Montag, 17. Oktober 2011

Vor 41 Jahren: Favoritin für den Winter

Seit gestern Nachmittag steht fest, welcher Zweijährige mit dem ebenso ehren- wie hoffnungsvollen Titel des Winterfavoriten 2011 (hoffentlich gut!) überwintern darf. Tai Chi hat das große Rennen in Köln-Weidenpesch gewonnen und damit zumindest mich doch einigermaßen überrascht. Aber ein würdiger Sieger ist er dennoch, und mit seinem Erfolg setzt er eine lange Serie fort, denn seit über dreißig Jahren wurde diese wichtige Prüfung für den Rennbahn-Nachwuchs stets von einem Hengst gewonnen. Bis ins Jahr 1980 muss man zurückgehen, um mit der Röttgenerin Anna Paola eine Winterfavoritin statt eines Winterfavoriten zu finden. Und wiederum genau zehn Jahre vor dieser Stute, die im folgenden Jahr immerhin den Preis der Diana gewinnen konnte, hatte es bereits schon einmal eine Winterfavoritin in den traditionellen Röttgener Rennfarben gegeben. Ihre Geschichte, die am 17. Oktober 1970 einen Höhepunkt erreichte, habe ich vor einem Jahr bereits aufgeschrieben. Hier folgt die leicht überarbeitete Version:


Es war einmal vor 41 Jahren

Sie war eine kleine Hübsche mit einer interessant geformten, langen Blesse, eine, die auf den erhaltenen Schwarz-Weiß-Bildern mit augenscheinlicher Begeisterung und viel Engagement galoppiert und dabei weit die Ohren spreizt… und sie hatte einen äußerst amüsanten Namen: Widschi.

Winterfavoritin Widschi auf dem Weg zum Sieg 
Am 17. Oktober 1970, gewann Widschi für ihr Heimatgestüt Röttgen das Rennen, das gestern Nachmittag wieder in Köln ausgetragen wurde, und avancierte zur… nun ja, zur Winterfavoritin, einer Ehre, die nur wenigen zweijährigen Stuten bislang zuteil wurde. Üblicherweise geben nämlich die Hengste in dieser hochrangigen Traditionsprüfung für zweijährige Hoffnungsträger den Ton an. Auch im Jahre 2011 war das nicht anders, denn es kam überhaupt keine Stute an den Start. Seit Widschis Sieg hat es ihr auch erst eine Geschlechtsgenossin gleichgetan, nämlich Anna Paola, ebenfalls eine Röttgenerin, die das Rennen 1980 gewinnen konnte.

Mit ihrem Kölner Sieg, der gegen den späteren Derby-Sieger Lauscher und den Hengst Naipur (im folgenden Jahr Vierter im Derby) ausgesprochen komfortabel ausfiel, trat die kleine Widschi zudem in die Fußstapfen ihres Vaters Dschingis Khan, der 1963 bereits zum Winterfavoriten avanciert war. Mitte der Geraden, so vermerkt es das Album des Rennsports, hatte sich eine Lücke aufgetan, Widschi – gesteuert von keinem Geringeren als dem großen französischen Jockeyidol jener Tage Yves Saint-Martin – hatte sie genutzt und war dem Feld rasch enteilt. 

Röttgen - Heimat von Widschi, Anna Paola und vieler anderer ausgezeichneter Rennpferde
Und dabei war die Siegerin, die im Absattelring von der in einen kostbaren Pelz gehüllten Maria Mehl-Mülhens liebevoll gestreichelt wurde, eigentlich gar nicht die große Hoffnung des Gestüts für die Zweijährigensaison gewesen. Diese Rolle kam einem Hengst namens Guardi zu, der auch nicht enttäuscht hatte, aber kurz vor dem Winterfavoriten wegen eines warmen Beins im Stall bleiben musste. So musste eben Widschi in die Bresche springen und bekam dann auch den französischen Star-Jockey in den Sattel gehoben.

Widschis Reiter Jockey-Idol Yves Saint-Martin, hier im Sattel von Allez France
Die Stute hatte zu jenem Zeitpunkt bereits eine recht ambitionierte Saison hinter sich gebracht, obwohl sie erst am 21. Mai 1968, und damit vergleichsweise spät im Jahr, das Licht der Welt erblickt hatte. Sie war so früh wie überhaupt nur möglich für eine Zweijährige, nämlich im Versuchsrennen der Stuten im Juni 1970 in Köln, debütiert, hatte gleich gewonnen und sich auch bereits das renommierte Sierstorpff-Rennen in Dortmund und das Horster Criterium an die Fahnen geheftet. Einzig im Ratibor-Rennen hatte sie sich nicht platzieren können, und im Preis der Winterkönigin fehlte ihr lediglich eine Halslänge, um diesen beeindruckenden Resultaten noch einen weiteren Sieg hinzuzufügen. Der Start im Preis des Winterfavoriten bedeutete so aber für die Zweijährige bereits den sechsten (!) Rennbahnauftritt. Da kann nicht einmal der Winterfavorit des Jahres 2011 Tai Chi, der es immerhin auf fünf Rennen brachte, von denen er vier gewinnen konnte, konkurrieren.

Zu viel, zu früh? Darüber kann man natürlich höchstens spekulieren. Nach dem Preis des Winterfavoriten bezog Widschi jedenfalls Winterquartier und meldete sich gleich beim folgenden Rennen am 23. Mai 1971 in Gelsenkirchen-Horst mit einem erneuten Sieg zurück. Die Stute, nunmehr klassische Siegerin, denn dieses Rennen war keine geringere Konkurrenz als das Henckel-Rennen gewesen, hatte offenbar nichts verlernt. Ihr beträchtlicher Anhang konnte also weiterhin größte Hoffnungen auf die Dreijährigen-Saison der Röttgenerin hegen. Von Guardi, ihrem Stallgefährten, der noch deutlich besser gewesen sein soll als sie, sprach man 1971 nicht mehr.

Allerdings war auch Widschi nach ihrem triumphalen Jahresdebüt kein Rennbahn-Glück mehr beschieden. Im Gegenteil… Sie war plötzlich immer wieder krank und fieberte, so dass zwei geplante Starts auf höchster Ebene im Union-Rennen und im Preis der Diana abgesagt werden mussten.

Erst im Deutschen Derby am 4. Juli 1971 bekam das Rennbahnpublikum Widschi wieder zu Gesicht, und ihre Stellung als zweite Totofavoritin hinter dem Union-Sieger Florino mit 48:10 verdeutlicht das große Vertrauen, dass die Wetter trotz der vergleichsweise langen Pause in die fantastische Stute setzten.


Derbysiegerin wurde Widschi jedoch nicht. Diese Ehre ging an Lauscher, den sie bereits im Preis des Winterfavoriten geschlagen hatte. Die Stute kam, nachdem sie sich beim Start den Kopf gestoßen und verspätet abgesprungen war, weit hinter dem Sieger ins Ziel, hatte aber noch eine große Aufholjagd gestartet, so dass sie sich immerhin auf den zwölften Platz im Siebzehnerfeld vorkämpfte. Das aber war wohl zu viel für sie gewesen, denn unmittelbar nach dem Zieleinlauf ereignete sich im Horner Bogen ein dramatischer Zwischenfall, als Widschi urplötzlich wie ein Stein zu Boden ging. Das heftig bewegte Publikum, das den Vorfall aus nächster Nähe beobachten konnte, musste denken, dass die Stute tot war, denn sie bewegte sich zunächst lange nicht und gab auch keine Lebenszeichen von sich. Für zusätzliche Entrüstung sorgte noch die Tatsache, dass in all der Aufregung nach dem gerade erst entschiedenen Derby der Tierarzt lange auf sich warten ließ, ehe er sich um Widschi kümmern konnte.

Schließlich – und zur unendlichen Erleichterung der vielen besorgten Zuschauer – stand Widschi doch wieder auf und ließ sich führen. Dennoch dauerte es sehr lange, bis sie wieder gesund wurde. Eine Rennbahn hat die Röttgenerin anschließend nicht mehr betreten können, und so betitelte das Album des Rennsports Widschi auch als „Klasse-Stute ohne Glück“. Diese Charakterisierung blieb ihr leider auch in ihrer wenig erfolgreichen Zucht-Karriere i n ihrem Heimatgestüt treu. Widschi, in deren mütterlicher Linie sich so erfolgreiche Rennpferde wie Woge, Wicht und Waldcanter finden, brachte es nur auf eine Handvoll Fohlen, von denen keines auch nur entfernt an ihre Glanztaten auf der Rennbahn anknüpfen konnte.

Auf der Rennbahn aber, damals vor einundvierzig Jahren, war sie die Größte gewesen!




Sonntag, 16. Oktober 2011

Vor 45 Jahren: Benzolring mit Aminogruppe mal drei

Umzugsbedingt hatte dieser Blog eine Weile lang Pause, aber nachdem nun auch die Küche montiert ist und fast (!) alle Kartons ausgeräumt sind, kann es hier munter weitergehen. In der Zwischenzeit hat Danedream als frische Arc-Siegerin die deutsche Galopperwelt begeistert und zumindest ein wenig für mehr Medienpräsenz unseres tollen Sports gesorgt.

Wenn eins der wichtigsten Rennen eines Landes – oder gar das allerwichtigste überhaupt wie im aktuellen Fall des Prix de l’Arc de Triomphe 2011 – von einem ausländischen Gast „entführt“ wird, können die Reaktionen der Einheimischen schon einmal eher verhalten ausfallen. Meistens haben sie sich ja doch den Sieg eines ihrer „eigenen“ Pferde gewünscht. Dies ist wohl nur natürlich – und doch gibt es unter solchen weitgereisten Vierbeinern dann auch manchmal derart große Stars, dass ihre Herkunft an Bedeutung verliert und es ihnen gelingt, auch das heimische Publikum zu begeistern.

Um dieses Ziel zu erreichen, sind Siege in Serie natürlich ein besonders geeigneter Weg. In Deutschland demonstrierte dies wie kaum ein anderes Rennpferd vor immerhin über vierzig Jahren ein Gast, der sogar mehrfach eine besonders weite Anreise hinter sich bringen musste, um zu gewinnen… und zu gewinnen… und zu gewinnen.


Es war einmal... vor 45 Jahren

Er war (nicht unbedingt sehr poetisch) nach einem Benzolring mit einer Aminogruppe benannt, doch das Kölner Publikum störte sich wenig daran, denn in den Jahren 1965 bis 1967 gelang diesem Pferd namens Anilin im damals noch sehr jungen, aber äußerst ambitionierten Weidenpescher Prestige-Rennen, dem 1963 ins Leben gerufenen Preis von Europa, ein lupenreiner Hattrick. Und wenn nicht schon seine exotische Herkunft den in seiner Heimat Russland und den umliegenden Ländern des Ostblocks ungeschlagenen Hengst für die Kölner zu etwas Besonderem gemacht hätte, so tat dies spätestens seine Weltenbummler-Tour, die den 1961 geborenen Anilin außer nach Köln unter anderem auch noch nach Paris und Washington D.C. führte. Und das mitten im Kalten Krieg…

Anilin als Chemie-Piktogramm... Da ziehe ich doch die vierbeinige Variante deutlich vor!
Anilin scheinen mögliche politische Hintergründe seiner Auftritte auf westlichen Rennbahnen jedoch nicht großartig gekümmert zu haben, denn fast überall, wo er im Westen antrat, konnte er ähnlich wie in seiner Heimat überzeugen. Wen wundert es, dass er für die Sowjetunion zu einem vierbeinigen Werbeträger wurde, der außer stattlichen Geldpreisen in begehrten Devisen nebenbei auch noch etwas für den Ruhm des Landes tun sollte?

Eins der wenigen verfügbaren Bilder des vierbeinigen Anilin


Wer genau nun hinter den gerade in den Sechzigern regelmäßig erfolgenden Expeditionen sowjetischer Pferde ins westliche Ausland steckte, ist aus den Quellen nicht ganz eindeutig zu ermitteln – ebenso wie der Trainer, der letztlich für die lukrativen Treffer von Anilin verantwortlich war. Mal ist von einem Leiter des staatseigenen Vollblutkollektivs namens Rogalewitsch die Rede, dann wieder von Staatstrainer Pjotr Parischew. Der Rennkalender des Jahres 1965 vermerkt als Trainer einen Herrn namens W. Schimschirt, während in den beiden folgenden Jahren der siegreiche Jockey Nikolai Nassibow auch zugleich an der Stelle des Trainers angegeben ist. 
Geniales Gespann: Nikolai Nassibow und Anilin
Fest steht allerdings offenbar, dass die Verantwortlichen der sowjetischen Vollblutzucht Ende der Fünfziger und Anfang der Sechziger Jahre intensiv in die Leistungsverbesserung ihrer vierbeinigen Stars investierten. Geradezu wissenschaftlich muten die Schilderungen eines scheinbar detailliert informierten SPIEGEL-Journalisten an, der die verschiedenen Strategien schildert, die eingesetzt wurden, um am Ende Pferde zu züchten und zu trainieren, die nicht nur im Westen konkurrenzfähig waren, sondern bei ihren Ausflügen durchaus auch einmal der „kapitalistischen“ Konkurrenz die Hufe zeigen konnten.


So eben wie Anilin… Die Kölner Rennbahn war dem Hengst ebenso wie seinem Reiter Nikolai Nassibow (in deutschen Artikeln gerne malerisch stereotyp als „pockennarbiger Georgier“ bezeichnet“) bereits bekannt, denn im Vorjahr hatte der damals Dreijährige dort bereits das über 1800 Meter führende Robert-Pferdmenges-Rennen gewinnen können. Zweiter war damals übrigens ein weiteres sowejtisches Pferd namens Grafolog gewesen – erst fünf Längen dahinter hatte sich mit Novalis der beste deutsche Vertreter platzieren können.

Man kannte die Gäste aus dem Ostblock also durchaus, und auch wenn es nun am 17. Oktober 1965 um eine 600 Meter längere Strecke ging, traute man ihnen offenbar alles zu. Ob die Tatsache, dass Anilin zwei Wochen zuvor im Prix de l’Arc de Triomphe gar nicht einmal schlecht gelaufen war, hier eine Rolle spielte? 

Es muss wohl so gewesen sein, denn anders lässt sich die enorme Favoritenstellung des Gespanns Anilin-Nassibow vor dem Start des Rennens kaum erklären. Obwohl mit Opponent immerhin der erste Sieger im Preis von Europa am Start war, obwohl der Ravensberger Waidwerk, der Zoppenbroicher Kronzeuge oder Mercurius ja wahrlich keine schlechten Pferde waren, avancierten die russischen Gäste nämlich zu sagenhaften 10:10-Favoriten in einem Feld, das ansonsten durch die Bank dreistellig am Toto stand. Die Zahl der Menschen, die sich nach dem Zieleinlauf zum fröhlichen Geldwechseln an die Auszahlkassen begeben durften, muss enorm gewesen sein, denn Anilin erfüllte ihre Hoffnungen mit einem überlegenen Vier-Längen-Sieg vor Kronzeuge und dem französischen Gast Lagopede.

Im folgenden Jahr trat Anilin also als Titelverteidiger in Köln an. Diesmal jedoch war seine Favoritenstellung am Toto – in der damals noch existierenden Stallwette kombiniert mit dem anderen sowjetischen Starter Anschlag – mit 30:10 weniger exponiert. Auch dem deutschen Hengst Bandit und vor allem dem französischen Gast Carvin traute das Publikum an diesem unangenehm regnerischen Oktobertag auf durchgeweichtem Boden etwas zu. Ganz Unrecht sollten die Wetter mit ihrer vergleichsweise vorsichtigeren Haltung gegenüber einer möglichen Titelverteidigung von Anilin am Ende nicht gehabt haben, denn er gewann zwar, doch es wurde ungeheuer knapp. 

Ein britisches Pathé-Newsreel, das als echtes Archivschätzchen erhalten geblieben ist, zeigt den Ablauf des Rennens.


Da ist der vor Kraft strotzende Anilin mit seiner unverwechselbaren breiten Blesse zu sehen, der gleich nach dem damals noch mit Bändern erfolgten Start in der Spitzengruppe galoppiert, sich danach an der Spitze das Rennen selbst macht, um im Zielbogen aus guter Lage davon zu streben. Dass Jockey Nassibow dabei offenbar so etwas Ähnliches wie ein durchsichtiges Plastik-Regencape über seinem Dress trägt, das munter im Wind flattert, gehört zu den Kuriositäten am Rande dieses sehenswerten, leider aber stummen Filmchens.

Wenige Bilder später zieht Anilin in der Bahnmitte auf dem einem umgepflügten Acker gleichen Geläuf scheinbar unwiderstehlich davon. Es scheint eine Demonstration seiner überlegenen Klasse zu werden, bis... huch! Wenige Meter vor dem Zielspiegel taucht noch ein weiteres Pferd außen an de Rails auf und holt in flotten Sprüngen Meter um Meter auf: Salvo, ein Gast aus England mit Jockey Joe Mercer im Sattel!

Joe Mercer - nach dem Kölner Rennen wohl weniger zufrieden als hier
Sollte die Wende gegen den zunächst so überlegen wirkenden Anilin doch noch zu schaffen sein?

Für das trotz aller Regenschirme ordentlich durchfeuchtete Kölner Publikum muss diese Aufholjagd enorm spannend gewesen sein, denn ganz zuletzt, in dem Moment, in dem die beiden Paare das Ziel erreichten, schienen Salvo und Mercer es tatsächlich geschafft zu haben. Knapp vorbei an Anilin, auf den allerletzten Drücker!

Oder doch nicht?

Das Resultat ist bekannt: doch nicht. Gewonnen hatten Anilin und Nikolai Nassibow und damit erfolgreich ihren Titel aus dem Vorjahr verteidigt.

Oder… oder etwa doch nicht?

Die englischen Gäste jedenfalls protestierten, denn Joe Mercer war sich sicher, genau am Zielspiegel vorne gewesen zu sein. Hatte ihn sein Gespür etwa getrogen?



Zum intensiv diskutierten Streitobjekt wurde schließlich das Zielfoto, denn auf diesem fehlte, weil die Spur ganz außen an den Rails wegen der Position, in der die Kamera angebracht war, nicht erfasst wurde, Salvo ganz einfach. Auch das Negativ half nicht wirklich weiter, da vielleicht der Spiegel wegen des nasskalten Wetters beschlagen gewesen war oder sich die gesamte Aufholjagd gleich in einem toten Winkel abgespielt hatte. Ein ziemlicher Skandal eigentlich – und zu Recht damals heftig diskutiert, auch wenn die genauen Hintergründe von Anilins zweitem Sieg im Preis von Europa heute schon fast im Nebel der Geschichte entschwunden zu sein scheinen.



Salvo, der möglicherweise schnöde um den Sieg gebrachte Zweite, hielt sich im kommenden Jahr schadlos, als er in Baden-Baden den Großen Preis gewann, doch wird dies nur ein mäßiger Trost für die Beteiligten gewesen sein, die sich sicher waren,, dass sie Anilin eigentlich eine Niederlage beigebracht hatten. Das Ergebnis blieb jedoch trotz aller Diskussionen unverändert – Glück für Anilin und sein Kollektiv, und so bekam der vierbeinige „Klassenfeind“ schließlich sogar Möhrchen und tätschelndes Lob aus der Hand keines Geringeren als Bundespräsident Lübke. Und das mitten im Kalten Krieg…

Aller guten Dinge sind ja bekanntlich drei, und so kamen Anilin und Nassibow auch 1967 wieder an die Stätte ihres doppelten Erfolgs zurück. Diesmal wurden sie gleich von zwei Lands"pferden" namens Aktasch und Dagmar begleitet, doch waren diese eher schmückendes Beiwerk, als Anilin die deutsche und internationale Konkurrenz regelrecht demontierte und selbst dem großen deutschen Helden Luciano, Sieger im Derby, im Aral-Pokal und im St. Leger, nicht den Hauch einer Chance ließ. Vier Längen waren es, die der sowjetische Vorzeigegalopper seinem deutschen 15:10-Konkurrenten aus dem Stall von Trainer Sven von Mitzlaff am Ende abnahm – und das mit 6,5 Kilo mehr an Gewicht im Sattel. Was für ein Pferd!

Drei Treffer im Preis von Europa – das ist seither keinem anderen Galopper mehr gelungen, und so ist Anilin mit seinem Jockey Nikolai Nassibow zu Recht in die Annalen des deutschen Galopprennsports eingegangen. An diese spektakulären Erfolge konnten die späteren sowjetischen Expeditionen in den Westen nie wieder anknüpfen, obwohl sie es bis in die Neunziger Jahre hinein immer wieder versuchten. Anilin blieb eben ein Ausnahmepferd.

Zeit verging, und Nachrichten über das weitere Schicksal des Dreifach-Siegers von Köln waren angesichts des politischen Klimas rar. Er ging in seiner Heimat  in die Zucht, wo er nicht nur bei den Vollblütern, sondern z.B. auch bei den Trakehnern seine Spuren hinterließ.

Anilin-Spuren in der Trakehnerzucht

Indirekt war der offenbar um 1975 eingegangene Anilin Anfang der Achtziger Jahre in einen Beinahe-Skandal verwickelt, als herauskam, das einer seiner Nachkommen namens Gasolit, der wie sein berühmter Vater eine Einladung für den Preis von Europa 1981 erhalten hatte, offenbar nicht das Produkt eines wie in der Vollblutzucht vorgeschriebenen Natursprungs sein konnte. Da war wohl bei Gasolits Zeugung 1977 schon seit einiger Zeit tiefgefrorener Anilin-Samen im Spiel gewesen, und so lud man in Köln Gasolit unzeremoniell wieder aus. Der SPIEGEL, nie verlegen um drastische Wortwahl, sprach damals süffisant von den „ehrpusseligen Vollblutkreisen in Deutschland“, die an der scheinbar nicht länger zeitgemäßen Tradition des Natursprungs festhielten.

Auch der Große Preis von Europa 2011 hat mit dem fantastischen Campanologist einen ausländischen Gast als Sieger gesehen, der sogar noch weiter in der Welt herumgekommen ist als seinerzeit Anilin. 

Campanologist - auch 2011 ein Gästeerfolg im Preis von Europa
Auch er scheint die Kölner Bahn zu mögen, hat er doch hier bereits zwei Gruppe-I-Treffer an sich bringen können. Ob er es Anilin aber eines Tages im Hinblick auf den Preis von Europa-Hattrick gleichtun können wird, ist eher fraglich, denn Campanologist ist schließlich bereits sechs Jahre alt. Und dennoch – manchmal sind es bei allem notwendigen Lokalpatriotismus gerade die Gäste von anderswo, die uns besonders zu begeistern vermögen. Man muss eben auch gönnen können!