Sonntag, 6. Mai 2012

Vor zehn Jahren: Have another Mint Julep on War Emblem?


Es war einmal vor zehn Jahren


Mit dem heutigen Bericht bewege ich mich für meine Verhältnisse ziemlich weit über meine üblichen Interessensgrenzen hinaus, denn ich bin einfach sehr stark auf den deutschen Galopprennsport fokussiert. Das hat möglicherweise mit meiner frühkindlichen Prägung als Ruhrgebietspflanze und Patenkind eines Rennsportfreundes zu tun, für den bereits die jährlichen Meetings in Hamburg und die Große Woche in Iffezheim große Reisen bedeuteten…

Das Geschehen im Rest Europas interessiert mich allerdings seit einigen Jahren schon deutlich mehr, aber zu behaupten, dass ich von der amerikanischen Rennsportszene gesteigerte Ahnung hätte, wäre wirklich extrem übertrieben. Was dort, im Land der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten, geschieht, bekomme ich normalerweise eher am Rande (wenn überhaupt) mit. Manches, was dort üblich ist, betrachte ich in ziemlich negativem oder zumindest skeptischem Licht. Und dennoch bin ich heute Nacht lange wach geblieben, um mir ein absolutes Highlight des US-Rennsportkalenders im Livestream anzusehen – das Kentucky Derby.

Auslosung der Startboxen in Kentucky - nicht mit Hein Bollow

Um zu erklären, wie es zu dieser freiwilligen Nachtwache kam, muss ich aber ein wenig ausholen und gleichzeitig in nostalgischen Erinnerungen an die Zeit damals vor zehn Jahren schwelgen, die zunächst einmal rein gar nichts mit dem Galopprennsport zu tun hatten, mich dann aber doch ganz unverhofft dazu brachten, mein erstes (und bis dato auch einziges) Kentucky Derby so zu zelebrieren wie es eben viele Amerikaner tun. Aber der Reihe nach…

Vor zehn Jahren schrieben wir das Jahr 2002, und ich befand mich mitten im Referendariat für den Schuldienst in NRW. So langsam kam das zweite Staatsexamen immer näher, und die ständige Mischung aus sehr hoher Arbeitsbelastung, permanenter Selbst- und Fremdhinterfragung sowie chronischem Schlafmangel (in anderen Worten: vollkommen normal im Referendariat) hatten bei mir zu einer sehr starken, einseitigen Fixierung auf alles Schulische und die Aufgabe praktisch sämtlicher Hobbys und Freizeit geführt (auch das leider kein unübliches Phänomen). So hatte ich 2001 auch die Zahl meiner Rennbahnbesuche im Vergleich zu den Vorjahren deutlich eingeschränkt und habe auf dem grünen Rasen einige Dinge verpasst. Irgendwie hatte ich nur noch Schule und Lehrerinwerden im Kopf.

Eines Tages früh im Jahre 2002 sprach mich meine Seminarleitung überraschend auf dem Gang an und meinte, ob ich denn schon etwas geplant hätte für den obligatorischen Auslandsaufenthalt, den ich im Rahmen meiner Zusatzausbildung für den Einsatz an bilingualen Zweigen absolvieren müsste. Äh… bitte was?

Ich war zunächst einmal ziemlich konsterniert. Dass ich davon noch nichts gehört hatte, war nicht besonders verwunderlich, denn es gab diese Regel, die das Kultusministerium meines Heimatbundeslandes in seiner unermesslichen Güte spontan vom Himmel hatte fallen lassen, um sie für die folgenden Jahrgänge prompt wieder aufzuweichen, erst seit einem knappen Monat. Mir als einziger betroffener bilingualer Referendarin an meinem Seminar hatte man natürlich nichts davon gesagt. Warum auch? Nicht dass ich den Sinn und gleichzeitig den Reiz eines solchen längeren Auslandsaufenthaltes in einem (für meine Zwecke) englischsprachigen Land nicht eingesehen hätte, aber mitten im Referendariat? So plötzlich? Und logischerweise ohne irgendwelche finanzielle oder logistische Unterstützung?

Sagen wir so: Es war eine ziemliche Herausforderung, die vorgeschriebenen zwei Monate irgendwie selbstständig zu organisieren, aber letztlich kam ich so ganz unverhofft in den Genuss einer Erfahrung, an die ich mich bis heute äußerst positiv und mit viel Dankbarkeit erinnere, denn durch die großzügige Hilfe und enorme Gastfreundschaft vieler verschiedener Menschen auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans wurde es eine unvergessliche, enorm bereichernde Zeit.

Atlanta, Georgia in den USA - anno 2002 mein Praktikumszuhause für zwei Monate 

Möglich war dies alles nur dadurch, dass meine Ausbildungsschule hier im Ruhrgebiet eine Partnerschaft mit einer High School in Atlanta, Georgia hatte. Der dorthin zaghaft aufgenommene Kontakt brachte mich bald in einen immer angeregteren E-Mail-Austausch mit Elizabeth, der Leiterin des dortigen Social Studies Departments, die mir auf Anhieb ungeheuer sympathisch war. Obwohl sie mich ja gar nicht kannte, warf Elizabeth sich voll in die Vorbereitung meines Aufenthalts an ihrer Schule, half mir mit Formularen und administrativen Anträgen, und fand für mich vier Gastfamilien, die mich jeweils für zwei Wochen meiner Zeit in Atlanta betreuen würden. Man stelle sich so etwas an einer deutschen Schule vor… unglaublich, eigentlich! Es musste sogar eine Art Casting veranstaltet werden, da sich etwa vierfach so viele mögliche Gastfamilien für den „visiting student teacher from Germany“ gemeldet hatten wie überhaupt benötigt wurden!

In der zweiten Märzwoche ging es dann los über den großen Teich. Noch heute kann ich nur schwärmen von den vielen, vielen positiven Erfahrungen, die ich in den kommenden knapp neun Wochen in Atlanta gemacht habe. Viel gelernt, viel gesehen, viel erfahren – eine ganz intensive Zeit, und das verdanke ich neben der ausgesprochen warmherzigen Elizabeth und den oft fantastischen jungen Amerikanern, die ich an „meiner“ High School kennen lernen durfte, besonders meinen Gastfamilien. Jede davon war auf ihre ganz eigene Art völlig individuell und überhaupt nicht so stereotyp wie uns Fernseh-Sitcoms weismachen wollen, und vor allem haben sie mich alle mit offenen Armen aufgenommen und in kürzester Zeit in ihr ganz normales Familienleben integriert.

Merkt man, dass ich auch heute, immerhin zehn Jahre später, noch vollkommen begeistert bin?

Ja?

Dann ist es ja gut.

Es wurden also zwei fantastische Monate, aber was ich in meiner letzten Woche in Atlanta erlebt habe, schlug alles bis dahin Geschehene noch einmal um Längen – und so langsam kommt nun auch wieder der Galopprennsport ins Spiel.

Gastfamilie Nummer 4 war nämlich an und für sich gar nicht aus Atlanta, sondern nur der Arbeit wegen zugezogen. Sie stammte aus einer New Yorker Familie und arbeitete kunst- und bewegungstherapeutisch mit mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen, er war Steuerfachanwalt und stammte aus Kentucky. Ja, genau… aus Kentucky – gleich sind wir wieder bei den Pferden. Als ich nämlich das erste Mal in das Haus meiner letzten Gastfamilie trat (man stelle sich in etwa eine Wohngegend wie die Wisteria Lane aus der Fernsehserie „Desperate Housewives“ vor), fiel mein Blick sofort auf ein riesiges Gemälde mit einer packenden Rennsportszene. Das Bild hatte die Herrin des Hauses, wie ich später erfuhr, selbst gemalt, und es zog mich logischerweise sofort in seinen Bann.

So ähnlich, ganz im Stil der Wisteria Lane, sah es aus, das Zuhause von Gastfamilie Nr. 4

Beim ersten gemeinsamen Abendessen, einer relaxten Grillrunde rund um den kleinen Pool im Garten hinter dem Haus, kamen wir angeregt durch das Gemälde auch auf das Thema Galopprennsport zu sprechen. Wie sich herausstellte, hatte mein Gastvater seiner Liebsten auf der Rennbahn von Churchill Downs (allerdings quasi menschenleer im Rahmen eines Picknicks drei Tage vor dem großen Derby Day) einst den Hochzeitsantrag gemacht. Er selbst war als Kind jedes Jahr mit seinem Großvater beim Run for the Roses gewesen und schwärmte von all den Pferden, die er dort live erlebt hatte: Northern Dancer und Secretariat, das waren zumindest zwei Namen, mit denen ich etwas anfangen konnte. Auch seine Frau und die beiden damals im Grund- und Mittelschulalter befindlichen Kinder hatten sich bei ihm mit der Begeisterung für das Kentucky Derby angesteckt, und so erfuhr ich bald, dass die inzwischen 128. Austragung des großen Rennens gar nicht mehr weit entfernt lag.

Auch ein netter Ort für einen Heiratsantrag: Die Rennbahn Churchill Downs
Dieser Abend mit Gastfamilie Nr. 4 war ein prima Auftakt zu den zwei abschließenden Wochen meines Atlanta-Aufenthalts, der ja auch vorher alles andere als unangenehm gewesen war. Wir haben nicht nur (aber immer wieder!) über Rennsport miteinander gesprochen, und sie hatten tatsächlich ernsthaftes Interesse am deutschen Galoppgeschehen, kramten sogar einen Atlas hervor, um nachzusehen, wo Hamburg liegt, also der Ort, an dem unser Derby traditionell gelaufen wird, und ließen sich von mir von einigen deutschen Turf-Helden namens Acatenango, Orofino, Lando und Co. erzählen. Den Namen Lomitas kannten sie sogar, vor allem, weil die Tochter des Hauses Monty Roberts sehr verehrte. Und der gesamten Familie war anzumerken, dass sich das Thema Galopprennsport auch in der Exil-Heimat Atlanta immer wieder durch den Alltag zog.

Tja, und dann offenbarten sie mir am Anfang meiner letzten Woche in Amerika, dass sie mich eigentlich gerne behalten würden , aber wenn ich schon wieder nach Hause müsse, zumindest eine schöne Abschiedsparty für mich machen wollten. Vor überraschter Rührung konnte ich gar nicht richtig antworten, und es wurde noch besser, als mir meine Gastmutter erklärte, es solle eine typisch amerikanische Nachbarschaftsparty werden, zu der jeder Gast etwas beiträgt, denn sie wollten alle einladen, mit denen ich während meiner zwei Monate in ihrem Land engeren Kontakt gehabt habe. Und als Motto hatten sie an „Derby Day“ gedacht. Wie ich das finden würde…

Na, wie wohl?

Was für eine großartige Idee!

Ich war begeistert und half gerne, wenn auch recht wehmütig wegen des bevorstehenden Abschieds von diesen lieben Menschen, bei den Vorbereitungen mit, die aber typisch amerikanisch sehr entspannt und in guter Stimmung abliefen. Von den Kindern des Hauses lernte ich Melodie und Text der Hymne „My Old Kentucky Home“, bis ich beides zumindest mitsingen konnte. Meine Gastmutter weihte mich in die Zubereitung des traditionellen Getränks Mint Julep (inklusive der alkoholfreien Variante für die zahlreich erwarteten Kinder) ein, wir bereiteten Snacks vor, stellten Liegestühle rund um den Pool und Plastikstühle sowie einen Pavillon in den Garten und kauften allerhand Dekomaterial für einen Hutdekorationswettbewerb. Rosensträuße dienten als Dekoration, die meisten davon aus dem eigenen Garten. Auf den ebenfalls traditionellen Eintopf Burgoo wurde dann doch verzichtet, weil es am Tag der Party in Atlanta wieder einmal sehr heiß wurde, aber Burger und Steaks wollte der Hausherr mit seinem Sohn grillen, und er verriet mir mit einem Augenzwinkern, dass die sowieso leckerer seien als Burgoo.

Muss beim Kentucky Derby sein: Mint Julep

Irgendwann zwischendurch wurde auch das Starterfeld des Derby-Rennens studiert, denn es sollte ja den in Amerika üblichen Derby Pool unter allen Anwesenden geben, ehe der Start erfolgte. Mir sagten die Namen logischerweise alle nichts, aber meine Gastfamilie geriet in heftige Diskussionen über die Abstammung, Vorleistungen und allgemeinen Chancen aller möglichen Kandidaten, die darauf hinausliefen, dass jeder Gast eine gewisse Anzahl Jelly Beans beim Eintreffen bekommen würde, mit denen dann Pferde statt mit echtem Geld ersteigert werden konnten.

Und dann war der große Tag da – erster Samstag im Mai, der Tag nach meinem ziemlich tränenreichen Abschied von den tollen Klassen meiner High School auf Zeit. Es war morgens schon sommerlich warm, also warf ich mich ebenso wie meine Gastmutter und -schwester in ein leichtes Kleid und Sandalen und half bei den letzten Vorbereitungen, ehe dann die Gäste für die Kentucky Derby and Farewell Party eintrafen. Und alle kamen… meine übrigen drei Gastfamilien mit Kindern und dem einen oder anderen Großelternteil, die Nachbarn, einige der Lehrer, bei denen ich hospitiert und eigene Unterrichtsversuche absolviert hatte, der Priester der katholischen Gemeinde, in der ich mit Gastfamilie Nr. 2 öfter gewesen war, aber auch der Rabbi von Gastfamilie Nr. 3, meine Betreuerin Elizabeth, die netten Nachbarn… Das Kentucky-Derby-Fieber hatte sie alle erfasst. Insgesamt werden es wohl um die fünfzig Gäste gewesen sein, unter denen viele Kinder waren.

Es war eine ganz und gar ungezwungene Atmosphäre, denn jeder hatte etwas fürs Büffet mitgebracht (und alles, aber auch wirklich alles war lecker!), Getränke gab es reichlich, wer wollte, sprang einfach in den Pool, alle Gäste unterhielten sich angeregt miteinander, auch wenn sie sich vor meinem Praktikum gar nicht gekannt hatten, der Barbecue-Grill lief auf Hochtouren, Hutwettbewerb und Derby-Pool waren ein voller Erfolg. Allerdings waren die Jelly Beans verschwunden (vermutlich von einem Kind gegessen), also wurde die geplante Versteigerung kurzerhand in eine Verlosung umfunktioniert. Niemand nahm das Missgeschick krumm, und es wurde viel gelacht, vor allem als ich meinen blind von der Liste gewählten Wunschkandidaten namens Saarland tatsächlich bekam. Irgendwie musste ich ja ein wenig Lokalpatriotismus zeigen, und wenn da schon ein deutsches Bundesland in Kentucky mitlief… Das Schicksal schien es so zu wollen.

Der Sohn von Gastfamilie Nr. 1 erloste mindestens so ahnungslos in Sachen amerikanischer Rennsport wie ich ein Pferd namens War Emblem und versuchte zwei Stunden lang, seinen Vierbeiner mit demjenigen seiner Schwester zu tauschen, aber die hatte Medaglia d’Oro, einen Vorabfavoriten, erwischt und gab ihn logischerweise nicht mehr her, zumal ihr Vater ihr verraten hatte, dass der Name auf Italienisch „Goldmedaille“ hieß. Da konnte das Pferd ja nur gewinnen… dachte sie.

Medaglia d'Oro - nicht der Sieger, aber später immerhin Vater einer gewissen Rachel Alexandra

Schließlich rückte, während es im weit entfernten Deutschland schon wieder Nacht war, die Startzeit heran, und der Pool lag vollkommen verlassen im Sonnenlicht, der Grill war verwaist und dafür das Wohnzimmer der Gastfamilie rappelvoll, denn alle hatten sich vor dem (zum Glück großen) Fernseher versammelt. Kinder im Schneidersitz auf dem Boden, Erwachsene auf, neben und hinter dem XXL-Sofa, und alle sprangen auf, als „My Old Kentucky Home“ gespielt wurde. Natürlich wurde mitgesungen, und es stellte sich heraus, dass auch in den anderen Familien geübt worden war. Diese Atmosphäre verschaffte mir einen winzigen, aber nachhaltigen Eindruck davon, wie die Stimmung wohl am Ort des Geschehens in Churchill Downs selbst sein mochte, und Gastvater Nr. 4 versprach seinen Kindern spontan, eine alte Familientradition aufleben zu lassen. „Next year I am taking you all there.“ Tochter und Sohn nickten zustimmend und starrten weiter gebannt auf den Fernseher.

„Aaaaannnd they’re off!“



Ich muss gestehen, dass ich einen großen Teil der ersten Hälfte des Rennens mit der Orientierung im Feld und dem Suchen nach den Rennfarben meines Pferdes Saarland (lange Zeit Vorletzter, später eher unspektakulär auf dem zehnten Platz im Ziel) verbracht habe. Erst recht spät fand meine Aufmerksamkeit den Führenden War Emblem, was aber vor allem an Sohn von Gastfamilie Nr. 1 lag, der direkt vor mir auf dem Teppich saß und unkontrollierte herumwibbelte, als er entdeckte, dass er den Spitzenreiter gezogen hatte. Und der machte – anders als Bodemeister in der 138. Austragung des Kentucky Derbys gestern Nacht, keine Anstalten, einem heraneilenden Angreifer zu weichen, denn er legte, als es in die Zielgerade ging, immer und immer wieder neu zu, so dass er mit sehr komfortablem Abstand vor Proud Citizen (nicht zu verwechseln mit dem kürzlich in Frankfurt erfolgreichen deutschen Namensvetter) und Perfect Drift gewann.

War Emblem gewinnt die 128. Austragung des Kentucky Derby

Um mich herum herrschten damals in Atlanta begeisterter Jubel und aufgeregtes Quietschen, man fiel sich in die Arme, dem ziemlich konsternierten Sohn von Gastfamilie Nr. 1 wurde mindestens so enthusiastisch zu seinem Losglück gratuliert als hätte er selbst, und nicht Jockey Victor Espinoza War Emblem zum Erfolg geritten. Das alles war einfach nur ansteckend in seiner Hingabe an die gute Laune und das Mitfeiern eines nationalen Sportereignisses mit langer, ehrwürdiger Tradition. Ich habe mich gerne mitreißen lassen, und so endete die Party an jenem 128. Kentucky Derby Day erst ziemlich spät am Abend, als die ersten Kinder schon längst erschöpft auf irgendwelchen Sesseln oder in den Armen ihrer Eltern eingeschlafen waren.

Es war also ein Abschluss für ein wider Erwarten fantastisches Auslandspraktikum, der so ziemlich alles übertraf, was ich bis dahin an gemeinsamem Feiern miterlebt hatte. Am folgenden Montag reiste ich wieder zurück nach Deutschland, um mich an die letzte Etappe meines Referendariats zu machen, aber diese Kentucky Derby and Farewell Party habe ich logischerweise nie vergessen. Auch zu einigen der damals anwesenden Amerikaner habe ich – sozialen Netzwerken sei Dank! – nach wie vor regelmäßigen Kontakt, so auch zur Mutter des mit dem Los von War Emblem beglückten Sohnes von Gastfamilie Nr. 1. Inzwischen wohnt die Familie, nachdem die Kinder im College sind, nicht mehr in Atlanta, aber ein wenig scheint der Rennsport diese Frau immer noch gepackt zu haben, denn sie schrieb mit gestern Nachmittag, während ich in Mülheim auf der (im Vergleich zu Kentucky natürlich arg trostlosen und menschenleeren) Rennbahn war, dass sie in ihrem Office Derby Pool (was es in den USA alles gibt… kann sich jemand das in Deutschfussballland vorstellen?) ein Pferd namens I’ll Have Another gezogen habe.

I'll Have Another - Sieger in Kentucky 2102

Sie spekulierte, dass damit wohl der Mint Julep gemeint sein müsse, den sie abends zur Feier des Derby Day und in Erinnerung an unsere tolle Feier damals in Atlanta trinken werde. Hausgemacht, natürlich… Ihrer Meinung nach müsse ja eigentlich Bodemeister gewinnen, ein Pferd, bei dem sie immer an mich denken müsse, weil sein Name so deutsch klinge. Im Chat haben wir noch ein wenig über dieses und jenes getratscht, wie es den Kindern so geht hauptsächlich, und als ich feststellte, dass es schon relativ spät war, habe ich mich spontan entschlossen, für das Derby-Rennen wach zu bleiben. Und anschließend konnte ich ja dann gleich gratulieren, denn wieder einmal hat diese amerikanische Familie Losglück gehabt. 



I’ll Have Another sprintete auf der Schlussgeraden noch am lange führenden Bodemeister vorbei, und schon einige Längen vor dem Ziel war klar, dass er, geritten von einem bis dato ziemlichen Jockey-Nobody namens Mario Gutierrez, zu einem spektakulären Triumph unterwegs war. So ganz nebenbei… Gutierrez ist Sohn eines Jockeys, in Mexiko geboren, ritt dort seit er vierzehn Jahre alt war Quarter Horses und emigrierte 2006 nach Kanada, wo er zwar recht erfolgreich war. Aber ein Star der amerikanischen Jockeyszene zu werden – dass ihm das so rasch gelingen würde wie durch die Siege mit I’ll Have Another im Santa Anita Derby und gestern Nacht in Kentucky, das hätte er sich vermutlich kaum träumen lassen. Wer weiß, vielleicht wird der Kentucky Derby Winner dieses Jahres ja später einmal ganz am Anfang einer großen Jockey-Karriere stehen, die für den bei seinem Interview nach dem Ziel sehr sympathischen Mario Gutierrez einen ganz persönlichen American Dream wahr macht.

Überaus sympathische Sieger: Mario Gutierrez und I'll Have Another

Ein Sieg in den Preakness Stakes, wie er I’ll Have Anothers Vorgänger War Emblem vor zehn Jahren im Anschluss an das Kentucky Derby gelang, würde da sicher helfen, doch noch ist das – ebenso wie das mögliche Erlangen der begehrten Triple Crown mit den Belmont Stakes – absolute Zukunftsmusik. Die Triple Crown hat sich War Emblem, den ich damals nach dem Zieleinlauf in Churchill Downs, als die Kameras ihn in Großaufnahme über alle Fernsehschirme in den USA flimmern ließen, unglaublich schön fand, übrigens auch nicht sichern können. Nach einem verkorksten Start und einem wenig optimalen Rennverlauf hatte er gegen Sarava aus dem Stall von Bob Baffert keine Chance.

Ende 2002 beendete War Emblem seine Rennbahnkarriere und wurde nach Japan in die Zucht der Shadai Stallion Station verkauft. Dieses riesige Gestüt ist uns ja in Deutschland durch die aktuellen Verkäufe zahlreicher sehr guter Pferde an Teruya Joshida keineswegs unbekannt. War Emblem kostete seinerzeit bescheidene 17 Millionen Dollar, wogegen der Erwerb von fünfzig Prozent an unserer gegenwärtigen deutschen Stargalopperin Danedream vor deren Arc-Triumph und die Nachnennungsgebühr von 100.000 Euro vermutlich eher Schnäppchen gewesen sein dürften. Im Vergleich zu dieser gewaltigen Summe hat der Sieger des Kentucky Derby seinen japanischen Besitzern bereits jede Menge Kopfzerbrechen bereitet, denn seiner geplanten Aufgabe, dem Decken von teuren Vollblutstuten, geht er offenbar wenn überhaupt nur mit extrem gebremster Begeisterung nach. An einer Lösung dieses für einen Deckhengst ja geradezu katastrophalen Problems wird weiterhin gearbeitet, doch ob die Erfolge in der Bedeckungsquote, die sich zuletzt wieder einstellten, von Dauer sein werden, kann nur die Zeit zeigen.

Bis der Sieger von gestern, I’ll Have Another, möglicherweise später einmal in eine solche Stellung als Deckhengst gelangt, werden noch einige Zeit und hoffentlich weitere Rennerfolge vergehen. Für den Moment darf gefeiert werden, so wie man es in den USA sicher nicht nur in Atlanta tut: mit ordentlich Mint Julep.



Na dann: Cheers!