Es ist, auch wenn das Wetter dies nicht unbedingt vermuten lässt, Mitte August, und so langsam tauchen sie wieder auf der Rennbahn auf, die mit mehr oder weniger Erfolg im diesjährigen Deutschen Derby an den Start gekommenen besten Dreijährigen. Die meisten Derbypferde scheinen das verrückteste aller Rennen zum Glück in diesem Jahr heil überstanden zu haben und werden weiter Rennen bestreiten. Einige unter ihnen, so etwa Gereon oder Sommernachtstraum, waren auch bereits wieder fleißig, sei es ohne Erfolg auf Gruppe-Ebene und erneut über eine zweifelhaft lange Steherdistanz, sei es zur Nachholung des länger schon überfälligen Maidensiegs in einer vergleichsweise harmlosen Pflichtaufgabe.
Ein Derbystarter, der nun endlich sein erstes Rennen gewann: Sommernachtstraum |
Richtig viele ehemalige Derbypferde konnte man aber an diesem gerade erst beendeten langen Wochenende auf den verschiedenen Rennbahnen bewundern:
Der Derbyzweite Earl of Tinsdal und der Dritte Saltas haben sich zum Beispiel am Sonntag im Kölner Rheinland-Pokal ebenso ein Stelldichein gegeben wie der in Hamburg doch respektabel geschlagene Silvaner. Alle drei haben sich dort bei ihrem ersten Nach-Derby-Start erstmals auch mit der älteren Konkurrenz messen müssen, und man muss unterstreichen, dass sie dabei eine äußerst gute Figur gemacht haben. Earl of Tinsdal konnte sogar ungemein beeindrucken. Solche jahrgangsübergreifenden Konkurrenzen, die nun immer häufiger stattfinden werden, sind es ja, die für die gesamte zweite Saisonhälfte weiter Spannung garantieren und jede Menge Spielraum für Spekulationen über das jeweilige Leistungsvermögen und die sich daraus ergebenden Kräfteverhältnisse bieten.
Egal unter welchen Bedingungen die ehemaligen Derbystarter sich in den Wochen nach dem größten deutschen Turfereignis wieder dem Rennbahnpublikum vorstellen – besondere Aufmerksamkeit ist ihnen so oder so gewiss, denn schließlich sind sie durch ihr Laufen in Hamburg-Horn alle schon eine besondere Attraktion bei den künftigen Renntagen. Wenn aber bereits jenen Vierbeinern, die im Derby auf den Plätzen oder gar mit dem geschlagenen Feld ankamen, solches Interesse zuteilwird, gilt dies natürlich noch viel stärker für das eine Pferd, dem es im Rennen aller Rennen durch eine ordentliche Portion Können, das nötige Glück und einen taktisch klugen Ritt gelang, vor allen Konkurrenten den Zielspiegel zu passieren.
Ein Derbysieger ist (fast) immer ein ganz besonderes Pferd. Er (manchmal, in Ausnahmefällen, auch sie) hat verwirklicht, wovon die meisten Züchter, Besitzer, Trainer und Jockeys träumen – häufig Zeit ihres Lebens nur vergeblich. In diesem einen, alles entscheidenden Steher-Rennen des Dreijährigen-Jahrgangs war dieses eine Pferd ganz vorne und hat die gesamte Konkurrenz in den Schatten gestellt.
Zwar noch kein Derbysieger, aber dafür noch mit weißer Weste: Waldpark vor dem Start im Iffezheimer Derby-Trial |
Der Derbysieger des aktuellen Jahrgangs, Gestüt Ravensbergs Waldpark, kam am heutigen Montag wieder an den Start. Allerdings fand dieser erste Auftritt von Waldpark nach seinem Hamburger Triumph nicht vor deutschem Rennbahnpublikum statt, denn als nächstes Saisonziel für den Ravensberger Hengst hatte Trainer Andreas Wöhler den Prix Guillaume d'Ornano in Deauville auserkoren. Am Ende sprang ein alles in allem vielleicht etwas enttäuschender sechster Platz gegen ausgezeichnete europäische Konkurrenz heraus, wobei Waldpark zwar ohne Siegchance, aber für eine bessere Platzierung nicht arg weit geschlagen war. Die weiße Weste, die er bislang durch seine Karriere getragen hatte, ist nun natürlich verloren.
Auch wenn der Ort des Geschehens heute in Frankreich, statt in Deutschland lag, existiert hier doch eine interessante Parallel, denn...
Es war einmal vor dreißig Jahren
Vor dreißig Jahren blieb der amtierende Derbysieger des Jahres 1981 für seinen ersten Auftritt nach dem großen Triumph anders als 2011 im Lande. Mit Waldpark teilt er, der große Orofino, allerdings eine andere Eigenschaft, nämlich den Status des Ungeschlagenen, des Derbysiegers mit sprichwörtlich weißer Weste. Fünf Rennen hatte er seit seinem Debüt als Zweijähriger bestritten, und in allen Fällen hatte er als erstes Pferd den Zielpfosten passiert. Besonders seine immer ambitionierter werdende Dreijährigen-Route nach einem klassischen Muster jener Zeit (Hoffnungs-Preis, Henckel-Rennen, Union-Rennen, Derby), auf der er die Gegnerschaft in der Regel souverän abhängte, hatte enormen Eindruck gemacht.
Daher stammte also seine völlige Zuversicht, dass Orofino auch in Gelsenkirchen seine weiße Weste behalten würde. Glaubte man den vollmundig vorgetragenen Argumenten während des Abendessens auf der nachgeholten Geburtstagsfeier, bei der ich stolz meine Orofino-Uhr stolz am Handgelenk spazieren trug, war der Zoppenbroicher Derbysieger vollkommen unschlagbar.
Zu einem Pferd fast vom anderen Stern („Ooooorofino Erster, der Rest nirgends“, so titelte die Bildzeitung am Tag danach) war der Zoppenbroicher Hengst jedoch besonders durch seinen Derbysieg am 1. Juli 1981 geworden, denn diesen hatte er sage und schreibe mit einer Weile Vorsprung… nun, von „errungen“ kann angesichts des nachträglich nachgemessenen Abstands zum Zweiten Winslow von beinahe dreizehn Längen eigentlich nicht die Rede sein. Das wäre eine unangemessene Wortwahl. Vielmehr war Orofino wie auf Flügeln dem Feld enteilt und hatte das Hamburger Publikum mit dieser Galavorstellung, wie man sie ausgerechnet im Derby wohl kaum je zu sehen bekommt, in seinen Bann gezogen.
Hatte es überhaupt je einen derart überlegenen Derby-Sieger zu beklatschen gegeben? Viele Rennausgänge des vergangenen Jahrzehnts, die die anwesenden treuen Derby-Besucher vielleicht noch in Erinnerung hatten, waren eher knapp ausgefallen. Es hatte zwar auch klare Siege wie 1973 bei Athenagoras, 1976 bei Stuyvesant oder vor allem 1977 mit dem überlegenen Surumu gegeben, aber die Duelle bis ins Ziel überwogen. Oft war es sogar ausgesprochen eng geworden, so besonders 1974 zwischen Marduk und Lord Udo, 1978 in der Regenmatschpartie von Zauberer und vor allem bei jenem sagenumwobenen Zweikampf der beiden Dauer-Rivalen Königsstuhl und Nebos 1979. Auch Navarino, der Derbysieger des Vorjahres, hatte sich nach einem bravourösen Kampf gegen den Außenseiter Arcosanti gerade noch mit Halsvorsprung in Ziel retten können.
Mitreißend waren diese Derbyentscheidungen für das anwesende Publikum und die Zuschauer daheim an den Fernsehgeräten zweifellos gewesen. Kein Vergleich an Nervenkitzel-Potential war dagegen der nie auch nur eine Sekunde zu bezweifelnde Triumph von Orofino. Sein Derbysieg beeindruckte nicht durch die Pulsfrequenz in die Höhe jagende Spannung, sondern gerade durch die drückend überlegene Demonstration seines Könnens. Man musste lange zurückdenken, bis in die Zeit des Zweiten Weltkriegs genau genommen, um mit Schwarzgolds Triumph von 1940 immerhin einen Zehn-Längen-Vorsprung zu finden, der das restliche Derbyfeld in ähnlicher Weise deklassiert hatte.
Wer sollte dieses Wunderpferd Orofino denn überhaupt zukünftig schlagen? Unter seinen Altersgenossen hatte er, das hatte das Derby zur Genüge unter Beweis gestellt, wohl keinen Gegner zu fürchten. Und die Älteren? Waren sie Orofino vielleicht eher gewachsen oder gar überlegen, weil sein eigener Jahrgang in der Spitze möglicherweise eher schwächer besetzt war?
Heute vor dreißig Jahren bot sich die erste Gelegenheit zur Klärung dieser brisanten Frage, denn wie in jedem Jahr seit seiner Gründung anno 1957 wurde auf einer Rennbahn, die es inzwischen leider schon seit Jahren nicht mehr gibt, im Aral-Pokal die Bühne für den ersten ernsthaften Jahrgangsvergleich auf höchster Ebene bereitet: Gelsenkirchen-Horst.
Ähnlich wie im aktuellen Rheinland-Pokal, dessen Vorläufer der Aral-Pokal war, fand sich mit sieben Startern nur ein überschaubares Teilnehmerfeld zusammen, obwohl es um Gruppe-I-Meriten ging. Außer den Dreijährigen Machtvogel und Ti Amo, die zwar gute Pferde waren, einem Orofino aber nicht das Wasser reichen konnten, waren unter den älteren Startern Donat und Maivogel auch eindeutige Außenseiter. Wenn überhaupt jemand den amtierenden Derbysieger gefährden konnte, so muss sich das Publikum vorab gedacht haben, dann doch wohl am ehesten sein Vorgänger in Hamburg-Horn, Navarino, oder… Ja, oder vielleicht der siebte Starter, der das Feld komplettierte, ein Hengst in Röttgener Farben namens Wauthi, der schon ein hervorragender Zweijähriger gewesen war, 1980 zwar nicht das Derby, aber immerhin das Henckel-Rennen, das St. Leger und auch den Aral-Pokal hatte gewinnen können und sich auch in der laufenden Saison schon als zweifacher Gruppesieger hatte auszeichnen können. Dieser Wauthi, der schien unter dem Röttgener Stalljockey Peter Remmert bei einer nüchternen Betrachtung der Aspiranten auf den Aral-Pokal brandgefährlich.
Mein Patenonkel war sich damals allerdings sehr sicher, dass niemand Orofino würde beeindrucken können. Er verkündete diese Überzeugung ausgesprochen selbstbewusst bei meinem nachgeholten Patengeburtstagsbesuch, der mir neben jeder Menge Schwärmerei über die Glanzleistung des Zoppenbroichers, die er in Hamburg selbst miterlebt hatte, ein ungewohnt großzügiges Geschenk einbrachte. Es handelte sich um meine erste eigene Armbanduhr mit einem Pferdekopfmotiv auf dem Ziffernblatt, einem roten Lederarmband und (ganz wichtig!) einer goldenen Umrandung. Diese geschenkte Uhr war genau genommen von Orofino („Sein Name bedeutet ja auf Deutsch eigentlich ‚feines Gold‘, wie mein Onkel stolz verkündete.) „bezahlt“ worden, denn sein Derbysieg hatte meinem Patenonkel dank einer frühzeitig noch im Vorjahr nach dem Debüt des Hengstes abgeschlossenen Festkurs-Wette einen hübschen Gewinn in die Tasche gespielt, den er auf den drückend überlegenen Zoppenbroicher so am Totalisator auf der Bahn sicher nicht mehr bekommen hätte.
Genau genommen hatte er ja nur das gemacht, was er jedes Jahr tat, nämlich auf die vielversprechenden Zweijährigen mit Derby-Pedigree aus dem Stall seines erklärten Lieblingstrainers Sven von Mitzlaff Festkurse zu wetten. Wenn sie dann auch noch die hellblau-weißen Farben seines Lieblingsgestüts trugen und obendrein sogar von seinem damaligen Lieblingsjockey Peter Alafi geritten wurden… nun, dann machte ihn ein Treffer restlos glücklich und unterstrich seine innere Überzeugung, dass er ein genialer Zocker sei. Und genau deshalb war er auch völlig davon überzeugt, dass es mit Orofinos genialer Siegesserie einfach so weitergehen würde.
Allerdings – manchmal kommt es anders als man denkt. Und das war gleich bei Orofinos nächstem Start nach dem Derby der Fall, denn hier traf er erstmals seinen Meister und wurde „nur“ Zweiter. Allerdings war er ein mit respektablem Abstand geschlagener Zweiter, so dass die Niederlage gegen Wauthi – denn das Röttgener Spitzenpferd war seiner Rolle als größte Gefahr für Orofino glänzend gerecht geworden, so dass Jockey Peter Remmert sein Pferd am Ende gar nicht mehr groß bemühen musste. Zu souverän fiel der Erfolg von Wauthi in Gelsenkirchen aus – und zu deutlich dadurch eben auch die Niederlage für den Derbysieger. Er sei entzaubert und in seine Grenzen verwiesen worden, hieß es. Und vielleicht sei er ja doch nicht so gut wie der triumphale Derbysieg dies hatte vermuten lassen…
Ich war in Gelsenkirchen damals nicht dabei. War mein Onkel, der natürlich nach Horst gefahren war, enttäuscht? Ja, ganz sicher, aber ich erinnere mich, dass er bei unserer nächsten Begegnung auf der Mülheimer Rennbahn weiterhin ganz fest an ein Comeback seines Orofino in Siegform glaubte. Dass manche Rennbahnbesucher den Hengst nach einem zweiten Platz in einem der ganz großen Rennen des deutschen Turf-Kalenders schon überragendes Leistungsvermögen absprechen wollten, ärgerte ihn sichtlich. Und ich, die ich ja immerhin jeden Tag meine Orofino-Uhr trug, erklärte mich da spontan solidarisch, als wir beschlossen, dass wir uns den Zoppenbroicher bei einem seiner nächsten Auftritte in der Umgebung gemeinsam live anschauen wollten.
Ein Weilchen musste ich warten, ehe dieser Plan tatsächlich in die Tat umgesetzt wurde – bis zum folgenden Jahr, genau genommen, als Orofino vierjährig war. Ein weiteres Rennen auf höchstem Parkett, den Großen Preis von Baden, hatte er nicht als Sieger, sondern nur als Vierter beendet. Im folgenden Jahr aber bestätigte er, dass mein Patenonkel mit seinem weitsichtigen Vertrauen vollkommen Recht und die leisen Zweifler vollkommen Unrecht gehabt hatten, denn das Jahr 1982 war das große Jahr des Orofino.
Das neue Rennjahr begann gleich optimal mit einem klaren Sieg im Gerling-Preis, ausgerechnet gegen das Pferd, das ihm die erste Niederlage beigebracht hatte: Wauthi. Es folgten weitere große Treffer in Düsseldorf, Hamburg, erneut in Düsseldorf, dann schließlich im begehrten Aral-Pokal, den er im Vorjahr noch nicht hatte gewinnen können. Beinahe immer notierte der Zielrichter „überlegen“ im Richterspruch. Und genau so habe ich Orofinos Siege in Erinnerung: Demonstrationen eines überlegenen Rennpferdes. Ich bekam ihn in jener Saison mehrfach zu Gesicht, wobei allerdings meine Erinnerungen an die einzelnen Rennen, die wir besucht haben, ein wenig verschwommen sind und sich miteinander vermischen. Schön, nein, schön fand ich Orofino nie. Aber er hat mich beeindruckt, immer und immer wieder, denn er hatte jede Menge Charakter, auch wenn ich das damals mit meinen acht Jahren kaum hätte erklären können.
Bald schon war der Hengst ein Publikumsmagnet und lebende Legende gleichzeitig, zog die Turffreunde in Scharen zu seinen Auftritten auf die Bahn, wurde sogar in seinem Trainingsquartier bei Sven von Mitzlaff auf der Rennbahn in Köln-Weidenpesch von einem Fernsehteam für eine Dokumentation unter dem Titel „Orofino, das Millionenpferd“ übers Jahr begleitet und gab nebenbei einem Restaurant im Heimatort seiner Zuchtstätte den Namen. Was es nicht alles gibt… Man beachte die Namen der Pizzen auf der Speisekarte. ;-)
Fünfjährig konnte Orofino auch auf europäischem Parkett überzeugen und war zweimal ausgezeichnet platziert, während er in Deutschland praktisch alles gewann, was es zu gewinnen gab – darunter auch dreimal den Titel „Galopper des Jahres“. Der ehrgeizige Plan, mit ihm in den Arc de Triomphe zu gehen (und dort hoffentlich auf zu gewinnen!) führte zwar nicht zum Erfolg, aber das tat der herausragenden Rennleistung von Orofino letztlich keinen Abbruch. Für mich war er der erste vierbeinige Star, dessen Karriere ich ganz aktiv und bewusst mitbekam.
Und Wauthi, das Pferd, das ihn zuerst geschlagen hatte, nur um bei ihrer nächsten Begegnung eine deutliche Revanche erleben zu müssen?
Auch er war ja alles andere als ein schlechtes Pferd. Im Gegenteil! Doch als Orofinos große Karriere vierjährig erst richtig begann, neigte sich jene von Wauthi bereits dem Ende zu. Etwas früher als der um ein Jahr jüngere Zoppenbroicher bezog Wauthi also einen Posten als Deckhengst. Beiden hätte man in der Zucht vielleicht mehr Fortune und dem bereits 1989 eingegangenen Orofino auch ein längeres Leben gewünscht. Die Nachkommen der beiden Hengste, die ich aus meiner Grundschulzeit noch gut in Erinnerung hatte, habe ich dann als Teenager immer aufmerksam betrachtet, und auch wenn bis auf den Orofino-Sohn Vincenzo und den Wauthi-Enkel Sternkönig die ganz großen Helden ausblieben, habe ich sie gerne laufen sehen, gleich ob es sich nun um Renomee, Ice and Fire, San Remo, Couronne oder Akelei hießen.
Und die Moral von der Geschichte? Auch überlegene Derbysieger mit einer bislang weißen Weste tun sich manchmal mit dem folgenden Rennen etwas schwer, aber oft bedarf es nur einer gewissen Geduld, ehe das Zutrauen in und die Hoffnung auf das Galoppiervermögen der vierbeinigen Helden von Horn im späteren Verlauf ihrer Karriere wieder belohnt werden.
Hoffentlich wird das für Waldpark auch gelten! Meine Daumen sind jedenfalls gedrückt.
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