Freitag, 29. Juli 2011

Vor zehn Jahren: Anzilleros Sternstunde

Es war einmal vor zehn Jahren

Seit vergangenen Sonntag ist er entschieden, der Große Preis von Berlin, und mit Danedream hat das traditionelle Rennen, das 2011 wieder in seine alte Berliner Heimat zurückgekehrt ist, eine verdiente, wenn auch vielleicht eher überraschende Siegerin gefunden. Sicher, man hätte durchaus darauf kommen können, dass Andrasch Starke sich wohl kaum zu seiner ausschließlich persönlichen Erheiterung auf ein Reitgewicht von mageren 53 Kilo herunterhungert, aber dennoch kommt der lockere Erfolg der von Peter Schiergen trainierten Stute zumindest einer kleinen Sensation gleich. 


Noch ein wenig überraschender als in diesem Jahr war allerdings der Ausgang der damals noch in ihrer Ausweichheimat Düsseldorf unter dem Renntitel "Deutschland-Preis" ausgetragenen Konkurrenz vor zehn Jahren, denn mit dem Sieg des Erlenhofers Anzillero hatten sicher noch weitaus weniger Rennbahnbesucher und Wetter gerechnet als mit dem ausgezeichneten Laufen von Danedream am vergangenen Wochenende. Zu übermächtig hatten die Gegner gewirkt – allen voran so großartige deutsche Rennpferde wie Sabiango, Subiaco, Caitano, der Derbysieger des Vorjahres, Belenus, oder ein starker ausländischer Gast namens Yavana’s Pace.
Zeitweilige Heimat des Großen Preises von Berlin (= Deutschland-Preis):
Die Rennbahn am Düsseldorfer Grafenberg
Ja, es muss zugegeben werden – im Vergleich mit seinen Konkurrenten fiel Anzilleros bisherige Rennleistung auf dem Papier schon ein wenig ab, und so rechtfertigt sich wohl auch die hohe Siegquote von 217:10, die letztlich an jene Handvoll Wetter ausgezahlt wurde, die Anzillero dennoch vertraut hatten. Der Sieger, dessen blau-rote Rennfarben trotz aller Tradition deutlich jünger waren als das von ihm am 22. Juli 2001 mit einem lockeren Vorsprung von 1¼ Längen gewonnene, 1888 erstmals – damals aber noch über die deutlich kürzere Distanz von 2000 Metern – ausgetragene Rennen, scherte sich einfach nicht um irgendwelche Quoten, sondern lief das Rennen seines Lebens. Es sollte auch im Hinblick auf seinen Trainer und seinen Reiter noch eine ganz besondere Bedeutung bekommen. Doch zu diesen Zweibeinern später mehr… Vorerst bleiben wir bei den Vierbeinern.
Sie findet sich in Anzilleros Pedigree: Asterblüte bei ihrem Derbysieg 1949
Bis zu jenem Tag vor zehn Jahren war Anzillero, der in der Mutterlinie über Allegretta auf Asterblüte zurückgeht, der sprichwörtlich „ewige Platzierte“ gewesen, wie Manfred Chapman ihn in der Parade vor dem Rennen bezeichnet hatte. Tatsächlich war der große Triumph, den die Erlenhofer mit Anzillero in Düsseldorf feiern konnten, erst der dritte Sieg des von ihnen selbst gezogenen Hengstes, der allerdings seine Laufbahn als Dreijähriger mit einem überlegenen Maidensieg eingeläutet und bei seinem zweiten Versuch im Jean-Harzheim-Rennen an Network immerhin den späteren Sieger des Union-Rennens auf den zweiten Platz verwiesen hatte. Ein Einstand absolut nach Maß also – und besonders sein Listensieg war in der Rückschau einige Ehren wert und berechtigte selbstredend zu größeren und größten Hoffnungen, die Anzillero jedoch danach nie so ganz einlösen konnte. In der Union kam er schon mit respektablem Rückstand auf Network, den er zuvor ja noch besiegt hatte, auf den dritten Rang, im von Samum gewonnenen Derby landete er als Achter – ganz sicher enttäuschend für seinen Anhang – nur im geschlagenen Feld. Dass er hierbei immerhin wieder einen Platz vor Network blieb, konnte da nicht einmal ein schwacher Trost sein. Und auch der dritte Platz, den er zum Abschluss seiner Dreijährigen-Kampagne nach rund dreieinhalb Monaten Pause in einem Düsseldorfer Gruppe-III-Rennen belegte, war zwar ganz nett, entsprach aber wohl nur bedingt den hochfliegenden Hoffnungen, die Anzillero zeitweise gegolten haben dürften.

Versprechend begann seine zweite Saison auf der Rennbahn. Der nunmehr vierjährige Erlenhofer kam 2001 aus mehreren Rennen auf Gruppe-Ebene nie ohne ein Platzgeld nach Hause und bewies vor allem im Hansa-Preis sowie im Großen Mercedes-Benz-Preis, dass er in der Liga der ganz Großen namens Subiaco oder Samum durchaus mitreden konnte. Ein Pferd, wie es sich viele Besitzer erträumen und meistens nie bekommen also… ein Pferd, auf das man wirklich stolz sein konnte. Und doch blieb da sicherlich der Traum vom ganz großen Sieg für den ewigen Platzierten. Dieser große Traum sollte sich dann für den von Beginn an bei Dave Richardson in Frankfurt trainierten Anzillero am 22. Juli 2001 erfüllen, als er nach den beiden Siegen zu Beginn seiner Laufbahn noch einmal – ein letztes Mal, wie sich erst deutlich später herausstellte – als Erster die Ziellinie überquerte.

Bei diesem Triumph, der der eigentlich aus dem Dressursport stammenden Familie Rothenberger-Krause, die in die Wiederbelebung der alten Erlenhofer Tradition seit Mitte der 1990er Jahre viel Mühe, Energie und auch Geld investiert hatte, den größten Moment ihrer galopprennsportlichen Aktivitäten bescherte, mögen für viele Rennbahnbesucher wunderbare Erinnerungen an große Galopper der Vergangenheit wach geworden sein, die in den gleichen rot-blauen Farben einst den Turfsport bereichert hatten – gleich ob sie nun Neckar, Nereide oder Ticino hießen. Einige schöne Erfolge hatten die neuen Verantwortlichen auf dem Gestüt in Bad Homburg schon feiern können, seien es nun der Union-Erste Twen, der Gruppesieger Ladoni, die später in die USA verkaufte großartige Stute Moonlady oder der Derby-Dritte Masterplayer. Anzillero jedoch übertraf sie in Düsseldorf alle und reihte sich nach seinen vielen Platzierungen nun endlich in die illustre Reihe großer Erlenhofer Pferde ein.

Einer der ganz großen Erlenhofer der Vergangenheit: Neckar
Und nun? Was macht man mit einem frisch gebackenen Gruppe-I-Sieger im besten Rennpferdalter von vier Jahren? Man versucht selbstverständlich, diesen Erfolg zu bestätigen und so aus einem Gruppe-I-Sieger eben keine Eintagsfliege, sondern ein echtes Gruppe-I-Pferd zu machen. Auch in Anzilleros Fall wurde diese folgerichtige Route eingeschlagen, die den Hengst als nächstes Mitte August 2001 nach Köln zum Vorläufer des Rennens führten, das heute als Rheinland-Pokal ausgetragen wird. Der Versuch scheiterte allerdings ziemlich drastisch, denn während Sabiango, Boreal und Belenus auf den ersten drei Plätzen das Geschehen bestimmten, kam Anzillero mit erheblichem Rückstand nur auf den vorletzten Platz unter acht Startern. Dieser ersten Ernüchterung nach dem großen Triumph von Düsseldorf folgten noch zwei weitere Start, einmal in Frankreich, dann auch in Italien. Doch auch sie, darunter der Griff nach den Sternen im von Sakhee gewonnenen Prix de l’Arc de Triomphe Anfang Oktober, führten nicht zur gewünschten Bestätigung von Anzilleros bester Leistung, denn bei beiden Gelegenheiten endete der Erlenhofer unter seinem ständigen Jockey Kevin Woodburn nur im geschlagenen Feld.

Anzilleros Aufgalopp zum Prix de l'Arc de Triomphe
War Anzillero, dessen Rennlaufbahn mit diesen drei Fehlschlägen endgültig beendet war, also doch „nur“ ein Gruppe-I-Sieger statt eines echten Gruppe-I-Pferdes?

Nüchtern analysiert muss man diese Einschätzung wohl bejahen – auch wenn er sich in Köln eine kleine Verletzung mit offener Wunde zugezogen hatte, auch wenn ihm die katastrophal stürmischen Wetterbedingungen bei seinem Start in Rom nicht zugesagt hatten. Eigentlich war wohl auch geplant gewesen, den Hengst 2002 nach einer Gestütspause über Winter noch einmal in den Rennstall zurückzuschicken und ihm Gelegenheit zu geben, seine Spitzenleistung zu wiederholen. Diese Pläne, über die sich Trainer Dave Richardson selbstverständlich sehr gefreut hatte, zerschlugen sich jedoch, als Anzillero auch im März noch nicht wieder aus dem Gestüt zurückgekehrt war. Gerüchte kursierten zunächst, die Erlenhofer trügen sich mit dem Gedanken, Anzillero in ein anderes Quartier zu geben, ehe scheibchenweise klar wurde, dass sogar aus einer Fortsetzung der Rennkarriere an sich nichts werden würde. Eine Untersuchung hatte ein vermindertes Lungenvolumen ergeben, dessen Ursache nicht zweifelsfrei zu klären war. An einem ausgestandenen Infekt aus dem Vorjahr lag es vielleicht, doch wie auch immer: Anzillero würde nicht mehr laufen, sondern stattdessen als Deckhengst für sein Heimatgestüt aufgestellt werden, so hieß es Mitte April 2002.
Anzillero als Erlenhofer Deckhengst
Zu schreiben, dass der neue Deckhengst, der auch ein Intermezzo in einem irischen Gestüt absolvierte, von der Züchterwelt zurückhaltend angenommen wurde, wäre fast noch eine Übertreibung. Tatsächlich lässt sich die Zahl seiner deutschen Fohlen seit 2003 fast noch an zwei Händen bequem abzählen, und fast alle entstammen sie Stuten aus Erlenhof. Bei einer derart geringen Anzahl von Nachkommen fällt eine Bewertung der Deckhengst-Qualitäten von Anzillero natürlich sehr schwer. Seine wohl besten Töchter dürften die zunächst von Waldemar Hickst und Dave Richardson trainierten Stuten Sorcillera und Fly Away sein, die immerhin Rennen gewinnen konnten und nach wie vor in Großbritannien bzw. Frankreich aktiv sind.

Bedauerlich ist, dass das Gestüt Erlenhof nach der zunächst sehr lebhaften Renaissance bis um die Jahrtausendwende, deren Höhepunkt Anzilleros Sieg in Düsseldorf markiert, seine rennsportlichen Bemühungen mehr und mehr zurückfuhr. Weitere größere Erfolge blieben im Anschluss aus, und von den selbst gezogenen Vollblütern konnte kaum einer auf der Rennbahn wirklich überzeugen. Aktuell hat das Gestüt selbst keine eigenen Pferde mehr im Training, die Mutterstuten sind zum Teil andere Gestüte verpachtet worden, und auch Anzillero befindet sich nicht mehr in Bad Homburg, sondern in Frankreich, wo er von einem kleineren, aber scheinbar ambitionierten Züchter namens Claude Pelsy aufgestellt wurde. Wie sich seine Zukunft entwickeln wird, muss weiterhin abgewartet werden. Seine ersten dort gezogenen Nachkommen müssten in diesem Jahr rennbahnfertig sein.
Nun als Deckhengst in Frankreich
Doch auch für zwei weitere maßgebliche Zweibeiner im Leben eines Rennpferdes war Anzilleros Entwicklung zum Gruppe-I-Sieger ein absolutes Highlight – nämlich für seinen Trainer Dave Richardson, der das Gefühl eines solchen Triumphs als Reiter (z.B. bei seinen Derbysiegen mit Lauscher 1971, Navarino 1980 und Philipo 1986) durchaus selbst schon kennengelernt hatte, jedoch als Trainer in seiner Ende 1991 gestarteten zweiten Karriere trotz einiger besserer Pferde wie etwa Tajawall, Sign of Nike, Touchdown, Indian Point, Siamo oder Shebar nie zuvor und auch seitdem nie wieder einen vergleichbaren Crack in seiner Obhut hatte. Nur noch sehr klein ist inzwischen die Zahl der von ihm trainierten Pferde. Leider ist ihm, nachdem er mit Anzillero zweifellos sein Meisterstück gemacht hatte, der Erfolg nicht treuer geblieben. Verdient gehabt hätte er es ganz sicher.

Ebenfalls zu den Trainern, die aktuell ein recht kleines Lot betreuen, zählt der Mann, in dessen an Höhepunkten bestimmt nicht armer Jockey-Karriere Anzilleros Düsseldorfer Erfolg einen letzten ganz großen Meilenstein markierte: Kevin Woodburn. Nachdem der Hengst in seiner ersten aktiven Saison von verschiedenen Reitern, darunter besonders Pascal van de Keere, gesteuert worden war, avancierte Woodburn 2001 ab dem Frühjahrsmeeting in Baden-Baden 2001 zu Anzilleros festem Jockey. Zwar blieb es in den folgenden Rennen bei dem einen spektakulären Treffer, aber dieser Sieg war zu einem großen Teil auch seinem Reiter zu verdanken. Für Kevin Woodburn, der sich bereits zu diesem Zeitpunkt mit dem Gedanken trug seine Jockey-Laufbahn zu beenden und in München ins Traineramt einzusteigen, war der Sieg eine Genugtuung: „Ich bin in den letzten Wochen immer runtergesungen worden. Heute habe ich aber gezeigt, was ich auf guten Pferden noch kann, denn ich bin mit Sicherheit noch gut genug“, so seine Worte in einem Interview im Anschluss an das Rennen.

Noch zu Jockeyzeiten: Kevin Woodburn
Dennoch blieb es dabei: Für Kevin Woodburn, damals eine Art Speldorfer Original, über dessen neueste Geschichten ich gerne von meinem Vater informiert wurde, der häufiger die gleiche Wirtschaft besuchte wie der englische Jockey, waren die Tage im Sattel gezählt. Nachdem er dank Anzillero zum Abschluss seiner Karriere noch einmal die Chance erhalten hatte im Prix de l‘Arc de Triomphe zu reiten, hängte er noch einige Wochen an, um schließlich Ende Januar 2002 die Rennstiefel wirklich auszuziehen. In München hielt es ihn nicht lang, und erst durch den Wechsel nach Neuss scheint er inzwischen sein neues Zuhause als Trainer, wenn auch eben mit einem kleinen Lot, gefunden zu haben.

Ich persönlich habe Kevin Woodburn immer gerne reiten sehen und erinnere mich an manch ein taktisches Meisterwerk, so etwa den spektakulären Ritt mit der Stute Tsarina im Silbernen Band der Ruhr 1994, als er teilweise um mehr als ein Dutzend Längen vor dem Feld liegend vorwegmarschierte und sich außen die beste Spur suchte. Alle Anwesenden rings um mich herum waren an jenem nasskalten Novembertag auf der Mülheimer Rennbahn sicher, dass der Jockey größenwahnsinnig sein müsse und garantiert am Ende vom Feld gestellt und geschluckt werden würde. Doch genau dies geschah nicht, und das triumphierende Strahlen auf dem Gesicht des Reiters, als er mit der Stute zurück in den Absattelring kam, sprach Bände. Optisch hat sich Kevin Woodburn, wenn er den Sturzhelm aufgesetzt hat, der die Abwesenheit von Haarpracht verdeckt, in Jockey-Montur kaum verändert, wie man dann und wann bei Ex-Aktiven-Rennen und Trainerreiten beobachten kann. Und auch hier ist er, so im letzten Jahr auf der von ihm selbst trainierten Stute Cringid Mor in Hamburg, immer noch für einen Glanzritt gut.

Was wohl in zehn Jahren aus dem Siegergespann des vergangenen Wochenendes in Hoppegarten, also aus Danedream, Andrasch Starke und Peter Schiergen geworden sein wird? Warten wir ab, welche Geschichten sie in Zukunft noch zu erzählen haben werden!

Sonntag, 17. Juli 2011

Vor zehn Jahren: Derby unter Wasser

Genau zwei Wochen sind seit dem Derby 2011 nun schon wieder ins Land gegangen, und so hatten auch meine in Hamburg von den nicht gerade sommerlichen äußeren Bedingungen ziemlich durchweichten Füße inzwischen wieder ausreichend Zeit zum Trocknen. Das Abenteuer Hamburg ist sogar erstaunlicherweise völlig ohne Erkältung abgegangen, was vielleicht an dem innerlichen Glühen liegen könnte, mit dem ich am ersten Juli-Sonntag die Rückreise antrat, nachdem feststand, welches Pferd das wichtigste Rennen des deutschen Turfkalenders gewonnen hatte.


Mag auch Regen und weichen Boden: Waldpark, Derbysieger 2011

Waldpark… Mensch, was hat mich das gefreut. Genau genommen freut es mich immer noch, was Wurftaubes Söhnchen da für eine Glanzleistung vollbracht hat. Und live dabei gewesen zu sein statt das Rennen nur per Internet vom heimischem Schreibtisch aus zu verfolgen, hat die ganze Sache so richtig perfekt gemacht. Was genau ich da auf der matschigen Wiese veranstaltet habe, als mir auf einen Schlag kurz nach dem Einbiegen des Derbyfeldes in die Zielgerade klar wurde, dass der sympathische, kleine Sommernachtstraum an diesem Tag ohne Möglichkeiten war, dafür aber mein anderes insgeheim erhofftes Wunschpferd in bestechender Haltung außen nach vorne ging, weiß ich nicht mehr so recht. Allerdings flossen wenig später Tränen der gerührten Freude. Dass mir das mal auf einer Rennbahn passieren würde…

Aber warum eigentlich nicht? Schließlich ist Waldpark nicht nur ein mehr als würdiger Derbysieger, der mir schon bei seinem Auftritt in Baden-Baden im Derby-Trial gefiel und mich auch in Hamburg die gesamte Zeit über durch seine Gelassenheit beeindruckte, sondern ich verbinde mit seiner Familie eine Menge schöner Erinnerungen und Geschichten. Waldpark verkörpert quasi in idealer Weise genau das, was mich am Galopprennsport außer der unmittelbaren Spannung der gerade aktuellen Rennen ganz besonders fasziniert. Er ist lebendige Tradition auf vier sehr flinken und ausdauernden Beinen und zugleich jede Menge Hoffnung auf die Zukunft.

Was machen mir da schon ein paar nasse Füße?

Eigentlich – nichts...

Ohnehin sind wir am vergangenen Wochenende im Vergleich zu früheren Derby-Austragungen trotz allem noch einigermaßen glimpflich davongekommen, was die Wolkenbruchmenge angeht. Man denke da nur an die Schlammschlacht von 1978, an deren Ende Zauberer aus dem Gestüt Bona Derbysieger wurde. Außerordentlich anschaulich beschreibt Harald Siemen diesen Tag in seinem Derby-Buch so: „Um die Mittagszeit des 2. Juli 1978 hatte eines der erwähnten Tiefdruckgebiete ausgerechnet über der Horner Rennbahn seinen tiefsten Stand erreicht. Unaufhörlich goss es in Strömen vom Himmel, ein Landregen hüllte die Rennbahn in einen grauen Schleier und verwandelte das Geläuf bis zu dem als sechstes Rennen angesetzten Derby in einen Acker und das Schuhwerk der 25.000 Besucher, soweit es nicht aus Gummistiefeln bestand, in entsorgungsreifes Altleder.“

Und trotz allem war dies noch nichts im Vergleich zum Derby 2001, denn:


Es war einmal vor zehn Jahren…

… als das Deutsche Derby im wahrsten Sinne des Wortes beinahe in den Fluten einer durch ein orkanartikes Unwetter bedingten Überschwemmung ertrank, wie sie auch in Hamburg Seltenheitswert hatte. Wäre das Derby nur vierundzwanzig Stunden früher am Samstag statt am Sonntag zur Austragung gekommen, dann… ja, was dann? Wäre es dann nachgeholt worden? Hätte man es neu ausgeschrieben und für Seepferdchen geöffnet?

Zu derlei ziemlich albernen Scherzen wird den Verantwortlichen hinter den Kulissen der Derby-Woche 2001 allerdings sicher nicht zumute gewesen sein, denn was sich auf der Rennbahn in Hamburg-Horn am Vortag des geplanten Höhepunkts einer ansonsten bei sehr angenehmem Sommerwetter abgelaufenen Derbywoche ereignete, war weit mehr als nur ein schwerer Wolkenbruch. 

Wetterkarte Juli 2001 - Land unter in Hamburg und anderswo
Ganz plötzlich brach das Unheil über das Hamburger Rennbahnpublikum herein, das am 30. Juni 2001, dem Samstag vor dem Derby, gerade das fünfte Rennen der Tageskarte verfolgt hatte. Soll man im Namen des Siegers in jenem Ausgleich I, der Frühtau hieß und inzwischen auch als Deckhengst, wenn auch in der Ponyzucht, eingesetzt wird, ein feuchtes Omen sehen? Nein, das erscheint eindeutig überinterpretiert. Allerdings war es tatsächlich so, dass die Siegerehrung rund um das Team von Frühtau noch lief, als sich der Himmel über der Horner Rennbahn rasch und ausgesprochen dramatisch verdunkelte. Die dunkelgrau-schwarzen Unwetterwolken sahen überaus bedrohlich aus und brachten am eigentlich helllichten Tag Nachtstimmung über die Rennbahn, so dass den Anwesenden wohl auch ohne die Durchsagen des Rennbahnsprechers klar geworden wäre, dass sie sich besser einen wettergeschützten Platz suchen sollten.

Wenig später öffnete der Himmel seine Schleusen in ungeheuer dramatischer Art und Weise, und als das Unwetter sich nach rund einer Viertelstunde wieder verzog, war das Horner Moor zur Seenlandschaft geworden. Alles stand unter Wasser, stellenweise sogar so tief, dass Bierzeltgarnituren als Laufstege dienen mussten. Die schlimmsten Spuren hatte das Unwetter aber auf dem völlig durchweichten Geläuf hinterlassen, das Wassermassen in dieser extremen Größenordnung einfach nicht abführen konnte. Land unter in Hamburg-Horn!

Was sollte unter diesen Umständen aus den eigentlich für jenen Samstag noch geplanten fünf Rennen werden? Eine Inspektion des Geläufs, an der neben der Rennleitung auch Jockey Andreas Suborics beteiligt war, ergab ein niederschmetterndes Ergebnis: Nichts ging mehr – zumindest nicht an diesem Tag. Und so musste der restliche Renntag schweren Herzens nach der Hälfte der Veranstaltung abgesagt werden. Zuschauer, Besitzer, Aktive, Vierbeiner… sie alle mussten unverrichteter Dinge abziehen und konnten nur hoffen, dass sich die sintflutartigen Folgen des schweren Unwetters bis zum folgenden Tag, an dem das Rennen aller Rennen gelaufen werden sollte, zumindest noch etwas würden mindern lassen.

Ganz so arg wie bei der Überschwemmung der Rennbahn in Halle Anfang diesen Jahres hatte es die Hamburger zwar vor zehn Jahre nicht getroffen, doch am folgenden Sonntagmorgen ergab eine bange Überprüfung des Geläufs nach wie vor ausgesprochen matschige Verhältnisse und einen offiziellen Bodenwert von 5,9. Nicht gerade optimale Bedingungen also, außer man hatte zufällig ein als Sumpfhuhn geeignetes Pferd genannt, aber doch grundsätzlich machbar. Oder doch nicht?

Rennbahn richtig unter Wasser - Halle Februar 2001
Viele Trainer und Besitzer hatten hier zumindest Zweifel, und so sah sich der Hamburger Rennverein nach dem katastrophalen Samstag mit einer Welle neuer Hiobsbotschaften konfrontiert, als mehr als zwei Dutzend Pferde angesichts der Bodenwerte zu Nichtstartern erklärt wurden. Darunter befand sich zum Entsetzen der Verantwortlichen auch ein ganz besonderes Pferd – der Vorab-Favorit für das neunte Rennen, das Derby, ein Fährhofer Hengst namens Sabiango. Dieser Sabiango war bislang viermal am Start gewesen und hatte nur bei seinem Debüt als Dreijähriger in einem Hannoveraner Listenrennen eine Niederlage hinnehmen müssen. Abgesehen davon hatte er sich als dreifacher Sieger auszeichnen können, und spätestens nach seinem Erfolg im Union-Rennen hatte der von Andreas Suborics gesteuerte Sabiango sich seinen Favoritenrang unter den eigentlich angekündigten zwanzig Derbykandidaten redlich verdient.

Und nun sollte das Hamburger Hauptereignis ausgerechnet auf Sabiango verzichten müssen?
Die Enttäuschung über die Entscheidung von Andreas Wöhler wog verständlicherweise schwer, doch wenn man bedenkt, dass Sabiangos einzige Niederlage sich bei einem Bodenwert von 6,5 (schwer) abgespielt hatte, liegt auf der Hand, dass der Fährhofer mit solchen Verhältnissen einfach nicht zurechtkam. Und so war Sabiangos Abmeldung, die der Trainer auch zuvor schon gelegentlich angedeutet hatte für den Fall, dass die Bodenwerte nicht passen sollten, eben vor allem eins: konsequent!

So fehlte dem großen Rennen aber nun auch das symbolische Zugpferd. Gab es unter den nach einer weiteren Abmeldung noch verbliebenen achtzehn Kandidaten einen Starter, der diese Lücke füllen konnte?

Das wettende Publikum war sich uneinig, denn zu deutlich hatte Sabiango vorab die Erwartungen dominiert, und so gab es mehrere Pferde, die am Toto unter 100:10 standen, als es in die Startboxen ging. Allesamt entstammten sie großen Trainingsställen oder Gestüten, für die ein Derbysieg kein Neuland war: Barsetto als Steigenberger Vertreter, Limerick Boy aus dem erfolgsverwöhnten Quartier von Andreas Schütz, Krombacher im rot-weißen Ittlingen-Dress, Somotillo als „Ersatz“-Fährhofer, Iberus für Schlenderhan und Syrakus in den Röttgener Traditionsfarben… Sie alle hatten in den diversen Vorbereitungsrennen auf dem Weg zum Derby durchaus auf sich aufmerksam machen können, aber an Sabiangos Leistungen hatten sie nie recht herangereicht. Würde nun einer von ihnen die Abwesenheit des vermeintlichen Jahrgangsprimus nutzen und sich das Blaue Band sichern?

Um es kurz zu machen: Nein, keinem der oben Genannten gelang dies am 1. Juli 2001 in Hamburg-Horn. Der tatsächliche spätere Derbysieger trug allerdings auch traditionelle Farben eines führenden deutschen Gestüts, aber irgendwie hatten nur wenige Rennbahnbesucher den Hengstnamens Boreal aus dem Gestüt Ammerland  auf der Rechnung gehabt, und so kam es, dass der Derbysieger, der sich das Rennen letztlich locker mit anderthalb Länge Vorsprung vor den beiden noch viel größeren Außenseitern Lierac und Near Honor sicherte, seine Wetter am Toto mit einem dreistelligen Wert von 104:10 belohnte.


Warum hatte man ihn nicht stärker auf der Rechnung gehabt? Immerhin entstammte Boreal einer ausgesprochen erfolgreichen Familie, deren bisheriges züchterisches Glanzstück seine um vier Jahre ältere Schwester Borgia war, die ihm 1997 schon vorgemacht hatte, wie das ging mit dem Derbysieg. Auch Mama Britannia war eine sehr gute Rennstute gewesen. Überdies war Boreal eigentlich bei all seinen Starts nach dem auf Anhieb abgehakten Maidensieg immer vorne mit dabei gewesen, und auch sein dritter Platz im Union-Rennen (natürlich hinter Sabiango!) konnte sich sehen lassen. Weniger als eine Länge hatte die beiden Hengst, zwischen die sich noch Barsetto geschoben hatte dort getrennt.

Einen Vorteil gegenüber Sabiango hatte Boreal auf alle Fälle: Der mehr als weiche Boden in Hamburg-Horn machte ihm nicht das Geringste aus, und so profitierte er eben von der Abwesenheit des Fährhofers und tat es seiner illustren Schwester gleich, um Britannia zu einer jener seltenen Zuchtstuten zu machen, die gleich zwei Derbysiegern das Leben geschenkt haben. Nur vier Jahre nach Borgias Sieg war es so dank Boreal erneut ein ganz großer Tag für das Gestüt Ammerland.

Gewonnen! Derbyieger Boreal trotz Boden weich
Amüsantes Detail am Rande: In einem Artikel der Rheinischen Post, der vor dem Derbywochenende erschienen war, hatte sich Boreals Betreuer Peter Schiergen, für dessen noch junge Trainerkarriere dieser erste Derby-Treffer ein ganz wichtiger Erfolg war, so geäußert: "Etwas Regen wäre noch gut für uns."


Es wurde dann bekanntlich etwas mehr Regen... Petrus hatte zumindest aus dieser Perspektive gut zugehört und prompt reagiert.


Pressespekulationen vor dem Derby 2001


Die Frage, ob Boreal denn auch gewonnen hätte, wenn es das sintflutartige Unwetter am Derby-Vortag und somit die Abmeldung von Sabiango nicht gegeben hätte, ist natürlich vor zehn Jahren intensiv diskutiert worden. Alles in allem sieht es so aus als sei Sabiango, der weltweit drei Gruppe-I-Rennen gewinnen konnte, das etwas bessere Rennpferd gewesen. Oder doch umgekehrt?

Zwei weitere Mal begegneten die beiden Hengste sich auf der Rennbahn, und je eines dieser Zusammentreffen in Köln beziehungsweise Baden-Baden konnten Boreal und Sabiango im internen Duell für sich entscheiden. Vielleicht wäre es also gerechter, beide als ausgezeichnete Galopper zu bezeichnen, die später auf jeweils getrennten Pfaden auch international beweisen konnten, dass sie zu hohen und allerhöchsten Leistungen imstande waren. In Boreals Fall ist es natürlich vor allem sein spektakulärer Triumph im Coronation Cup 2002, als er auf Gruppe-I-Ebene in Epsom solchen Größen wie Marienbard oder Kutub locker das Nachsehen gab.

Boreal gewinnt den Coronation Cup 2002 -
und wieder war der Boden alles andere als abgetrocknet!
Nur logisch war es da, dass sein Heimatgestüt den schlammfesten Derbysieger des Jahres 2001 da als eigenen Deckhengst aufstellte, doch ähnlich wie seine Schwester Borgia erwies sich der Ammerländer auf diesem Gebiet leider als eine große Enttäuschung. Nur noch sehr bescheiden ist seine Decktaxe heute, noch bescheidener die Anzahl seiner bisherigen Nachkommen. Sie sind eben ein großes Rätsel, die Gesetzmäßigkeiten und Geheimnisse der Vollblutzucht. 


Sabiangos zweite Karriere im Gestüt, die sich nach einem Beginn in Frankreich nun wieder in seinem Heimatgestüt Fährhof abspielt, scheint hingegen zumindest etwas hoffnungsvoller zu verlaufen, wobei es nach ersten kleineren Erfolgen mit Pferden wie Perfect Son, Per Se oder Ostler sicherlich noch viel zu früh ist, um hier auch nur annähernd ein Urteil zu fällen.


Fest steht aber bereits jetzt: Im Vergleich zu den Vorkommnissen um das Sintflut-Derby vor zehn Jahren kann man die Verhältnisse, unter denen sich Waldparks Derbysieg in diesem Jahr ereignete, als regelrecht schönes Wetter bezeichnen. Wie gesagt – was machen schon ein paar nasse Füße, wenn man ein wirklich mitreißendes Derby live miterleben kann?

Genau – nichts!