Samstag, 21. April 2012

Vor zehn Jahren: Wieder fest im Sattel

Mit Comebacks ist das ja so eine Sache - sie kommen einerseits gar nicht einmal so selten vor, sei es nun in der Politik, in der Wirtschaft oder im Sport. Andererseits sind sie aber auch keineswegs immer mit einer Erfolgsgarantie verbunden - im Gegenteil! Oft ist es zudem so, dass sich erst nach einiger Zeit rückschauend wirklich beurteilen lässt, ob ein Comeback von Erfolg gekrönt war. 


Wünschen wird sich solchen Erfolg selbstverständlich jeder Mensch, der sich an ein Comeback wagt, doch nur in wenigen Fällen wird man den Entschluss zum Rücktritt vom einst bereits erklärten Rücktritt derart positiv beurteilen können wie im Hinblick auf die Geschichte eines sportlichen Comebacks, die heute erzählt werden soll. Nebenbei bemerkt - hätte dieses Comeback nicht stattgefunden, so wären die galoppsportlichen Erinnerungen der vergangenen zehn Jahre um eine Menge herausragender Erlebnisse ärmer... Wie gut also, dass das Zurückkehren eines Jockeys in den Rennsattel so vorzüglich geklappt hat!




Es war einmal vor zehn Jahren

So muss ein Comeback ja nun wirklich Spaß machen! Nix verlernt, das muss man nun wirklich sagen!“

Ich erinnere mich noch recht gut an die Worte eines mir unbekannten Rennbahnbesuchers, als ich damals vor zehn Jahren im April 2002 erstmals nach einer längeren Zeit wieder auf „meiner“ Heimatrennbahn am Raffelberg war. Gesprochen hat er sie am Absattelring, und das Pferd, das da soeben das erste Rennen der Tageskarte, einen ausgesprochen harmlosen Ausgleich IV, gewonnen hatte, hieß Tidel Pool und stand noch dampfend und leicht verschwitzt vor unserer Nase, während der siegreiche Jockey den Sattel abnahm.

Nix verlernt? Comeback?

Da hatte ich offenbar in der Zeit meiner durch das Referendariat und einen längeren Auslandsaufenthalt bedingten Rennbahnabwesenheit etwas verpasst! Doch noch ehe ich genau zuordnen konnte, um wen es da gehen mochte, brach mein Nebenmann – eigentlich ganz uncharakteristisch für das übliche eher reservierte Verhalten deutscher Rennbahnbesucher – in energisches Klatschen aus und rief so laut, dass der Jockey ihn sicher hören konnte: „Guter Mann, Terry! Weiter so!“

Da wusste ich natürlich auch sofort, wer gemeint gewesen war – Terence Hellier nämlich, also derjenige Reiter, der Tidel Pool aus dem Stall seines Vaters Bruce vor wenigen Minuten in einem knappen Finish mit Halsvorteil und kurzem Kopf gegen die beiden Platzierten Speed Fine und Jimmy Two Stroke zum Erfolg geführt hatte. Es war ein sehenswerter Endkampf gewesen, das war sogar mir aufgefallen. Aber wieso Comeback?

Erst im Nachhinein habe ich, die ich an jenem Apriltag 2002 ohne jede Begleitung und auch ohne Sport-Welt über die Mülheimer Rennbahn geschlichen bin, um endlich mal wieder ein wenig Galopp-Luft zu schnuppern, herausgefunden, was der Hintergrund dieser Aussagen war. Und der war allerdings tatsächlich bemerkenswert, denn was ich in jenem ansonsten wirklich ziemlich unspektakulären Ausgleich IV miterlebt hatte, war nichts weniger als ein kleines Wunder, denn an jenem 14. April 2002 begann eine Jockey-Karriere neu, die anderthalb Jahre zuvor, am 4. November 2000, endgültig beendet schien, inzwischen aber bereits wieder zehn sehr erfolgreiche Jahre andauert.

Es war ein durch und durch standesgemäßer Abschied gewesen, den Terence Hellier, ein Jockey, den ich immer gerne gesehen hatte, denn mit der Schlenderhanerin Mosquera hatte er in Köln bei seinem vermeintlich letzten Ritt immerhin mit der Kölner Stuten-Meile ein gut dotiertes Listenrennnen an sich bringen können. Danach war Schluss gewesen, der Sattel hatte sich am sprichwörtlich-symbolischen Nagel wiedergefunden und Terry Hellier hatte sich eine neue Aufgabe suchen müssen.

Was war der Grund für diesen Rückzug gewesen, zu dem sich der damals 34-Jährige Jockey entschieden hatte, der doch immerhin in jener Saison mit 75 Siegen eine Platzierung in den Top Ten der deutschen Jockeys erreicht hatte?

Das leidige Thema Gewicht war es wohl, dazu vermutlich anhaltende Sorgen um die eigene Gesundheit, die in den 1990er Jahren immer wieder stark angegriffen gewesen war. Mehrfach war Terence Hellier, der sich selbst in einem Interview 1997 mit einer ordentlichen Portion Galgenhumor einmal als „Deutschlands schwerster Jockey, zumindest in der Spitzenklasse“ bezeichnete, schwer an einer Meningitis erkrankt. Diese schwere Erkrankung limitierte seine Verlässlichkeit so sehr, dass er sich zu seinem Leidwesen genötigt fühlte, seinen lukrativen Vertrag mit Bruno Schütz zu lösen. Dies kann wohl kaum ein leichter Schritt für den ganz gewiss ehrgeizigen, auch psychologisch durch seine gesundheitlichen Sorgen belasteten Reiter gewesen sein. Er ritt zwar für andere Trainer weiter, sammelte auch weiter viele Erfolge, doch zuverlässig ein Gewicht von – bei einer Körpergröße von 1,69m ja nun wirklich extrem niedrigen – 56 Kilo halten zu können, muss ihm immer schwerer gefallen sein. Darum also der Schlussstrich am Ende des Jahres 2000… Nur einmal noch sah man Terry Hellier anschließend in Deutschland im Sattel, und zwar im September 2001 in einer treffend als Ex-Champion-Rennen bezeichneten Konkurrenz in Köln, in der er – sicher zu seiner Erleichterung – mit 63,5 Kilo in den Sattel steigen durfte… und prompt gewann.

Lagebesprechung vor grinsendem Pferd -
Terry Hellier im Düsseldorfer Führring

Die Art und Weise, wie er damals als „Jockey-Rentner“, so ein Artikel bei GOL, diesen Erfolg unter Dach und Fach brachte, war übrigens sehr typisch für viele Ritte von Terence Hellier, dem man schon früh besonderes taktisches Geschick und enorme Endkampfstärke attestiert hatte. Lediglich um einen Hals blieb er nämlich mit der Stute Suenna vor dem Zweitplatzierten Leto, aber dieser Halsabstand reichte aus. Gewonnen ist schließlich im Rennsport gewonnen!

Und Rennen zu gewinnen, das hatte Terry Hellier schon früh hervorragend gekonnt. Sicher war er als Sohn von Bruce Hellier, der ebenfalls zunächst Jockey gewesen und später Trainer geworden war, quasi auf der Rennbahn aufgewachsen. Da ich mir als Kind eine Grundschulklasse ganz in der Nähe der Mülheimer Rennbahn mit seinem Halbbruder teilte, der immer wieder begeistert von den Rennen erzählte, die sein damals in der Ausbildung bei Heinz Jentzsch befindlicher Bruder ritt, hatte ich auch schon früh bei den Rennbahnbesuchen mit meinem Patenonkel auf diesen Nachwuchsreiter geachtet. An einen Treffer kann ich mich aus dieser frühen Zeit noch gut erinnern, denn da war er in Mülheim ausgerechnet mit einem Pferd namens Only Second Erster geworden. Die Ironie verstand ich seinerzeit zwar erst nach einem entsprechenden Kommentar meiner (noch!) des Englischen mächtigeren Mutter, aber dann musste ich ebenfalls grinsen. Wie passend… Terry Hellier gewann sogar Rennen mit Pferden, die eigentlich "nur Zweiter" werden sollten. ;-)

Aber auch größere Erfolge kamen beim Lehrlingschampion des Jahres 1982, nachdem er ausgelernt hatte, schrittweise in immer größerer Zahl hinzu. Vor allem mit Pferden wie Justinian, Schützenkönig, Mondrian, Fabriano, Protektor, vor allem aber natürlich mit Martessa und Lomitas, gelangen ihm ab Ende der 1980er Jahre und in die 1990er hinein viele hervorragende Platzierungen und Siege. La Blue, Sinyar, Germany, Eden Rock, Autriche, Diktys, Anna Thea, Waky Nao – sie alle hat Terry Hellier auf der ersten Etappe seiner Jockeykarriere zu großen Erfolgen gesteuert. Vor allem aber Ungaro war es, der dieser Phase seiner Laufbahn viele herausragende Akzente verlieh. Doch dann war es vorbei – scheinbar endgültig.

Turbulent ging es im Leben von Terence Hellier aber auch nach seinem Rücktritt vom aktiven Rennreiten zu, denn eigentlich schien sich eine gute Lösung für die weitere Laufbahn des Ex-Jockeys gefunden zu haben, als er in der Funktion eines Assistenztrainers bei Peter Schiergen am Asterblüte-Stall anfing. Das Engagement, das so vielversprechend klang, erwies sich jedoch als von kurzer Lebensdauer, denn schon im April endete es auf nicht gerade freundliche Weise. Ganz uncharakteristisch kritische Worte wurden öffentlich gesprochen, und damit befand sich Terence Hellier wieder auf der Suche nach einer neuen Aufgabe, die er schließlich ausgerechnet in Dubai als Arbeitsreiter am Stall von Saeed Bin Suroor fand.

Diese Auszeit wurde zur entscheidenden Wende in der Karriere des Terence Hellier, denn als er Anfang 2002 nach Deutschland zurückkehrte, war er nicht nur bedeutend leichter geworden, sondern hatte auch den Entschluss gefasst, dass mit dem Rennreiten noch nicht unbedingt Schluss sein musste. Und so staunte die deutsche Galoppsportszene über die Ankündigung, dass er seinen Sattel wieder vom Nagel nehmen und als Jockey neu einsteigen wollte. Begrüßt wurde seine Entscheidung aber allemal, denn aus den unterschiedlichsten Gründen war es zu jener Zeit um die in Deutschland tätigen Jockeys nicht besonders gut bestellt – langfristige Sperren, schwerwiegendere Verletzungen hatten dazu geführt, dass man über die Verstärkung durch den Rücktritt vom Rücktritt sehr froh war.

Erfolgsteam des Jahres 2011:
Terry Hellier und die Pferde aus dem Besitz von Guido Schmitt

Verlernt hatte Terence Hellier ganz sicher nichts, wie mein Nebenmann am Mülheimer Absattelring ganz richtig feststellte. Schöner als mit einem durch Geschick erkämpften Sieg konnte er ja seinen zweiten Jockey-Frühling kaum beginnen lassen. Doch dabei bleib es an jenem Tag im April 2002 am Raffelberg nicht, denn der inzwischen in Vertretung des noch gesperrten Andrasch Starke bei Andreas Schütz beschäftigte Reiter ließ seinem Auftaktsieg am gleichen Tag noch einen dritten Platz und zwei weitere Triumphe mit der überragenden Rennstute Tomori und dem Hengst Dimaro folgen, mit der er auf Anhieb das Hauptrennen, das Orakel der Dreijährigen, gewann. Besser, nein, besser hätte es wirklich nicht beginnen können.

Und so verwunderte es auch kaum, dass bereits am folgenden Wochenende in Krefeld Terence Hellier im Sattel des eindeutigen Favoriten für das erste Gruppe-Rennen der Saison, das Dr. Busch-Memorial, saß. Für schwindelerregende 13:10 gingen sie an den Start, und dass diese Einschätzung durch die Wetter mehr als gerechtfertigt gewesen war, belegt die Tatsache, dass es ein überlegener Sieg mit vier Längen Vorsprung wurde. Der Name des Pferdes? Ja, das war ein gewisser Next Desert, der später im Jahr 2002 nicht nur das Union-Rennen, sondern vor allem auch noch das Derby gewinnen sollte, selbst wenn er bei jenem Sieg nicht mehr von Terry Hellier, sondern vom gerade wieder entsperrten Andrasch Starke geritten wurde.

Wahrlich ein Einstand nach Maß war es also, den der Meister der spannenden Endkämpfe vor zehn Jahren erlebt hat. Und es wurde eine zweite Karriere von Dauer, denn inzwischen gibt es wohl keinerlei Zweifel mehr am begnadeten Reittalent des Jockeys aus Köln, der der Liste seiner Triumphe inzwischen zahlreiche Siege hinzufügen konnte. Und dabei sind es im vergangenen Jahrzehnt besonders die großen Treffer, die so genannten „Big Points“, mit denen er sich einen Namen machte. Call me Big, Caitano, Well Made, Dai Jin, Iota, Albanova, Egerton, Manduro, Love Academy – das sind nur einige der Namen großer deutscher Rennpferde, mit denen Terence Hellier bei seien recht häufig schon nach kürzerer Zeit wechselnden Engagements an praktisch allen führenden Rennställen und Gestüten von Peter Schiergen über Uwe Ostmann bis hin zum Gestüt Schlenderhan bereits siegreich den Zielspiegel passiert hat. Aus der jüngsten Vergangenheit sind es wohl vor allem solche herausragenden reiterlichen Meisterstücke wie die Siege mit Enora, Liang Kay, Silvaner, Zazou, Durban Thunder oder Oriental Tiger, die in besonders guter Erinnerung bleiben.

Meisterleistung im Finish:
Diana-Sieg mit der Röttgenerin Enora

Wie gut, dass er, der inzwischen mit 46 Jahren zum Inventar der deutschen Jockeystuben zählt, da an einem ganz bestimmten Tag im November 2007 in Frankfurt von allen Schutzengeln weit und fern mit aller Macht behütet wurde, als er in einem garstig aussehenden Rennunfall von seinem Pferd Shivas gegen den Zielspiegel geschleudert wurde. Vielen Freunden des Galopprennsports ist dieser drastische Zwischenfall nachhaltig und schockierend in Erinnerung geblieben - ebenso wie die enorme Erleichterung, als bekannt wurde, dass Terence Hellier sich "nur" einen Armbruch und eine Gehirnerschütterung zugezogen hatte. Was für ein ungeheures Glück! 

Schon im folgenden Frühjahr 2008 saß der Jockey wieder im Sattel, und wieder wurde deutlich, dass er nichts verlernt hatte, denn bereits am zweiten Wochenende gelang ihm sein erster Treffer mit Palace Princess, dem er am Sonntag darauf einen erneuten Gruppe-Sieg im Sattel von Oriental Tiger folgen ließ. Einer von vielen bemerkenswerten Ritten von Terry Hellier, die das deutsche Rennbahnpublikum seitdem miterleben durfte... 

Größter Erfolg 2011:
Durban Thunders Gruppe-I-Sieg in München

Mit sechs Treffern steht er in diesem Jahr bereits wieder in den Top Ten der Jockey-Statistik, so dass die noch sehr junge Saison 2012 sich aus seiner Perspektive wirklich erfreulich angelassen hat. Und dann ist da noch einer der Starter im morgigen Dr. Busch-Memorial, der auf den Namen Pastorius hört und sicher in diesem hochklassigen Starterfeld zum engeren Favoritenkreis zählen wird. Mit ihm hat Terry Hellier im vergangenen Jahr bereits zweimal gewinnen können. Ob ihm dies exakt zehn Jahre nach dem ersten Gruppe-Treffer seiner zweiten Jockey-Karriere erneut gelingen wird, ist eine von vielen Fragen, die enorme Spannung in den morgigen Renntag bringen. 



Mir, das ist sicher, würde ein solcher Treffer wirklich sehr gefallen. Und persönlich dabei sein werde ich auf jeden Fall…

Montag, 9. April 2012

Vor 182 Jahren: Können Pferde schweben?

Es war einmal vor 182 Jahren

Manchmal stolpert man ja ganz durch Zufall über lohnenswerte Dinge, und weil mir dies gestern recht spät nachts bei der Recherche für den letzten Blog-Beitrag so ging, gibt es heute einen zuvor eigentlich nicht geplanten zweiten Text über einen auch nicht gerade besonders runden Jahrestag. Es handelt sich, wie mich mein Freund, die international berühmte Suchmaschine, mit ihrer zu gewissen Anlässen gerne passend künstlerisch gestalteten Hauptseite informierte, um den 182. Geburtstag von Eadweard Muybridge.



Eadweard wer?

Ja, einem deutschen Leser kann durchaus verziehen werden, wenn er diesen einigermaßen exzentrisch anmutenden Namen eines Pioniers der Foto- und Filmgeschichte noch nie gehört hat. Mir selbst ging es auch bis vor einigen Wochen so, doch es war gerade die Verbindung zwischen Muybridges Filmschaffen in den schwarz-weißen Anfangszeiten der Filmkunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und meinem Lieblingshobby, der Geschichte des Galopprennsports, die mich auf ihn aufmerksam werden ließ. Da ging es nämlich um das Galoppieren von Rennpferden und um die Beweisführung, dass ein Pferd in dieser schnellen Gangart alle vier Hufe simultan vom Boden hebe. Können Pferde tatsächlich schweben?

Ich war damals fasziniert von den Bildern, die ich bei der Vorbereitung einer Unterrichtsreihe für meine eigentliche Hauptbeschäftigung, also das Lehrerinsein, entdeckt hatte. Auch in Schwarz-Weiß konnte ich mich der Faszination eines galoppierenden Pferdes nicht entziehen, und so wurde es zum Gegenstand einer Unterrichtsstunde im Jahrgang 9, die sich in englischer Sprache mit den Ursprüngen der Filmgeschichte befasste. Wenn ich schon einmal eine Ausrede habe, um den Rennsport in meine Stunden einfließen lassen zu können, kann ich diese natürlich nicht einfach ungenutzt lassen. Eine gewisse Praxiserfahrung lehrt ja zudem, dass Pferde als Thema, und sei es auch nur sekundär, bei reinen Mädchengruppen in der Pubertät wie jener, die ich da zu unterrichten hatte, komischerweise fast immer „gehen“. So war es auch in diesem Fall, also ist mir der Name Eadweard Muybridge recht positiv im Gedächtnis geblieben.

Wer war dieser heute vor 182 Jahren, am 9. April 1830, im englischen Kingston-upon-Thames geborene Mann aber nun, der optisch mit seiner wallenden weißen Haarpracht eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl Marx vorweisen konnte?

Hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl Marx: Eadweard Muybridge

Eadweard Muybridge, oder Edward James Muggeridge, wie sein Geburtsname etwas weniger exotisch eigentlich lautete, war als junger Mann in den 1850er Jahren in die USA ausgewandert, wo er in New York und später San Francisco zunächst als Verleger und Buchhändler arbeitete. Erst als er nach einer schweren Kopfverletzung bei einem Kutschunfall Anfang der 1860er Jahre für eine Weile nach England zurückkehrte, begann er scheinbar, sich intensiver mit der damals noch in den Kinderschuhen steckenden, aber viele Menschen enorm faszinierenden Fotografierkunst zu beschäftigen. Zunächst waren es herkömmliche statische Motive, die er nach seiner Rückkehr in die USA 1866 mit seiner Kamera ins Visier nahm: Landschaften wie etwa im Yosemite National Park, Architekturdetails, aber auch Portraits von Menschen. Diese Arbeiten waren aber nicht der Grund dafür, warum Eadweard Muybridge zumindest im angloamerikanischen Raum zu großer Berühmtheit gelangen sollte, denn sie stellten einfach noch nichts Besonderes dar.

Irgendwann jedoch muss Muybridges Interesse an einem fotografischen Thema erwacht sein, das ein einzelnes mit der Kamera festgehaltenes Bild eigentlich gar nicht spiegeln konnte. Bewegung war es nämlich, die er fotografieren wollte. Und die Gelegenheit dazu ergab sich, als er 1872 vom ehemaligen kalifornischen Gouverneur Leland Stanford, der offenbar neben der Politik auch noch genug Zeit für andere Aktivitäten hatte, engagiert wurde, um eine damals äußerst intensiv diskutierte Streitfrage durch fotografische Dokumentation abschließend zu klären:

Hebt ein galoppierendes Pferd kurzzeitig alle vier Hufe vom Boden ab und begibt sich so in einem Phase des schwebenden Übergangs oder berührt immer stets ein Huf die Erde?

Leland Stanford hatte als Besitzer von Vollblütern persönliches Interesse an dieser Diskussion, und da er nebenbei auch noch einer der reichsten Männer Amerikas war, entschloss er sich, die Entscheidung so herbeizuführen wie es sich für einen Rennstallbesitzer geziemt – durch eine Wette. An dieser Stelle kam Eadweard Muybridge ins Spiel, der eine damals revolutionäre Technologie einsetzte. Eine Staffel aus Kameras wurde zu diesem Zweck in Reihe aufgebaut. Jede Kamera wurde ausgelöst, sobald ein an ihnen vorbei galoppierendes Pferd einen dünnen Faden zerriss. Die so entstandenen Einzelaufnahmen konnten dann in Form von Silhouetten mit einer als Zoopraxiskop bekannten Maschine zusammengefügt und in Bewegung betrachtet werden.




Man kann sich wohl unschwer ausmalen, wie aufwendig die Umsetzung dieses theoretischen Ansatzes in der Praxis gewesen sein mag, und so wundert es auch nicht, dass fünf Jahre vergingen, ehe Muybridge Leland Stanford demonstrieren konnte, dass dessen eigenes Pferd mit dem schönen Namen Occident tatsächlich alle vier Hufe gleichzeitig vom Boden abhob, wenn es galoppierte. Im Gegensatz zur damals populären und auf vielen Gemälden zu beobachtenden Vorstellung geschah dies aber nicht im Moment der größten Streckung, so dass die Vorderbeine nach vorne ausgriffen und die Hinterbeine nach hinten gestreckt waren, sondern in dem Augenblick, in dem sich alle vier Beine unter dem Pferdekörper befinden. Heute mag dies wie eine Binsenweisheit anmuten, doch für die Zeitgenossen von Muybridge und Stanford war diese Feststellung so faszinierend, dass das Experiment in ähnlicher Form noch mehrfach (und auch mit anderen Tieren wie etwa Elefanten und Büffeln) wiederholt wurde, so dass wir heute noch die erhaltenen bewegten Bilder betrachten können. Dass Muybridges Pionierleistung am Übergang von Fotokunst zu Film ihm zunächst wenig Erfolg und Ansehen brachte, lag jedoch auch an einem späteren Streit mit seinem einst so großzügigen Mäzen Stanford, der die Aufnahmen des Fotografen „stahl“ und sie in einem Buch mit dem Titel „The Horse in Motion“ veröffentlichte. Einen gegen Stanford angestrengten Prozess um seine Urheberrechte konnte Muybridge nicht gewinnen.

Nicht nur an pferdischer, sondern auch an menschlicher Bewegung interessiert:
Muybridges Aufnahmen einer (ja, unbekleideten!) Frau beim Treppensteigen 

In einer späteren Schaffensphase dehnte Muybridge sein Interesse auch auf die Anatomie der menschlichen Bewegung aus. Er behielt die wesentliche Technologie bei, die er bereits bei der Fotografie von Tierbewegungen eingesetzt hatte, stellte nun jedoch auch bewegte Aufnahmeserien her, die von boxenden oder Wassereimer tragenden Männern bis hin zu Treppen steigenden nackten Frauen reichten. Inzwischen war der Fotograf hauptsächlich für die Universität von Pennsylvania tätig, reiste aber auch viel in andere Länder und war mit stetig wachsender Popularität eingebunden in ein internationales Netzwerk von wissenschaftlich interessierten Künstlern, die sich etwa mit den Anfängen von Biomechanik, Kinetik und Aerodynamik auseinandersetzten. Die öffentliche Vorführung seiner Serien bewegter Tierbilder, die Muybridge mit seinem Zoopraxiskop 1893 anlässlich der World’s Columbian Exhibition in Chicago organisierte, wird, da an das Publikum Eintrittskarten verkauft wurden, von vielen Filmhistorikern als die Geburtsstunde des Kinos betrachtet.

Antiquarisch und angestaubt wirken die von Muybridge vor über hundert Jahren gemachten Aufnahmen heute in unserer Ära der computergenerierten Special Effects und des wie selbstverständlich verfügbaren digitalen Fernsehens. Zwar hätten wir (in Deutschland) liebend gerne eine bessere Rennverfilmung als die derzeit für deutsche Turffreunde verfügbare Technologie, doch wenn man unser Angebot mit den Produkten von Eadweard Muybridge vergleicht, wird schlagartig deutlich, wie ungeheuer rasant sich die Technologie des Filmens und Fotografierens weiterentwickelt hat. Ohnehin leben wir Menschen des frühen 21. Jahrhunderts in einer grundlegend anderen Zeit, wie abschließend eine weitere Episode aus Muybridges schillernder Biographie illustrieren soll:

Der Fotograf stand nämlich 1874, also genau zu der Zeit, als er sich mit dem Fotografieren bewegter Pferdehufe befasste, vor Gericht, weil er den Liebhaber seiner Frau, einen Theaterkritiker namens Harry Larkins, kaltblütig erschossen hatte. Ins Gefängnis kam er für diese Tat allerdings nicht, denn sie galt seinen Zeitgenossen als verständliches, entschuldbares Delikt. Heute wäre eine solche Entscheidung wohl kaum vorstellbar…

Wer mehr über den Fotografen Eadweard Muybridge erfahren möchte, dem seien diese bereits jetzt schon überaus umfangreichen Websites empfohlen, die sich noch im weiteren Aufbau befinden – eine faszinierende Fundgrube für viel, viel mehr als nur alte Aufnahmen galoppierender Pferde:






Vor zwanzig Jahren: Duell der Oldies - Aufgalopp ins Scheitern eines Traums

Es war einmal vor zwanzig Jahren

Spektakulärer kann man einen Einstand wohl kaum gestalten als jenen, den ein völlig neu in Deutschland aktives Turf-Unternehmen namens „Stall Nordpol“ vor inzwischen auch bereits zwanzig Jahren hinlegte. Damals nämlich gewann ein Pferd mit Namen Friedland den damals bereits als Listenrennen ausgetragenen Grand-Prix-Aufgalopp - beim allerersten Auftritt der blau-gelben Rennfarben überhaupt.

Es war der erste Deutschland-Start des zuvor von Sir Henry Cecil trainierten Nijinski-Sohnes Friedland, so dass es nicht leicht fiel, seine ausnahmslos in Großbritannien erbrachten Vorleistungen realistisch einzuschätzen. Dort hatte er sich nicht gerade auf Black-Type-Niveau bewegt, und so kam er auch nur zu einer knapp dreistelligen Quote an den Ablauf. Die Favoritenrolle war an All Top aus dem Stall von Bruno Schütz gegangen, und auch dem französischen Gast Farisi mit Dominique Boeuf im Sattel trauten die Wetter eine gute Leistung zu. Beide Pferde landeten jedoch später nur im Mittelfeld. Dennoch waren meiner Erinnerung nach im Führring alle Augen auf Friedland gerichtet, was jedoch weniger mit seinen drei in Chepstow, Doncaster und Nottingham in Rennen der Class D und Class F errungenen Erfolgen zu verdanken war, sondern der gespannten Erwartung auf den Mann, der Friedland reiten würde. Es handelte sich nämlich um das englische Jockey-Idol schlechthin – Lester Piggott. Der damals immerhin bereits 56 Jahre „junge“ Reiter war – und das konnte zu Beginn der grünen Turf-Saison 1992 getrost als Sensation gewertet werden – als Stalljockey für den Stall Nordpol verpflichtet worden, der zuvor noch kein Pferd an den Start gebracht hatte.

Lester Piggott in voller Aktion

Auf den internationalen Auktionen hatte dieses neue Turfunternehmen damals jedoch durch seine ambitionierten Einkäufe, die kaum Kosten zu scheuen schienen, bereits für Furore gesorgt. Friedland war nur eines von vielen Pferden, das künftig von Trond Hansen in Iffezheim trainiert und in den Farben des Stalles Nordpol erfolgreich Rennen bestreiten sollte. Viel spektakulärer wirkte da etwa der wenig später bekannt gewordene Erwerb des nach der Saison 1991 in drei Rennen ungeschlagenen Winterfavoriten Vincenzo, mit dem man – natürlich! – gleich das Derby ins Visier zu nehmen gedachte. Dass daraus später nichts wurde – nun ja, das konnte im zeitigen Frühjahr 1992 schließlich noch niemand ahnen.

Blickt man zurück in die Sport-Welt-Ausgaben der frühen Saison 1992, so vergeht gefühlt kaum eine Ausgabe ohne die Nennung des Stalles Nordpol in einer Schlagzeile auf der Titelseite. Es müsse von allem das Beste sein, so zitierte im Januar 1992 sogar das Hamburger Abendblatt den fast durchgängig als „Turf-Neuling“ titulierten Unternehmer Arnold Nothdurft, der sich hinter dem Stall Nordpol verbarg und innerhalb kürzester Zeit enorme Summen – von Millionen ist an manchen Stellen die Rede – in seine neue Leidenschaft, den Galopprennsport, investierte. Kein Wunder, dass man da schnell auf ihn aufmerksam wurde und darüber diskutierte, ob solch ein Einstieg quasi mit der Brechstange funktionieren konnte.

Und dann also Lester Piggott – nicht als gelegentlich gebuchter Gastreiter für die angestrebten großen Rennen, sondern tatsächlich als echter Stalljockey… in Deutschland! Ich erinnere mich gut an die Reaktion meines Patenonkels, der nie müde wurde zu berichten, wie er einmal ein großer Anhänger des englischen Meisterjockeys gewesen war, seine Meinung aber nach „der elenden Geschichte mit Literat im Derby 1968“ grundlegend geändert habe. Seitdem war ihm jedes Sympathiegefühl für „den Lester“ vergangen, „egal wie genial der jetzt reitet.“. Seine ziemlich entrüstete Meinung: „Außerdem ist der doch inzwischen alt. Der ist ein Jahr älter als ich. Was soll das denn geben? ICH wette den nicht!“

Dies war eine Meinung, die ganz gewiss nicht von allen Rennbahnbesuchern geteilt wurde, als wir am 22. März 1992 geduldig auf das Erscheinen der englischen Jockeylegende warteten. Man hörte sie tuscheln, die Leute links und rechts, und dann kam er endlich! Ich verband ja damals kaum eigene Erlebnisse mit Lester Piggott, hatte ihn auch, soweit ich weiß, noch nie vorher in Deutschland reiten sehen, aber die spürbare Ehrfurcht, die ihn beim Aufsitzen und seiner Runde durch den Führring begleitete, hat sich auch auf mich übertragen.

„Sollen wir ihn nicht doch wetten?“ startete ich einen schüchternen Versuch unter dem Eindruck des scheinbar denkwürdigen Moments.

„Nix! Der kommt mir nicht auf den Wettschein. Außerdem, seit wann werden wir unseren Pferden untreu?“

Das rückte mein Weltbild schlagartig wieder zurecht, denn natürlich – „wir“ hatten ja auch ein Pferd im Rennen… und was für eines! Lackel hieß er und war im Vorjahr als Dreijähriger in einer beeindruckenden fünffachen (!) Siegesserie durch die Ausgleiche marschiert. Natürlich wollte mein Onkel den Hengst aus dem von ihm stets favorisierten Olymp-Stall wetten.

„Außerdem reitet den der Alafi. Das ist mal ein alter Mann, dem ich mein Geld gerne anvertraue!“

So sprach er mit einem Augenzwinkern und verabschiedete sich in Richtung Wettkasse, während ich, wie immer in Köln, schon einmal Richtung Geläuf aufbrach, um möglichst den Aufgalopp noch zu sehen.

Was dann wenig später folgte, war tatsächlich ein denkwürdiges Rennen, denn es kam zu einem faszinierenden Zweikampf der beiden „alten Männer oder, wie es der Jahresrennkalender festhielt, einem „Duell der Oldies“. Die Favoriten hatten nichts zu melden, und fast schien „unser“ Lackel schon gewonnen zu haben, als Lester Piggott sämtliche Reserven entfaltete und zu einer Aufholjagd ansetzte, die am Ende knapp, wirklich knapp, zum Erfolg führte. Peter Alafi kam es nämlich gar nicht in den Sinn klein beizugeben. Er gab sein Bestes, aber um einen Kopf, mehr nicht, war Friedland im Ziel schließlich vor Lackel. 


Zog 1991 im "Duell der Oldies" knapp den Kürzeren: Peter Alafi
Auch wenn der Ausgang nicht ganz nach meinem Geschmack war, ist mir der packende Endkampf zwischen den beiden Jockeylegenden doch nachhaltig im Gedächtnis geblieben – ebenso wie das breite Grinsen meines Onkels, der mir triumphierend seinen Wettschein präsentierte.

„Da, die zahlt ordentlich, jede Wette!“

Da hatte er doch tatsächlich ohne mir ein Sterbenswörtchen zu verraten ganz spontan für eine Mark die Zweierwette mit den beiden „alten Männern“ gespielt – und zwar zum Glück hin und zurück, so dass er wirklich gewonnen hatte.

„Ich wollte ja erst nicht, weil Piggott aus Prinzip nicht, aber dann dachte ich, ach komm, so zum Spaß!“

Gewonnen also... Hat mich seinerzeit die Höhe des Gewinns gekümmert? Nein, eher nicht, denn mir ging es ja damals schon immer viel mehr um das Erlebnis Rennsport an sich, um die Spannung, das Tempo, die faszinierende Ästhetik der Vollblüter. Da waren Wettscheine für mich immer nur Nebensache. Ich erinnere mich aber noch daran, dass es an jenem Abend zur Feier des Tages Pizza gab, ehe wir den Heimweg antraten, und wenn ich heute in den Rennkalender blicke und sehe, dass die Zweierwette Friedland – Lackel im Grand-Prix-Aufgalopp 1992 stolze 1692:10 gezahlt hat, waren das wirklich zwei sehr erfolgreich investierte Markstücke, die mein Onkel da „so zum Spaß“ ausgegeben hatte. Für uns war es also, obwohl ja unser Favorit denkbar knapp verloren hatte, ein erfolgreicher Renntag gewesen. Auch im Lager des Stalles Nordpol dürfte man sich über diesen Einstand nach Maß gefreut haben. Was konnte schließlich Besseres passieren als gleich beim ersten Versuch einen Black-Type-Sieger in den eigenen Farben vom Geläuf holen zu können?

Ein Omen für künftige Sensationen? Man wird es sich erhofft und gewünscht haben, doch zerplatzten in den folgenden Wochen und Monaten alle Träume des Arnold Nothdurft wie eine ganze Schar von Seifenblasen. Wie viel Pech ein Stall haben kann, und das auch noch in kürzester Zeit, das erlebten der „Turf-Neuling“ Arnold Nothdurft und sein Team schon bald. Siege blieben nämlich nach dem Einstandserfolg absolute Mangelware. Zwar gelangen einige Platzierungen, so etwa mit einem weiteren englischen Import namens Autocracy im Orakel der Dreijährigen (Lester Piggott am Raffelberg in Mülheim!!!), aber wenn man bedachte, mit welchen hohen Vorstellungen man wohl all dieses Geld auf den Auktionen investiert hatte, konnten Platzierungen allein kaum zufriedenstellen. Auch ein weiterer Sensationseinkauf, der Arc-Fünfte des Vorjahres namens Pigeon Voyageur, wurde Anfang Mai 1992 im Gerling-Preis lediglich Fünfter hinter Lomitas und anderen deutschen Galoppern. Das muss eine handfeste Enttäuschung gewesen sein, über die auch einige wenige „kleinere“ Siege kaum hinwegtrösten konnten.

Und so traten schon bald die ersten Kritiker auf den Plan, die es – natürlich! – bereits vorher gewusst hatten. Arnold Nothdurft sei selbstverständlich schlecht beraten worden bei all seinen teuren Auktionskäufen. Autocracy etwa habe mit acht Zweijährigenstarts trotz gewisser Erfolge eine viel zu harte Saison absolviert, so erklärten sie, und sei „platt“. Man ist geneigt, dieser Einschätzung rückblickend  zuzustimmen, denn weder im Frankfurter Preis der Steigenberger Hotels, noch Anfang Mai im Mehl-Mülhens-Rennen konnte der teure Hoffnungsträger auch nur entfernt überzeugen. In Köln wurde er gar nur Letzter, um anschließend für den Rest der Saison von der Bildfläche zu verschwinden. Und dann Vincenzo… Der war sicher alles andere als ein schlechtes Rennpferd, und sein zweiter Platz hinter einem gewissen Platini im Dr. Busch-Memorial mochte ja noch akzeptabel gewesen sein, denn der war ja ebenfalls bereits doppelter Zweijährigensieger und im Preis des Winterfavoriten Zweiter hinter Vincenzo gewesen. Ein würdiger Gegner also, gegen den man durchaus verlieren durfte, wenn man Pech hatte... Doch dann folgte der Hertie-Preis in München, in dem Vincenzo dramatisch schlecht lief und in einem Elferfeld nur Neunter wurde. Nasenbluten...


Auch von Vincenzo sah man im weiteren Saisonverlauf 1992 nichts mehr. Doch sein Ausfall blieb leider kein Einzelereignis. Und Pigeon Voyageur? Nun, der lief noch einmal in Hamburg im Hansa-Preis und wurde… Letzter. Während Lomitas vorne seiner triumphalen Karriere einen weiteren großen Sieg hinzufügte, gingen die großen Träume von Arnold Nothdurft in diesem Moment wohl endgültig baden.


Hektik brach aus, von einem Virus im Stall war im weiteren Saisonverlauf die Rede, von schädigenden Wasseradern unter dem Stallgebäude gar. Das Kapitel Lester Piggott, das mit Friedlands Sieg im Kölner Grand-Prix-Aufgalopp so vielversprechend begonnen hatte, war da schon längst erledigt, denn ausgerechnet jener Friedland war es, auf dem der englische Maestro am 26. Mai 1992 in Baden-Baden seinen letzten Deutschland-Ritt in den Farben des Stalles Nordpol absolvierte. Im Silbernen Pferd, einem Ausgleich I über Derbydistanz, wurden sie – richtig! – Zehnte und Letzte. Liest man im Rennkalender von drückender Schwüle und einem von Friedland „höllisch schnell gelaufenen Rennen“, so liegt der Verdacht nahe, dass der Meisterjockey wahrlich keinen meisterlichen Tag erwischt hatte. Am Ende wurde er mit Friedland sang- und klanglos überlaufen und endete deutlich mehr als eine Weile (!) hinter dem Sieger.


Zu sehen bekam das deutsche Turfpublikum Lester Piggott durchaus noch gelegentlich, so etwa Anfang September 1992, als er sich mit dem von Lord Huntingdon trainierten Sharp Prod in den Farben von Königin Elizabeth II. das Moet & Chandon-Rennen in Iffezheim holte. Auch in Hoppegarten hatte er im Monat zuvor mit dem Sieg auf Mr. Brooks im Großen Preis von Berlin einen kapitalen Treffer landen können. Dass bei jener Gelegenheit Dawson Place, also ein Pferd in den Farben seines Kurzzeit-Arbeitgebers vom Stall Nordpol, lediglich hinterherlief und Achter wurde, war scheinbar nur traurig-symptomatisch für das gesamte Geschehen um Arnold Nothdurfts Turfunternehmen. 

Zunehmend brach im Verlauf der Saison Hektik aus im Quartier des Stalls Nordpol, zumal nicht wenige Rennbahnbesucher und Turfjournalisten ein gewisses Maß an Häme kaum verstecken konnten oder wollten. Von Wünschelrutengängern war da plötzlich die Rede, die die gefährlichen Wasseradern suchten... nun ja. Viele Köche wollten in den Topf mit der trotz erlesener Zutaten mysteriös so gar nicht schmackhaften Suppe schauen, viele Berater berieten, aber nicht alle hatten wohl vornehmlich uneigennützige Ziele. Von Ausnutzung war die Rede, von Leichtgläubigkeit ebenso...


Wie dem auch sei: Nichts wollte so recht funktionieren, und so wechselten die Nordpol-Pferde im Sommer urplötzlich das Quartier und landeten bei Erika Mäder in Krefeld. Dort gelang immerhin ein Sieg mit Dawson Place, doch kaum waren die Pferde da, waren sie auch schon wieder fort und gingen zurück in die Obhut ihres alten Trainers Trond Hansen. Sicher hatte Arnold Nothdurft sich sein Engagement im Galoppsport grundlegend anders vorgestellt, doch für Schlagzeilen sorgten inzwischen fast nur noch solche Kabinettstückchen statt großer Siege seiner Pferde. Ein wenig schien sich die Situation in Richtung Herbst 1992 zu stabilisieren, doch auch wenn mit Canadian Prince und Dawson Place Treffer in (immerhin!) Listenrennen gelangen, war der Stall Nordpol schon längst eher zu einem Objekt der Schadenfreude als zu einem brillierenden Wunderkind des deutschen Turfs geworden.

Doch man gab nicht auf, sondern überstellte Anfang 1993 praktisch alle Pferde in ein topmodernes Quartier in Warendorf, wo sie künftig unter der Obhut von Georg Ording vorbereitet werden sollten. Der ehemalige große Hoffnungsträger Vincenzo tauchte wieder auf und machte seine Sache mit neuer Kraft durchaus gut, so dass er sich Ende 1993 in Mailand immerhin ein Grupperennen holen konnte. Mit Pigeon Voyageur war jedoch auch nach diesem erneuten Trainer- und Standortwechsel kein Blumentopf mehr zu gewinnen. Friedland gelang zumindest eine Wiederholung seines Vorjahrestreffers im Kölner Grand-Prix-Aufgalopp, ehe auch er erneut seine Form verlor.

Durfte ebenfalls Nordpol-Pferde trainieren:
Erika Mäder

In den Folgejahren durften dann neben Georg Ording mit Jutta Schultheis in Warendorf und erneut Erika Mäder auch zwei der damals im deutschen Rennsport angesagtesten Trainerinnen Nordpol-Pferde vorbereiten, ehe schließlich 1996, als das Engagement des einst so engagierten Besitzers zahlenmäßig schon deutlich zurückgefahren worden war, auch Hans-Albert Blume bedacht wurde. Mit dem Namen Val di Taro, einem Bruder von Vincenzo, verbanden sich noch einmal allergrößte Hoffnungen, doch konnte der Hengst diese nie so recht umsetzen. Er gewann ein Sieglosenrennen, war dann aber in der Dortmunder Derbyvorprüfung lediglich Fünfter. Er startete dennoch in Horn, wo er sang- und klanglos als Dreizehnter ins Ziel trudelte und die Saison bereits beenden musste. Als Fünfjähriger gewann er immerhin nach einer langen Pause in den Farben seines Trainers einige Rennen bis hinauf in den Ausgleich I.

Der Stall Nordpol war damals jedoch bereits weitergezogen. Mal wieder...

Noch ein Nordpol-Trainer:
Mario Hofer

Die Hofer-Brüder waren nach einer gewissen Durststrecke neuer Motor für Arnold Nothdurfts Turf-Aktivitäten, aber auch hier blieben die ganz großen Erfolge aus, so dass nach einer Phase bei Urs Suter schließlich kurz nach der Jahrtausendwende keine Starter in den Farben des einst so hoffnungsvoll und mit gewaltigem finanziellem Aufwand gestarteten Stalls Nordpol mehr zu verzeichnen waren. Friedland, mit dem diese „Es-war-einmal“-Geschichte begann, wurde übrigens Deckhengst, zunächst in der Tschechischen Republik, ehe er laut www.pedigreequery.com 2004 in Polen aufgestellt wurde. Bedeutende Spuren scheint er dort allerdings nicht hinterlassen zu haben.

Gibt es eine Moral von der Geschicht‘? Vielleicht… und sicher auch eine Menge möglicher und unmöglicher Erklärungsversuche… Aber vielleicht sollte am Ende das Bedauern überwiegen, dass ein ehrgeiziges Projekt aus welchen Gründen auch immer am Ende ziemlich sang- und klanglos endete. Daraus hätte deutlich mehr werden können.