reichen konnten, waren unter den älteren Startern Donat und Maivogel auch eindeutige Außenseiter. Wenn überhaupt jemand den amtierenden Derbysieger gefährden konnte, so muss sich das Publikum vorab gedacht haben, dann doch wohl am ehesten sein Vorgänger in Hamburg-Horn, Navarino, oder… Ja, oder vielleicht der siebte Starter, der das Feld komplettierte, ein Hengst in Röttgener Farben namens Wauthi, der schon ein hervorragender Zweijähriger gewesen war, 1980 zwar nicht das Derby, aber immerhin das Henckel-Rennen, das St. Leger und auch den Aral-Pokal hatte gewinnen können und sich auch in der laufenden Saison schon als zweifacher Gruppesieger hatte auszeichnen können. Dieser Wauthi, der schien unter dem Röttgener Stalljockey Peter Remmert bei einer nüchternen Betrachtung der Aspiranten auf den Aral-Pokal brandgefährlich.

Mein Patenonkel war sich damals allerdings sehr sicher, dass niemand Orofino würde beeindrucken können. Er verkündete diese Überzeugung ausgesprochen selbstbewusst bei meinem nachgeholten Patengeburtstagsbesuch, der mir neben jeder Menge Schwärmerei über die Glanzleistung des Zoppenbroichers, die er in Hamburg selbst miterlebt hatte, ein ungewohnt großzügiges Geschenk einbrachte. Es handelte sich um meine erste eigene Armbanduhr mit einem Pferdekopfmotiv auf dem Ziffernblatt, einem roten Lederarmband und (ganz wichtig!) einer goldenen Umrandung. Diese geschenkte Uhr war genau genommen von Orofino („Sein Name bedeutet ja auf Deutsch eigentlich ‚feines Gold‘, wie mein Onkel stolz verkündete.) „bezahlt“ worden, denn sein Derbysieg hatte meinem Patenonkel dank einer frühzeitig noch im Vorjahr nach dem Debüt des Hengstes abgeschlossenen Festkurs-Wette einen hübschen Gewinn in die Tasche gespielt, den er auf den drückend überlegenen Zoppenbroicher so am Totalisator auf der Bahn sicher nicht mehr bekommen hätte.

Genau genommen hatte er ja nur das gemacht, was er jedes Jahr tat, nämlich auf die vielversprechenden Zweijährigen mit Derby-Pedigree aus dem Stall seines erklärten Lieblingstrainers Sven von Mitzlaff Festkurse zu wetten. Wenn sie dann auch noch die hellblau-weißen Farben seines Lieblingsgestüts trugen und obendrein sogar von seinem damaligen Lieblingsjockey Peter Alafi geritten wurden… nun, dann machte ihn ein Treffer restlos glücklich und unterstrich seine innere Überzeugung, dass er ein genialer Zocker sei. Und genau deshalb war er auch völlig davon überzeugt, dass es mit Orofinos genialer Siegesserie einfach so weitergehen würde.

Allerdings – manchmal kommt es anders als man denkt. Und das war gleich bei Orofinos nächstem Start nach dem Derby der Fall, denn hier traf er erstmals seinen Meister und wurde „nur“ Zweiter. Allerdings war er ein mit respektablem Abstand geschlagener Zweiter, so dass die Niederlage gegen Wauthi – denn das Röttgener Spitzenpferd war seiner Rolle als größte Gefahr für Orofino glänzend gerecht geworden, so dass Jockey Peter Remmert sein Pferd am Ende gar nicht mehr groß bemühen musste. Zu souverän fiel der Erfolg von Wauthi in Gelsenkirchen aus – und zu deutlich dadurch eben auch die Niederlage für den Derbysieger. Er sei entzaubert und in seine Grenzen verwiesen worden, hieß es. Und vielleicht sei er ja doch nicht so gut wie der triumphale Derbysieg dies hatte vermuten lassen…

Ich war in Gelsenkirchen damals nicht dabei. War mein Onkel, der natürlich nach Horst gefahren war, enttäuscht? Ja, ganz sicher, aber ich erinnere mich, dass er bei unserer nächsten Begegnung auf der Mülheimer Rennbahn weiterhin ganz fest an ein Comeback seines Orofino in Siegform glaubte. Dass manche Rennbahnbesucher den Hengst nach einem zweiten Platz in einem der ganz großen Rennen des deutschen Turf-Kalenders schon überragendes Leistungsvermögen absprechen wollten, ärgerte ihn sichtlich. Und ich, die ich ja immerhin jeden Tag meine Orofino-Uhr trug, erklärte mich da spontan solidarisch, als wir beschlossen, dass wir uns den Zoppenbroicher bei einem seiner nächsten Auftritte in der Umgebung gemeinsam live anschauen wollten.

Ein Weilchen musste ich warten, ehe dieser Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde – bis zum folgenden Jahr, genau genommen, als Orofino vierjährig war. Ein weiteres Rennen auf höchstem Parkett, den Großen Preis von Baden, hatte er nicht als Sieger, sondern nur als Vierter beendet. Im folgenden Jahr aber bestätigte er, dass mein Patenonkel mit seinem weitsichtigen Vertrauen vollkommen Recht und die leisen Zweifler vollkommen Unrecht gehabt hatten, denn das Jahr 1982 war das große Jahr des Orofino.

Das neue Rennjahr begann gleich optimal mit einem klaren Sieg im Gerling-Preis, ausgerechnet gegen das Pferd, das ihm die erste Niederlage beigebracht hatte: Wauthi. Es folgten weitere große Treffer in Düsseldorf, Hamburg, erneut in Düsseldorf, dann schließlich im begehrten Aral-Pokal, den er im Vorjahr noch nicht hatte gewinnen können. Beinahe immer notierte der Zielrichter „überlegen“ im Richterspruch. Und genau so habe ich Orofinos Siege in Erinnerung: Demonstrationen eines überlegenen Rennpferdes. Ich bekam ihn in jener Saison mehrfach zu Gesicht, wobei allerdings meine Erinnerungen an die einzelnen Rennen, die wir besucht haben, ein wenig verschwommen sind und sich miteinander vermischen. Schön, nein, schön fand ich Orofino nie. Aber er hat mich beeindruckt, immer und immer wieder, denn er hatte jede Menge Charakter, auch wenn ich das damals mit meinen acht Jahren kaum hätte erklären können.


Bald schon war der Hengst ein Publikumsmagnet und lebende Legende gleichzeitig, zog die Turffreunde in Scharen zu seinen Auftritten auf die Bahn, wurde sogar in seinem Trainingsquartier bei Sven von Mitzlaff auf der Rennbahn in Köln-Weidenpesch von einem Fernsehteam für eine Dokumentation unter dem Titel „Orofino, das Millionenpferd“ übers Jahr begleitet und gab nebenbei einem Restaurant im Heimatort seiner Zuchtstätte den Namen. Was es nicht alles gibt… Man beachte die Namen der Pizzen auf der Speisekarte. ;-)


Fünfjährig konnte Orofino auch auf europäischem Parkett überzeugen und war zweimal ausgezeichnet platziert, während er in Deutschland praktisch alles gewann, was es zu gewinnen gab – darunter auch dreimal den Titel „Galopper des Jahres“. Der ehrgeizige Plan, mit ihm in den Arc de Triomphe zu gehen (und dort hoffentlich auf zu gewinnen!) führte zwar nicht zum Erfolg, aber das tat der herausragenden Rennleistung von Orofino letztlich keinen Abbruch. Für mich war er der erste vierbeinige Star, dessen Karriere ich ganz aktiv und bewusst mitbekam.

Und Wauthi, das Pferd, das ihn zuerst geschlagen hatte, nur um bei ihrer nächsten Begegnung eine deutliche Revanche erleben zu müssen?


Auch er war ja alles andere als ein schlechtes Pferd. Im Gegenteil! Doch als Orofinos große Karriere vierjährig erst richtig begann, neigte sich jene von Wauthi bereits dem Ende zu. Etwas früher als der um ein Jahr jüngere Zoppenbroicher bezog Wauthi also einen Posten als Deckhengst. Beiden hätte man in der Zucht vielleicht mehr Fortune und dem bereits 1989 eingegangenen Orofino auch ein längeres Leben gewünscht. Die Nachkommen der beiden Hengste, die ich aus meiner Grundschulzeit noch gut in Erinnerung hatte, habe ich dann als Teenager immer aufmerksam betrachtet, und auch wenn bis auf den Orofino-Sohn Vincenzo und den Wauthi-Enkel Sternkönig die ganz großen Helden ausblieben, habe ich sie gerne laufen sehen, gleich ob es sich nun um Renomee, Ice and Fire, San Remo, Couronne oder Akelei hießen.

Und die Moral von der Geschichte? Auch überlegene Derbysieger mit einer bislang weißen Weste tun sich manchmal mit dem folgenden Rennen etwas schwer, aber oft bedarf es nur einer gewissen Geduld, ehe das Zutrauen in und die Hoffnung auf das Galoppiervermögen der vierbeinigen Helden von Horn im späteren Verlauf ihrer Karriere wieder belohnt werden.

Hoffentlich wird das für Waldpark auch gelten! Meine Daumen sind jedenfalls gedrückt.