Einer der Kandidaten, dem ich jeden nur möglichen Erfolg auch in Zukunft sehr gönnen würde, passt zumindest namenstechnisch klassisch-katholisch sehr gut zu meiner Hauptperson des Tages. Auch die Tatsache, dass – wie bei mir für den Sommer geplant – ein Umzug von hier nach dort vor einem Vierteljahrhundert eine gewichtige Rolle spielte, ist ein obskurer Zufall, der aber wohl keinen Einfluss auf das Ergebnis des Kölner Klassikers 2011 genommen hat.
Nachdem die sehr schöne Tauffeier nun auch schon wieder Geschichte ist, gibt es jetzt einen neuen „Es war einmal…“-Beitrag, dessen eine Hälfte – über den Ausgang anno 1985 – ich bereits im vergangenen Jahr geschrieben hatte. Sie wurde nun um einige Abschnitte zum Jahr 1986 ergänzt, denn beide Pferde, die dieses große Rennen vor jeweils einem Vierteljahrhundert gewinnen konnten, haben auf der Rennbahn Großes vollbracht, waren im weiteren Verlauf ihres Lebens aber nicht unbedingt immer mit dem Glück im Bunde. Beiden – und das ist in der Tat eine traurige Parallele – war leider kein langer Lebensabend irgendwo auf einer sonnigen Koppel vergönnt, wie sie ihn zweifellos verdient gehabt hätten. Los geht es also mit Erinnerungen an das Jahr 1985…
Es war einmal vor 25 Jahren
Das Mehl-Mülhens-Rennen ist als erster deutscher Klassiker und auch als Grundstein der in den vergangenen Jahren doch ein wenig außer Mode gekommenen Dreierkombination der Triple Crown auch das erste richtige Highlight jeder Galoppsaison. Vielen Rennbahngängern mag es dabei inzwischen so vorkommen, als sei das Rennen mit der nicht ganz unkomplizierten Schreibweise schon immer in Weidenpesch beheimatet gewesen, aber dem ist nicht so. Eine Siegerliste mit solch illustren Namen wie Philipo, Turfkönig, Kondor, Kornado, Lavirco, Martillo, Tiger Hill, Platini und Precious Boy weckt zwar wunderbare Rennbahnerinnerungen, die sicher mit dazu beigetragen haben, diese klassische Konkurrenz für dreijährige Pferde (in der Regel Hengste) zu einem der absoluten Höhepunkt der Kölner Turfsaison zu machen. Doch die 2000 Guineas, so der andere Name des Rennens, haben noch eine wesentlich längere und bewegtere Geschichte, die bis ins Wilhelminische Kaiserreich zurückweist.
Noch ein Mehl-Mülhens-Sieger der jüngeren Vergangenheit - leider auch nicht vom Glück verfolgt: Precious Boy |
Im Jahr der Reichsgründung 1871 wurde das Rennen durch die schlesischen Grafen Henckel zu Donnersmarck aus der Taufe gehoben und bis 1944 durchweg in Berlin – entweder auf den Bahnen in Grunewald oder Hoppegarten – ausgetragen. Erst nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurde die Suche nach einer neuen Heimat notwendig. Über zunächst jährlich wechselnde Stationen in Düsseldorf, Köln und Dortmund landete das Henckel-Rennen schließlich 1950 in Gelsenkirchen, wo es in den Folgejahren neben dem Aral-Pokal rasch zum absoluten Saison-Glanzstück am Horster Schloss avancierte. Gerade in seiner Rolle als Derby-Vorprüfung war das über 1600 Meter führende Rennen in der Nachkriegszeit bis weit in die 80er Jahre hinein unschlagbar. Neckar, Allasch, Kilometer, Orsini, Waidmann, Herero, Mercurius, Presto, Literat, Lombard, Caracol, Königsstuhl, Orofino... es waren fast durchweg große Steher, unter ihnen viele spätere Derbysieger, die sich im Henckel-Rennen zu Saisonbeginn die Ehre gaben.
Die Vorbereitungsrouten auf dem Weg zum Blauen Band haben sich inzwischen jedoch merklich verschoben und erweitert, auch wenn dies wohl nichts mit dem Weggang des Traditionsrennens auf Gelsenkirchen zu tun hat. Heute sind es aber oft eher die Meilencracks und Mitteldistanz-Hoffnungen, die wie in den vergangenen Jahren mit Precious Boy und Irian gezielt im Mehl-Mülhens-Rennen, dem Nachfolger des einstigen Henckel-Rennens, genannt werden. Potentielle Steher bevorzugen inzwischen oft andere Stationen, gerne so genannte „Derby-Trials“ in Bremen, Hannover oder Iffezheim, so dass das 2011er-Startfeld, das immerhin an Gereon, Point Blank und Quinindo noch mit drei Derby-Aspiranten aufwarten kann, durchaus untypisch für die jüngere Vergangenheit ist. Selbst wenn sie überzeugend laufen sollten, kann das Mehl-Mülhens-Rennen aber keinesfalls schon als Gradmesser für eventuelles Stehvermögen herangezogen werden, denn 600 zusätzliche Meter sind schon eine ordentliche Distanz, die oft auch eine völlig andere Renntaktik erforderlich machen.
Doch schon in der Vergangenheit, als das Rennen noch seinen ursprünglichen Namen trug und in Gelsenkirchen-Horst entschieden wurde, war die Steherprognose nicht immer gegeben. Selbst wenn die Namen späterer Derbyhelden die Siegerliste des Henckel-Rennens in reichlicher Fülle zieren, blühten auch hier früher bei manch einem Besitzer, Trainer und Jockey weiter große Träume, die später bitter enttäuscht wurden, wenn sich in der Union oder im alternativ im Bayeff-Rennen, spätestens dann aber am Derbysonntag in Hamburg-Horn herausstellte, dass die dort verlangten 2400 Meter doch des Guten zu viel waren. Erinnert sei hier nur an Kronenkranich, der das Henckel-Rennen 1975 noch gewann, sich aber später gewiss nicht als Steher profilierte. Und auch bei der letzten Austragung der 2000 Guineas in Gelsenkirchen war es um den Sieger des Henckel-Rennens ähnlich bestellt.
Wir gehen also zurück ins Jahr 1985 – es war ein großes deutsches Sportjahr. Ein gewisser Acatenango lief sich in jenem Jahr, in dem Boris Becker auf einem grundsätzlich anderen grünen Rasen triumphierte, nämlich mehr und mehr in die Herzen der deutschen Rennbahnfans. Im Henckel-Rennen war er allerdings noch nicht vertreten, denn dieses Rennen gehörte ganz und gar seinem Stallgefährten, dem damals noch viel höher eingeschätzten Lirung aus dem Gestüt Fährhof. Lirung war ein alles andere als zierlicher Fuchshengst mit einer sehr markanten, breiten Blesse, und am 19. Mai 1985 zauberte er eine Galavorstellung auf das Geläuf der Gelsenkirchener Rennbahn, die den Anwesenden nachhaltig in Erinnerung bleib. Weiterhin war er, der als zweijähriger neben dem Versuchsrennen der Hengste und dem Ratibor-Rennen auch den Preis des Winterfavoriten hatte gewinnen können, ungeschlagen, was auch über 2200 Meter im Bremer Bayeff-Rennen so blieb. Erst in Hamburg wurde Lirung, der seinen Namen mit einem nepalesischen Berggipfel teilt, dann im wahrsten Sinne des Wortes entzaubert – ausgerechnet von seinem Stallgefährten Acatenango, denn der war im Gegensatz zu Lirung, den am Ende die Kraft verließ, eben doch ein richtiger Steher.
Namensgeber für ein begnadetes Rennpferd? Langtang Lirung in Nepal |
Heinz Jentzsch über Lirung und Acatenango
Mit Lirungs Sieg endete allerdings die stolze Ära des Henckel-Rennens, denn es war 1985 das letzte Mal unter diesem Titel und in seiner Nachkriegsheimat ausgetragen worden. Die Tradition der 2000 Guineas sollte aber an anderer Stelle glücklicherweise nahtlos weiterleben, denn das Mehl-Mülhens-Rennen, so benannt zu Ehren der Röttgener Gestütsbesitzerin Maria Mehl-Mülhens, die fast genau einen Monat vor Lirungs Sieg im April 1985 nach schwerer Krankheit verstorben war, erlebte exakt ein Jahr später, am 19. Mai 1986, in Köln seine Premiere, als mit Philipo wieder ein späterer Derby-Sieger als Erster die Ziellinie passierte.
Dieser Philipo gewann in seiner leider nur kurzen Rennbahnkarriere insgesamt zwar „nur“ drei Rennen, ist aber dennoch vielen Rennbahnfreunden im Gedächtnis geblieben, weil seine Lebensgeschichte so erstaunlich verlief und letztlich ebenso wie jene des 1987 nach einem Italienaufenthalt an einer Infektion erkrankten und nach vier Wochen Kampf letztlich nicht mehr zu rettenden Lirung viel zu früh und viel zu traurig endete. Philipo – durchaus passend benannt, bedeutet der Name doch nichts Geringeres als „Pferdefreund“ – verkörperte nämlich im besten Sinne das Modell des Underdogs, dem zunächst kaum ein Beobachter die großartigen Leistungen zutraut, zu denen er in der Lage ist. Zwar sollte seine Mutter Prärie, die zwei ihrer acht Rennen gewinnen konnte, an ihrem Erstling, Philipos um ein Jahr älterer Halbschwester Pikante, immerhin die Mutter eines weiteren Derbysiegers namens Pik König fohlen, aber dies konnte Mitte Februar 1983, als der braune Hengst von Prince Ippi das Licht der Welt erblickte, ja noch niemand ahnen, denn noch war Pikante, die später über Hindernisse und ansonsten eher im Ausgleich III als auf höchstem Parkett unterwegs war, ja selbst erst ein Jährling.
Akute Derbyhoffnungen dürfte man also mit dem kleinen Philipo kaum verbunden haben, und so erzielte er auf der Jährlingsauktion in Baden-Baden gerade einmal einen Preis von 9000 D-Mark, als er in den Besitz von Volker Rüdiger Henneberg wechselte, unter dessen Stall-Decknamen „Stall Surinam“ er auch bei seinen großen Dreijährigen-Erfolgen lief. So wie die an Philipo beteiligten kleinen Besitzer, denen das große Glück zuteilwurde, ein so großartiges Pferd entdeckt zu haben, trug auch das Röttgener Urgestein Hartmut Steguweit in seiner bis dahin noch nicht eben spektakulären Trainerkarriere als Sympathieträger zu Philipos märchenhaft anmutender Geschichte bei.
Als Zweijährigen-Sieger im Preis der Jährlingsauktion, vor allem aber als Drittplatzierter in Oldtimers Preis des Winterfavoriten konnte Philipo seine neuen Besitzer und seinen Betreuer bereits sehr erfreuen, aber mit der Traumgeschichte, die 1986 noch folgen sollte, konnten sie wohl kaum rechnen, zumal der Hengst bei seinem ersten Auftritt im Dr. Busch-Memorial, als er lediglich als Achter und Vorletzter ins Ziel kam, einstweilen kaum überzeugen konnte.
So konnte eigentlich am 19. Mai 1986 kaum ein Rennbahnbesucher damit rechnen, dass ausgerechnet der kleine Philipo so auftrumpfen würde. Das tat er aber, und dabei ließ der nunmehr frischgebackene klassische Sieger fast ausnahmslos namhafter Konkurrenz aus den Gestüten Bona, Zoppenbroich, Ittlingen, Fährhof und Schlenderhan souverän hinter sich, die ihn zuvor teilweise bereits geschlagen hatte. Ein tolles Bild ist es, wie Philipo mit windschnittig angelegten Öhrchen ganz fokussiert mit Blick voran dem Ziel entgegenfliegt und sich anschließend schon mit der rot-weiß-goldenen Siegerschleife geschmückt von seinem vor Begeisterung strahlenden Jockey Dave Richardson tätscheln lässt.
Schlagartig sprach man auf der Rennbahn eben nicht nur von Oldtimer, Orfano oder Babylonier, sondern nun auch von Philipo, wenn das Thema „Derby 1986“ diskutiert wurde. Eine solche Unterhaltung habe ich selbst wenig später mitbekommen – schweigend und staunend, als die vielen Namen zwischen meinem Onkel und einigen seiner Zockerfreunde hin und her flogen, während ich versuchte, mir am Mülheimer Führring für den Preis der Diana eine Stute auszusuchen. Ich entschied mich damals (leider falsch, denn es gewann das Stuten-Derby die Fährhoferin Comprida) für Alveradis aus dem Gestüt Zoppenbroich. Und der Grund war einer, der wohl nur für ein knapp zwölfjähriges Mädchen überzeugend klingt, denn ich fand, dass die Kombination aus Philipo und Alveradis märchenhaft schön klang – irgendwie wie ein mittelalterliches Prinz- und Prinzessinnenpärchen. Damit lag ich eindeutig nicht auf der Derbylinie meines Onkels, der dezidiert Orfano wollte, weil der nun eben einmal ein von Sven von Mitzlaff trainierter Zoppenbroicher war, aber zumindest hatte ich, als aus dem Früh- ein Hochsommer wurde und das Derby immer näher rückte, den Namen Philipo irgendwo in meinem Hinterkopf.
Plötzlich hatten die Zocker einen neuen Namen zu diskutieren... |
Der Hengst des Stalles Surinam hatte inzwischen durch seinen dritten Platz im Union-Rennen nachgewissen, dass er auch über Steherqualitäten verfügte und unterschied sich damit schon einmal deutlich von seinem Vorgänger als Sieger im Henckel- bzw. Mehl-Mülhens-Rennen Lirung, der zeitgleich in den deutschen und vor allem europäischen Mitteldistanzrennen bis hin zum Gruppe-I-Niveau ganz groß auftrumpfte. Gewonnen hatte das Union-Rennen allerdings meines Onkels Liebling Orfano, seines Zeichens Bruder von gleich zwei Derbysiegern namens Orofino und Ordos, und nunmehr auch erklärter Derbyfavorit.
Lirung, letzter Sieger im Henckel-Rennen, triumphiert im Prix Jacques le Marois 1986
Der Tag des großen Rennens ist mir auch fünfundzwanzig Jahre später noch in lebhafter Erinnerung, weil ich ihn nicht zu Hause, sondern auf dem Dorf bei meinen schwäbischen Verwandten verbrachte, wo das große, allen Klischees gerecht werdende Musikfest tobte, und ein rothaariges Bobbele auf dem Weg zu seinem zweiten Wimbledon-Sieg die verfügbare Fernsehzeit vor dem einzigen Fernseher im Haus monopolisierte. Ärgerlich sah ich dem Ploppen der weißen Bälle zu und wünschte mir doch nur endlich einen Bericht über die flotten Vierbeiner in Hamburg-Horn. Als die Tennis-Sensation dann endlich, endlich geschafft war und die meisten Verwandten schon zum Festzelt unterwegs, blieb nur mein Cousin mit mir auf dem Sofa zurück, der damals im Grundschulalter noch ernsthafte Träume von einer Jockeykarriere hegte. Und zusammen haben wir auch gesehen, wie in Hamburg nicht Orfano gewann, sondern ein mit viereinhalb Längen vor der Konkurrenz überlegener Philipo. Mich hat’s sehr gefreut, auch wenn er dem Zoppenbroicher so klar die Hufe gezeigt hatte.
Philipos Triumph im Deutschen Derby 1986 weckte aber auch noch ganz andere Interessen, die schließlich für seine Besitzer die Märchengeschichte richtig rund machten, denn nachdem sie mit dem Hengst den größten nur denkbaren Erfolg, den ein Pferdebesitzer in Deutschland überhaupt schaffen kann, errungen hatten, bekamen sie dieses ganz spezielle Angebot, dem sie nicht widerstehen konnten, denn es meldete sich ein reicher Interessent, der Philipo gerne kaufen wollte und bereit war, zu diesem Zweck tief in die Tasche zu greifen.
Helmut von Finck war es, inzwischen mit seinem Gestüt Park Wiedingen als hocherfolgreicher Züchter einer kleinen Legion toller Rennpferde bekannt, damals aber noch ein recht junger Enthusiast in Sachen Vollblut und Galopprennsport, der – sicher aus einer Mischung verschiedener Motive – den frisch gebackenen Derbysieger in seinen Farben laufen sehen wollte. Und so kam das Geschäft zustande und Philipo trug bei seinem nächsten Start, der leider auch schon sein letzter sein sollte, neue Farben.
Philipos neuer, wenig vom Glück verfolgter Besitzer |
Der Trainer war der alte geblieben, Hartmut Steguweit, aber die verständlicherweise großen Erwartungen erlitten einen argen Dämpfer, als Philipo im Bayerischen Zuchtrennen gar nicht überzeugen konnte und am 3. August 1986 nur als Fünfter die Ziellinie überquerte. Groß wird die Enttäuschung gewesen sein, aber es sollte im folgenden Jahr noch viel schlimmer kommen für den Hengst, dessen Karriere doch seit seinem Sieg im Mehl-Mülhens-Rennen solch einen märchenhaften Höhenflug erlebt hatte, denn es folgten Verletzungssorgen und im folgenden Frühjahr, als Philipo auf sein standesgemäßes Saisondebüt im Gerling-Preis vorbereitet wurde, die große Katastrophe.
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