Dienstag, 26. April 2011

Vor 35 Jahren: Von einer Sekunde zur nächsten

Wenige Sekunden können manchmal ein Menschenleben vollkommen verändern. Dies weiß wohl jeder, der selbst oder in seinem Freundes- und Familienkreis schon einmal von einem schweren Unfall betroffen war. Was noch Augenblicke vorher heil und scheinbar beschützt war, kann dann durch ärztliche Diagnosen grundsätzlich in Frage gestellt werden. Und manchmal gehen – leider – in kürzester Zeit als verlässlich betrachtete und zutiefst geschätzte Fähigkeiten unwiederbringlich verloren, ohne die Lebensentwürfe völlig neu überdacht werden müssen.

Aus meiner Jugendzeit kann ich mich noch an das Entsetzen über die zwei tödlichen Stürze der Jockeys Josef Dolejsi und Hans Strompen erinnern. Augenzeugin war ich leider bei dem schweren Unfall von Jockey Neil Grant auf meiner Heimatbahn in Mülheim, den der mir immer sympathische Reiter im August 2000 nicht unversehrt überstand. Aber nicht nur in den Rennen an sich, sondern auch in der Trainingsarbeit kann es manchmal zu Unglücken mit schwerwiegenden Folgen kommen, wie aus jüngerer Zeit die Beispiele von Christian Zschache, Peter Gehm oder Peter Heugl belegen. Als weitestgehend unbeteiligte Zuschauerin ist mir auch bewusst, dass die Außenstehenden in der Regel gar nichts davon erfahren, wenn solche Unglücke statt der bekannten aktiven Reiter „nur“ die deutlich größere Gruppe der oft anonymen Arbeitsreiter und -reiterinnen betrifft. Dies macht eine Einrichtung wie die Trainer- und Jockey-Unterstützungskasse noch einmal wichtiger als sie es ohnehin schon ist. Übrigens – in einem alten Jahrgang der Sport-Welt aus dem Jahr 1968, der ein ganz besonderes Schätzchen in meinem Archiv ist, wurde regelmäßig ganz offensiv veröffentlicht, welche in einem Rennen erfolgreichen Besitzer einen Anteil ihres Gewinns an die Unterstützungskasse gespendet hatten. Wieso ist dies eigentlich heute nicht mehr so?


Es war einmal vor 35 Jahren

Dass Galopprennen für die aktiv Beteiligten kein ganz ungefährlicher Sport sind, liegt ja angesichts des hohen Tempos, bei dem doch eigentlich fast alle Konkurrenten gewinnen oder zumindest so gut wie möglich abschneiden wollen, schon beinahe auf der Hand. Ich persönlich habe größten Respekt vor den Menschen, die diesem sicher jeden Tag neu faszinierenden, aber auch körperlich und mental sehr fordernden Beruf ausüben und dabei gelegentlich in Gefahr geraten. Heute im ersten Rennen in Köln wurden zum Beispiel gleich drei Pferde im Schlussbogen reiterlos, doch blieben sie dabei glücklicherweise unversehrt. Nur ein Jockey erlitt leichtere Blessuren, aber Andreas Suborics will am kommenden Wochenende bereits wieder im Sattel sein. Es ging also alles vergleichsweise glimpflich ab. Besonders wichtig ist darum die Anmerkung, dass schwere Unfälle, in denen Mensch und Tier großen Schaden nehmen, im Galopprennsport zwar (leider!) vorkommen, aber dennoch eindeutig nicht an der Tagesordnung sind. Zum Glück ist dies so!

Harro Remmerts größter Sieg als Jockey -
Deutsches Derby 1973 mit Athenagoras




Heute vor 35 Jahren, am 25. April 1976, geschah allerdings auf der Krefelder Galopprennbahn ein Rennunfall, der nach allen Erzählungen und Quellen, die ich im Lauf der Jahre gehört und gelesen habe, die Freunde des Rennsports ebenso wie die Aktiven tief erschütterte, denn er betraf einen der bekanntesten Namen aus dem Jockeylager jener Zeit, einen Menschen, der zudem – zumindest wird dies immer und immer wieder betont – auch weithin besondere Sympathie genoss. Die Folgen jenes Unglücks, das der damals die Rennreiterstatistik der noch jungen Saison anführende Harro Remmert bei seinem Ritt auf dem belgischen Hengst Arpad im Dr. Busch-Memorial erlitt, beendeten nicht nur von einer Sekunde zur nächsten seine Laufbahn als Jockey. Sie veränderten auch sein Alltagsleben dramatisch und ließen ihn und seine Familie vor einer zunächst vollkommen ungewissen Zukunft zurück, denn nachdem sein Pferd in der damals noch nicht durch Rails begrenzten ersten Kurve der Rennbahn nach dem 1700-Meter-Start ausgebrochen und unkontrollierbar in ein Waldstück galoppiert war, wo es seinen Reiter gegen einen Baum schleuderte, konnten die Ärzte Harro Remmert nur noch die Diagnose einer bleibenden Querschnittlähmung stellen.  


Wohl niemand kann den Hergang dieses folgenschweren Unfalls und seine Folgen berührender und intensiver erzählen als der Betroffene selbst, wie er es in einer Folge der Dokumentationsserie „Sport-Spiegel“ Anfang der 1980er Jahre tat, die vor knapp zwei Monaten zufällig noch einmal wiederholt wurde.


Eins macht dieser eindrückliche Bericht vor allem deutlich: Unabhängig von der Frage, ob der Unfall von Harro Remmert auf diese und jene Weise eventuell hätte verhindert werden können, wenn das Geläuf an dieser gefährlichen Stelle durch Rails begrenzt gewesen wäre, wenn das schon in der Arbeit schwer zu reitende Pferd nicht ausgerechnet aus der äußeren Startbox hätte abspringen müssen, wenn es vielleicht gar nicht erst an diesem Rennen teilgenommen hätte, für das sein Jockey eigentlich bereits eine andere Rittverpflichtung für das Pferd Gimont aus dem Stall seines ehemaligen Trainers Georg Zuber angenommen hatte, wenn… ja, wenn. Das Unglück war allerdings passiert. Die Folgen jener wenigen, das Leben dramatisch verändernden Augenblicke waren nicht mehr umkehrbar, egal wie groß das Entsetzen bei dem unmittelbar Betroffenen und denen, die zu Augenzeugen des Geschehens geworden waren, auch war.

Einer jener Augenzeugen in Krefeld war auch mein Patenonkel, und ich kann die vielen Male gar nicht zählen, in denen er mir von jenem Tag und der Zeit danach berichtet hat. Das hatte einen naheliegenden Grund, denn schon lange vor dem 25. April 1976 war Harro Remmert einer der bevorzugten Reiter in der persönlichen Wertschätzung meines Onkels gewesen. Schon früh in den 1960er Jahren, so berichtete er, habe er den jüngeren Bruder des damaligen Spitzenjockeys Peter Remmert bei einem harmlosen Rennen in Mülheim für sich „entdeckt“. Peter Remmert, der Ältere der Brüder, sei damals in Köln Stalljockey bei Sven von Mitzlaff, den mein Onkel ja nahezu grenzenlos verehrte, gewesen. Und Harro Remmert kann demnach gerade erst seine Lehrzeit bei seinem späteren Schwiegervater Trainer Johannes Kuhr auf dem Gestüt Ravensberg in der Nähe von Gütersloh beendet gehabt haben. Er stand also sicher noch ganz am Anfang seiner Jockeylaufbahn, die fast genau fünfzehn Jahre dauerte, bis zu jenem folgenschweren Tag im Krefelder Stadtwald Ende April 1976.

Jung sei er damals noch gewesen und unerfahren, und natürlich habe er noch eine Menge lernen müssen, so meinte mein Onkel, aber was ihn überzeugt habe, sei das sichtbare Talent des jungen Mannes gewesen, dazu seine „nette, bescheidene Art“ und „wie der so mit den Pferden war.“ Ihm habe besonders gefallen, dass der junge Reiter die Peitsche niemals im Übermaß benutzt habe. „Der hat die Pferde nicht kaputt gemacht. Im Gegenteil!“ 

Diese frühen Eindrücke und ein großer Wettgewinn auf einen Sieg Harro Remmerts mit der Stute Cosima aus dem Stall von Trainer C.W. Löwe im Oktober 1963, von dem mein Onkel auch viele Jahre später noch begeistert schwärmen konnte, haben ihn offenbar dazu bewogen, die Laufbahn des Reiters immer aufmerksam zu verfolgen und sich über jeden Fortschritt zu freuen. Mein Onkel war, so würde man dies zumindest heute ausdrücken, zum Fan geworden, und darum freute es ihn umso mehr, als Anfang 1973 bekannt wurde, dass sein bevorzugter Reiter den Posten als Stalljockey bei seinem verehrten Trainer Sven von Mitzlaff erhalten hatte. Für meinen Onkel - und nicht nur für ihn - war dies eine Traumkombination. 

Für Harro Remmert selbst war dieser Schritt ein Meilenstein in seiner Karriere, die sich spätestens seit Mitte der 1960er Jahre in Stalljockeyfunktion bei Georg Zuber in Neuss enorm positiv entwickelt hatte. Ob es diese Berufung an den Olymp-Stall in Köln war, die meinen Onkel bewogen hat, jenes Autogramm zu besorgen, das ich in einem seiner alten Alben des Rennsports gefunden habe? Mag sein – es ist eines von nur drei Autogrammen, die er überhaupt in seinem Fundus hatte.

Fundstück - ein Autogramm


So wie auf dem Bild dargestellt, in voller Jockeymontur, habe ich selbst Harro Remmert nicht mehr erlebt, denn dafür bin ich zu spät geboren. Als sein schwerer Unfall in Krefeld geschah, der meinen Onkel auch viele Jahre später noch immer wieder gedanklich beschäftigte und zum Erzählen brachte, wenn wir den Trainer Harro Remmert im Führring oder anderswo auf einer Rennbahn bei der Arbeit sahen, war ich noch keine zwei Jahre alt – zu jung also für aktive Erinnerungen.


Noch fest im Sattel


Seine Erinnerungen hat mein Onkel in seinen vielen Geschichten aber gerne mit mir geteilt und mir damit schon in meiner Kindheit eine intensive Prägung mitgegeben, die bis heute für gewisse Vorlieben sorgt, mit denen ich das aktuelle Renngeschehen erlebe. Speziell Geschichten von den großen Siegen Harro Remmerts mit dem Zoppenbroicher Athenagoras im Deutschen Derby 1973, von seinem Doppeltreffer im Aral-Pokal 1973 und 1974 oder der Sieg mit Loisach im Preis der Diana 1974 auf unserer Heimatbahn am Raffelberg, nachdem Harro Remmert gerade erst wieder von einem Armbruch genesen war, konnte mein Onkel dermaßen anschaulich nacherzählen, dass es mir vorkam als laufe ein Film in meinem Kopf ab und ließe mich tatsächlich indirekt zur Augenzeugin werden. Schade – ich hätte ihn wirklich auch gerne einmal als Jockey erlebt, denn was ich auf zahlreichen Fotos in diversen Alben des Rennsports sowie in wenigen erhalten gebliebenen Filmausschnittchen vom Jockey Harro Remmert inzwischen gesehen habe, gefällt mir ebenfalls sehr.

Ich selbst kenne aus eigenem Miterleben also nur den Trainer Harro Remmert, wobei meine frühesten Erinnerungen bis an den Anfang der 1980er Jahre zurückreichen. Ein Pferd namens Kai war es, dem damals meine gesamte Sympathie galt, hieß doch ein besonders netter Junge aus meiner Grundschulklasse auch Kai. Wie schön, dass Kai, das Pferd, von Harro Remmert trainiert wurde und häufiger in Mülheim vor meiner Haustür an den Start kam. Eine Weile lang war meine Standarderwiderung, wenn mein Onkel mich fragte, ob ich mit auf die Rennbahn kommen wollte: „Läuft Kai auch?“ Die Antwort war sehr oft positiv, und ich kann mich zum Beispiel noch gut an den dritten Platz von Kai erinnern, den er unter Harro Remmerts Bruder Peter am 1. Mai 1983 im Großen Preis der Stadt Mülheim an der Ruhr, immerhin einem Ausgleich I, errang. Ich hatte meinen skeptischen Onkel überzeugt, Kai doch auf Platz zu wetten – und es hat sich sehr gelohnt.

Friedemann hieß ein weiterer treuer „Dauerläufer“ aus dem Neusser Stall von Harro Remmert, an dem ich im Grundschulalter einfach schon den wunderschönen Namen mochte. Erst viel später habe ich zufällig über einen alten Jahresrennkalender herausgefunden, dass jener Friedemann auch das letzte Pferd war, das Harro Remmert als Jockey am 25. April 1976 in Krefeld ins Ziel geritten hatte. Es wurde ein wenig spektakulärer fünfter Platz – kaum eine Stunde, ehe der Unfall mit Arpad das Leben des damals dreiunddreißigjährigen Reiters dramatisch verändern sollte. Dass der vom Gestüt Zoppenbroich gezogene Friedemann mit zu den Pferden zählen sollte, mit denen der Trainer Harro Remmert kaum ein Jahr später seine neue Aufgabe auf der Galopprennbahn in Neuss begann, hat damals sicher niemand ahnen können, und doch sind es gerade solche Kontinuitäten, die die im Verlauf von fünfundzwanzig Jahren bis Ende 2002 äußerst erfolgreich verlaufene Karriere des „Trainers im Rollstuhl“ Harro Remmert überhaupt erst möglich machten.


Harro Remmert hatte vor seinem Unfall, wie es in einigen Interviews nachzulesen ist, überhaupt kein Trainer werden wollen. Erst danach, als er irgendwie einen Weg finden musste, um mit seiner bleibenden Behinderung zu Rande zu kommen, wurde das Trainieren von Galopprennpferden zu einer Möglichkeit, zumindest weiter mit den Vierbeinern arbeiten zu können, die zuvor sein Leben bestimmt und erfüllt hatten. Sein Trainer Sven von Mitzlaff und Kurt Bresges, der Gestütsherr von Zoppenbroich, die Harro Remmert beide offenbar sehr schätzten, waren es, die auf die Idee kamen ihm mitten hinein in die Ängste, Trauer und Zweifel der ersten Zeit nach seinem Unfall, als er noch schwer verletzt im Krankenhaus lag, eine solche zweite Laufbahn vorzuschlagen.


Ein Zeitungsbericht über einen ähnlich verunglückten Reiter aus Frankreich hatte als Ideengeber gedient, doch in Deutschland gab es damals noch keinen Präzedenzfall für einen querschnittgelähmten Trainer, der zur Fortbewegung auf einen Rollstuhl angewiesen war. Und so mussten zunächst viele Zweifel und Hindernisse ausgeräumt werden, ehe Harro Remmert überhaupt die Chance bekommen konnte, den zaghaft gefassten Funken Hoffnung in Realität umzusetzen, indem er die Prüfung zum Pferdewirtschaftsmeister ablegte und sich auf der Neusser Galopprennbahn einen eigenen, zunächst kleinen, bald aber stetig wachsenden Stall aufbaute.

Mein Onkel erinnerte sich gut an die vielen Diskussionen über die Realisierbarkeit dieses Vorhabens, die unter seinen Zockerfreunden 1976 geführt wurden, als einige Zeit nach dem schweren Unfall in Krefeld bekannt wurde, was Harro Remmert nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus tun wollte. Immer wieder sprach er davon, wie er im Herbst 1976 Harro Remmert nach dessen Unfall zum ersten Mal wieder auf der Kölner Rennbahn gesehen habe und von der folgenden Debatte in einer Wetthalle. Er selbst, so meinte er, sei praktisch der Einzige in jener Runde gewesen, der auch nur ansatzweise daran geglaubt hatte, dass so etwas möglich sei. Die Zweifel türmten sich bergehoch: „Wie will er das denn überhaupt machen aus dem Rollstuhl? Wie soll so etwas mit diesen großen Tieren denn gehen?“

Wie Harro Remmert das machte, wie so etwas mit diesen großen Tieren ging, lässt der oben verlinkte Filmausschnitt wohl recht gut erkennen. Neben der Hilfe seiner Frau, seiner Familie und guter Freunde waren es aber doch sicher vor allem eigene Entschlossenheit, seine intensiv enge Bindung an die ihm anvertrauten Pferde sowie seine auffallende Ruhe und Geduld, die dazu beigetragen haben, dass der Trainer Harro Remmert nicht nur mit ein paar ihm aus Mitleid überlassenen Alibi-Vierbeinern irgendwie über die Runden kam und etwas zu tun hatte, was ihn auf andere Gedanken brachte, sondern dass er von Jahr zu Jahr immer mehr Erfolg entwickelte. Bald entwickelte sich sein Stall in Neuss zu einer beliebten Trainingsadresse. So rückte irgendwann auch die Tatsache, dass dieser Trainer nun einmal zum Vorwärtskommen einen Rollstuhl benutzte, zunehmend in den Hintergrund der Wahrnehmung.

Die Fernsehdokumentation von 1981 zeigt einen Einblick in diese frühe Phase der Trainerkarriere von Harro Remmert, in der er gleichwohl mit den zwei Iffezheimer Treffern der Zoppenbroicher Stute Anmut oder mit den vielen guten Platzierungen des Hengstes Ludovico schon sehr schöne Erfolge erringen konnte. Das Leben, das am 25. April 1976 durch den Unfall mit Arpad und die Diagnose Querschnittlähmung radikal unterbrochen worden war, war doch irgendwie weitergegangen – und es hielt neben der täglichen, sicher oft mühseligen Anstrengung, diesen Beruf als Rollstuhlfahrer ausüben zu wollen und ausüben zu können, auch sichtbar viele Freudenmomente für Harro Remmert bereit. Er hatte eine neue Aufgabe gefunden, die ihn vollständig forderte und ihn gleichzeitig regelmäßig durch Erfolge belohnte, die – diese Erinnerung ist mir ebenfalls noch ganz deutlich präsent – vom Rennbahnpublikum immer mit besonderer Herzlichkeit bejubelt wurden.

„Hab ich doch gesagt, dass der das kann!“, pflegte mein Onkel auch in den späteren 1980er Jahren noch gerne mit leicht triumphierendem Unterton anlässlich solcher Erfolge zu jenen unter seinen Zockerfreunden zu sagen, die anfangs zu den größten Zweiflern gezählt hatten. So zum Beispiel am 27. September 1987, als Harro Remmert mit dem Hengst Kamiros in Köln durch den hauchdünnen Sieg im Preis von Europa seinen bis dahin wohl größten Treffer schaffte, nachdem er zu Beginn der Saison von Neuss nach Weidenpesch gewechselt war, um dort den Stall von Sven von Mitzlaff weiterzuführen. Eigentlich war mein Onkel ja damals mit mir im Schlepptau nach Köln gefahren, um noch einmal den großen Acatenango live zu erleben, der in jenem Preis von Europa sein letztes Rennen absolvierte, doch dessen besorgniserregendes Versagen war schlagartig vergessen, als das Zielfoto schließlich belegte, dass tatsächlich Kamiros das Rennen gewonnen hatte. Damit gerechnet hatte mein Onkel gewiss nicht, doch seine pure Freude steckte (nicht nur mich) einfach an.

Wenig später machte ich mich im Hinblick auf meine unvermindert regelmäßigen Rennbahnbesuche überall dort, wo man eben mit dem Schülerticket und öffentlichen Verkehrsmitteln hinkam, immer selbstständiger von meinem Onkel und nahm lieber Freundinnen mit, die sich dann (das hat sich ja eigentlich bis heute nicht geändert) all die vielen Geschichten am Führring anhören durften, die sich so im Verlauf der Zeit in meinem Kopf angesammelt hatten. Meinem Onkel begegnete ich irgendwann auf der Rennbahn nur noch eher zufällig und irgendwann, als seine Gesundheit nicht mehr mitspielte, gar nicht mehr. Seine Vorlieben, zu denen auch sein respektvoll bewunderndes Interesse für Harro Remmert zählte, hatte er mir aber schon längst „vererbt“, und so achtete auch ich mit meinem zunächst noch ziemlich beschränkten Hintergrundwissen immer genau und mit besonderer Sympathie auf die Pferde, die jener Trainer am Start hatte.


Siegerehrung - hier in Gelsenkirchen Anfang der 90er Jahre


Viele Male habe ich am Absattelring gestanden und nach einem Rennen – gleich ob es nun erfolgreich verlaufen war oder nicht – beobachtet, wie Harro Remmert mit seinen Schützlingen umging, wie er sie ganz genau beobachtete und häufig, so als existierten das Menschengewimmel ringsumher und die anderen Pferde gar nicht, den Kontakt zu ihnen suchte, wie sie in der Regel auch unmittelbar nach den Anstrengungen und all der Aufregung eines Rennens mit bemerkenswerter Vertrautheit und Ruhe auf ihn reagierten.

Harro Remmert und die von ihm trainierte Wurftaube
nach deren Sieg im St. Leger am 29. September 1996
- ein ganz typisches Bild aus dem Absattelring


Das hat mich – und ganz sicher nicht nur mich! – immer enorm beeindruckt.

Gerade „meine“ Rennbahn in Mülheim entwickelte sich, nachdem eine kleine Durststrecke zu Beginn der 1990er Jahre überstanden war, zu einem besonders erfolgreichen Pflaster für Harro Remmerts Pferde, und so kann ich mich an viele schöne Treffer erinnern, die ich meistens von ganz vorne an den Rails neben dem Richterturm unmittelbar gegenüber des Zielspiegels miterlebte. Allen voran sind da natürlich die drei Siege im Preis der Diana mit Centaine, Que Belle und Puntilla, aber auch Listentreffer mit Theophanu, Massada und Tsarina oder Handicap-Erfolge mit Laval, Lambada oder Mink zu nennen. Besonders das spektakulär erfolgreiche Jahr 1995, in dem Harro Remmert später ja nicht nur den Preis der Diana mit Centaine, sondern auch das Derby mit All My Dreams gewann, ist mir in lebhafter Erinnerung geblieben, begann es doch schon sehr erfolgreich, als der Erlenhofer Ladoni in Mülheim im Orakel der Dreijährigen siegte. Bemerkenswert ist übrigens nebenbei, dass jener Ladoni es auch war, der wenige Wochen später in Krefeld, an dem Tag, als die renovierte Rennbahn dort neu eröffnet wurde, das Dr. Busch-Memorial gewinnen konnte – also genau das Rennen, in dem Harro Remmert neunzehn Jahre zuvor so schwer verunglückt war. Auch hier war ich dabei und habe fleißig geklatscht.

Im folgenden Jahr war es dann die Ravensberger Stute Wurftaube, die mein Herz in ganz besonderer Weise eroberte, auch wenn sie nie am Raffelberg an den Start kam und ich sie nur manchmal live laufen sehen konnte. Dennoch habe ich ihre Karriere unter der Obhut von Harro Remmert besonders aufmerksam verfolgt – nicht umsonst gibt es hier ja auch bereits eine separate Geschichte über mein besonderes Lieblingspferd Wurftaube. 

Wiesenpfad im Führring der Düsseldorfer Rennbahn
Herbst 2008


Ihr Enkel Wiesenpfad war es passenderweise dann auch, der mich nach einigen Jahren Rennbahnabstinenz, die sich vor allem durch zwei längere Auslandsaufenthalte ergeben hatte, wieder zurück zu diesem Sport lockte und die von kleinauf gewachsene, nur verschüttete Faszination neu aufflammen ließ. Die aktive Trainerlaufbahn von Harro Remmert war da bereits seit einigen Jahren beendet, und manchmal bedauere ich es, dass ich nicht nur in dieser Hinsicht auf der Rennbahn nach der Jahrtausendwende einige Dinge versäumt habe.

Einmal war ich aber auch in jener Zeit noch eher zufällig am Raffelberg dabei – am 9.Juni 2002, und damit genau an dem Tag, an dem Harro Remmert (sinnigerweise ausgerechnet im Sven von Mitzlaff-Rennen!) mit der Stute Templerin sein lang ersehnter 1000. Sieg als Trainer gelang. Als Jockey war es ihm nicht möglich gewesen, diese magische vierstellige Zahl zu erreichen, denn seine Reiterlaufbahn endete heute vor genau 35 Jahren durch den schweren Unfall in Krefeld abrupt, nachdem er im Sommer zuvor seinen 500. Sieg hatte feiern können. Seine viel bemerkenswertere Leistung dürfte es aber wohl sein, dass er ganz offensichtlich einen Weg gefunden hat, sich von den Folgen dieses Sturzes nicht dauerhaft aus der Bahn werfen zu lassen, sondern ein erfülltes und – so wirkt es zumindest – zufriedenes Leben mit vielen Glücksmomenten zu führen.

Harro Remmert im Mülheimer Führring Anfang Mai 2010
beim Beobachten des Maidenstarts des vom Gestüt Zoppenbroich gezogenen Lindentree


Bis heute ist er auf den Rennbahnen im Westen Deutschlands, aber auch in Hamburg und Baden-Baden, häufiger Besucher und sehr aufmerksamer Beobachter, besonders der Pferde eines Trainers namens Waldemar Hickst, der Mitte der 1990er Jahre als einfacher Arbeitsreiter im Kölner Olymp-Stall angefangen hatte und dort bald zu einem wichtigen, auch menschlich sehr geschätzten Mitarbeiter von Harro Remmert geworden war. Dass es ausgerechnet dieser Waldemar Hickst war, der als Jockey Templerin zum 1000. Sieg für seinen Trainer ritt, dass er mit leichter Zeitverzögerung gewissermaßen Harro Remmerts Nachfolge als einer der führenden deutschen Trainer angetreten hat, dass er es auch war, der den kleinen Hengst Wiesenpfad für eine Besitzergemeinschaft um Harro Remmert vorbereitete und zu vielen Gruppesiegen führte… nun, es gibt im Leben manchmal einfach Geschichten, die einen derart märchenhaften Charakter haben, dass man sie nicht besser erfinden könnte, wenn sie nicht sowieso schon Realität wären. In diesem Fall ist es ganz sicher so.

Dass Harro Remmerts persönliche Lebensgeschichte einmal eine solche Entwicklung erfahren würde, konnten wohl weder die erschreckten und besorgten Augenzeugen in Krefeld noch die unmittelbar Betroffenen heute vor fünfunddreißig Jahren ahnen, als sich die Befürchtungen nach seinem Sturz mitten hinein in schockierte Ohnmacht langsam bewahrheiteten – geschweige denn hoffen. Dass ihm dies nach dem 25. April 1976 überhaupt gelang, hat ganz sicher auch viel mit einer enormen inneren Kraft zu tun, die er in sich selbst gefunden haben muss.

Allen Menschen, deren Alltagsleben und Zukunftsplanungen durch ein ähnliches folgenschweres Ereignis derart abrupt in Frage gestellt werden, kann man eigentlich nur möglichst viel von jener inneren Kraft, Unterstützung durch liebe Menschen und ähnlich viel Zutrauen in die eigenen verbliebenen Fähigkeiten wünschen. Harro Remmert selbst aber wünsche ich noch möglichst viele Jahre Gesundheit, Lebenskraft und Freude an der aufmerksamen Beobachtung von Rennpferden, die sein gesamtes Leben vor und nach seinem Unfall so geprägt haben.

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