Montag, 16. Mai 2011

Vor fünfzehn Jahren: Damals in Dresden...

Es war einmal vor 15 Jahren…

Vor ziemlich genau fünfzehn Jahren fand auf der Rennbahn in Köln-Weidenpesch genau das statt, was die Galoppsportfreunde in diesem Jahr bereits am vergangenen Sonntag erfreute, denn am 12. Mai 1996 wurde damals der Gerling-Preis in seiner 61. Auflage entschieden. Anders als damals war in der aktuellen Version dieses traditionellen Kölner Rennens zwar kein Derbysieger am Start, aber immerhin gab es mit dem Ersten Scalo und der Viertplatzierten Night Magic gleich zwei Galopper des Jahres zu bewundern. Und auch sonst gibt es Verbindungslinien zwischen den beiden mit fünfzehn Jahren Abstand voneinander ausgetragenen Rennen, sind doch die beiden Sieger – Scalo und Laroche – in den gleichen Rennfarben unterwegs und auch recht eng miteinander verwandt. Scalos Vater Lando ist nämlich der ältere Halbbruder des Erstplatzierten von 1996 Laroche.

Scalo: Wie "Onkel" Laroche Sieger im Gerling-Preis in Köln
Verwirrend genug?

Laroche jedenfalls ließ sich an jenem 12. Mai 1996 nicht verwirren, sondern schaffte gegen wahrlich nicht schlechte Konkurrenz einen leichten 1¼-Längen-Sieg. Bedenkt man, dass er an Aratikos, Oxalagu und Protektor mehrere gestandene Gruppe-I- und Gruppe-II-Gegner hinter sich ließ, kann man sich gut vorstellen, dass seine Besitzer aus diesem Treffer große Hoffnungen hinsichtlich einer positiven Saison für den inzwischen fünfjährigen Derbysieger des Jahres 1994 schöpften – zumal seine Vierjährigen-Kampagne 1995 vielleicht nicht unbedingt so erfolgreich verlaufen war wie erwünscht. Laroche präsentierte sich nun aber wieder in hervorragender Form und schien 1996 noch einmal nachlegen zu können.

Doch daraus wurde nichts, denn der Sieg im Gerling-Preis in Köln sollte nicht nur sein letzter Treffer, sondern auch sein letzter aktiver Auftritt auf der Rennbahn überhaupt werden. Einige Zeit später wechselte Laroche mit einem GAG von immerhin 98,5 in die Zucht, stand ab 1998 im Gestüt Auenquelle, wo 1999 sein erster Jahrgang geboren wurde. Glad Hunter, Orange Blue, Sword Roche, Larofino, Russian Samba – das sind die Namen einiger seiner Nachkommen, die zwar durchaus nicht unerfolgreich waren, aber doch insgesamt nicht das auf dem grünen Rasen einlösen konnten, was man sich offenkundig von einem Derbysieger als Deckhengst versprochen hatte.

Ganz aktuell findet Laroche sich über seine Tochter Russian Samba auch im Pedigree des Vierjährigen Russian Tango, dessen leichter Erfolg im Hoppegartener Preis von Dahlwitz Lust auf mehr machte. Das letzte Wort über die Zuchtleistung von Laroche muss also noch nicht gesprochen worden sein, aber dennoch stand er nicht nur in dieser Beziehung immer im Schatten seines älteren Bruders Lando. Anno 2003 musste er umziehen und deckte weiter im tschechischen Gestüt Mimon, in das es neuerdings auch den ehemaligen Derbyfavoriten Suestado verschlagen hat. Bei vielen deutschen Turffreunden mag Laroche so schon fast wieder vergessen gewesen sein, als vor einem knappen Jahr, im März 2010, die Nachricht die Runde machte, dass der Sieger im Blauen Band 1994 wegen eines nicht zu operierenden Gehirntumors eingeschläfert worden war.

Irgendwie war er nicht unbedingt oft mit dem Glück im Bunde, der „arme kleine Bruder“ des großen Lando, der nicht nur durch seine eigene fulminante Rennleistung, sondern auch als Deckhengst durch seine aktuellen Spitzen-Nachkommen in aller Munde ist. Nein – da konnte Laroche wirklich nicht ganz mithalten, genau so wenig wie am 23. Juli 1995, als die beiden Ittlinger Derbysieger unter exakt gleichen Gewichtsvorgaben im Düsseldorfer Deutschland-Preis aufeinandertrafen und Lando Laroche klar mit 2,5 Längen hinter sich ließ. Aber immerhin: An einem Tag zumindest war der kleine Bruder unter den Pferden seines Jahrgangs der Größte gewesen, und wie es das Rennbahnglück so wollte, war dies ausgerechnet der Tag im Leben eines Vollblüters gewesen, der besonders viel zählt. Im ständigen unweigerlichen Vergleich mit seinem Bruder Lando hatte er sich also zumindest einmal, am 3. Juli 1994 in Hamburg, als ebenbürtig erwiesen und dem Gestüt Ittlingen nach dem Sieg 1993 gleich im Folgejahr den zweiten Derbytreffer geschenkt.

Ich selbst habe Laroche nicht ein einziges Mal live auf der Rennbahn erlebt, und ich kann mit gutem Gewissen behaupten, das ich auch erst exakt einen Tag vor seinem Derbyauftritt auf den Hengst aufmerksam geworden bin. Lando, ja, den kannte ich natürlich, war ich doch bei seinem Derbysieg 1993 dank des besten Abitur-Geschenks aller Zeiten live in Hamburg dabei gewesen, als er sich fast wie Phoenix aus der Asche nicht nur rehabilitierte, sondern nach einigen schwächeren Leistungen zu Beginn der Saison auch den erneuten Grundstein zu einer spektakulären Rennkariere legte, die schließlich am 26. November 1995 ihren Höhepunkt in einem Sieg im Japan Cup fand.

Laroche hingegen… nein, diesen Namen hatte ich vorher trotz seiner illustren Verwandtschaft nicht auf dem Radarschirm gehabt. Wie es dazu kam, dass sich dies schlagartig änderte – nun, das ist allerdings eine besondere Geschichte, an die ich mich auch heute noch gerne erinnere.

Dass ich Laroche nicht am Start gesehen hatte, lag einerseits daran, dass der Ittlinger Hengst zwei- und dreijährig sein gesamtes bisheriges Rennprogramm anderswo als auf meinen vertrauten Ruhrgebietsbahnen absolviert hatte. Zweijährig lief er zweimal – aber ohne einen Sieg landen zu können – in Köln, was für mich ja durchaus erreichbar gewesen wäre. Allerdings hatte es mich nach dem Abitur nach Heidelberg gezogen, wo ich zwei Semester (frei nach dem Motto: Jeder darf sich mal irren!) benötigte, um festzustellen, dass die Stadt am Neckar zwar wunderschön und lebenswert ist, das Studienfach Dolmetschen & Übersetzen und ich aber nicht unbedingt optimal kompatibel.

Noch einen Nachteil hatte Heidelberg, denn es lag aus Rennbahnperspektive von Mannheim und Hassloch abgesehen, wohin ich mich aber nie verirrt habe, weit entfernt von studentischen Reisemöglichkeiten zu interessanten Galopperzielen. Zu einem einzelnen Tagesbesuch (heldenhaft zusammengestückelt mit dem Wochenendticket und diversen Umsteigemanövern von einem Regionalzug in den nächsten) in Iffezheim hatte es immerhin beim Frühjahrsmeeting 1994 gereicht, aber ansonsten gestalteten sich der Herbst 1993 sowie die erste Jahreshälfte 1994 für mich rennbahntechnisch sehr flau. War ich auf Heimatbesuch im Ruhrgebiet, langte es nur ganz selten für einen Samstag auf der Rennbahn, denn sonntags, wenn die wirklich interessanten Ereignisse stattfanden, saß ich ja bereits wieder im Zug zurück nach Heidelberg.

Ich hatte in jener Saison also für meine Verhältnisse ausgesprochen wenig Rennbahnluft geschnuppert und mich, da es ja die heutigen komfortablen Internetmöglichkeiten noch nicht gab, mehr schlecht als recht per Sport-Welt, die es immerhin am Heidelberger Hauptbahnhof zu kaufen gab, auf dem Laufenden gehalten. So kam es, dass ich mich in jenem Jahr intensiver meinem anderen Hobby aus Schulzeiten gewidmet und sehr viel ehrenamtliche Arbeit bei der Malteser Jugend gemacht habe. Eine eigene Jugendgruppe war recht rasch aufgebaut, und so standen an den Wochenenden, an denen ich nicht nach Hause ins Ruhrgebiet fuhr, bald zahlreiche völlig rennbahnfremde Unternehmungen auf dem Programm, die aber auch sehr großen Spaß machten.

Das Highlight in dieser Beziehung war die Teilnahme am Katholikentag des Jahres 1994, der unter dem Motto „Unterwegs zur Einheit“ weit entfernt in Dresden stattfand. Die ganze Jugendgruppe hatte sich eifrig vorbereitet und brach Ende Juni 1994 gemeinsam mit anderen Maltesern aus dem Badischen gespannt nach Dresden auf, wo wir ein Zeltcafé betreuen und diverse Mitmachaktionen anbieten wollten. Dass sich der Katholikentag ausgerechnet mit dem Derbywochenende 1994 überschnitt, war mir zwar bewusst, und sicher habe ich auch immer wieder an das Vorjahr gedacht, als ich selbst in Horn dabei sein konnte, aber insgesamt war ich viel zu erfasst von den Vorbereitungen und der guten Stimmung als dass mich die Aussicht, wohl auch die TV-Übertragung aus Hamburg nicht mitzubekommen, groß hätte betrüben können.

Ort des Geschehens - Dresden
Vier Jahre nach der Wiedervereinigung war der Aufenthalt in Dresden mit einer Horde katholischer Jugendlicher irgendwo auf der Grenzlinie zwischen Pfadfinderzeltlager und Pilgerfahrt nicht nur ein großes Abenteuer, sondern auch eine Zeit der unerwarteten Begegnungen und Konfrontationen (überwiegend positiver Natur) mit einer doch für uns Westkinder recht fremden Umwelt. Natürlich hatten wir in Zeitungen viel gelesen, hatten auch im Fernsehen etwas gesehen von „drüben“, aber noch war die DDR mit ihren Spuren und Erinnerungen in Dresden überall gegenwärtig. So richtig wiedervereinigt waren die Deutschen, die sich da (manchmal auch eher zwangsweise) begegneten, meiner Wahrnehmung nach noch lange nicht.

Großartig haben sich die Dresdner Malteser um uns gekümmert, und auch zu einer brandneuen Jugendgruppe aus Meißen, mit denen wir Heidelberger uns einen ziemlich staubigen und trostlosen Klassenraum in einer ehemaligen Polytechnischen Oberschule teilten, wo wir alle mitten zwischen klischeehaften Plattenbauten untergebracht worden waren, entstand schnell mehr als nur freundschaftlicher Kontakt. Sogar die Nachbarschaft, die uns (ca. 500 quirlige und mit Begeisterung neues geistliches Liedgut zur Gitarre schmetternde Kinder und Jugendliche mit überwiegender Wessi-Herkunft) bei der Ankunft noch misstrauisch beäugt hatte, wurde am folgenden Abend schon lockerer. Da kamen dann irgendwann auch die örtlichen Jugendlichen mal vorbei, nachdem sie uns zunächst in klaren Reviermarkierungsabsichten demonstriert hatten, wie klasse ein frisierter Wartburg aufjault und sich quietschend in die Kurve vor dem geschlossenen HO legen kann, wenn man ihn nur richtig „fährt“, und setzten sich nach Einladung durch die Meißener mit ans improvisierte Lagerfeuer, wo gerade das Stockbrot schmurgelte. Und irgendwann in dieser arg surrealen, sternenklaren Nacht, in der ein Kassettenrecorder selbst aufgenommene Queen-Lieder (unsere? ihre? Ach, egal!)  spielte, war es dann zwischen den strengen Plattenbauten für eine Weile fast gleichgültig, wer Wessi und wer Ossi war.

Die sommerlich heißen Tage in Dresden waren in jeder Beziehung ein intensives Erlebnis – sei es bei diesen ganz alltäglichen Begegnungen, beim Feiern von Gottesdiensten, beim Sonnen auf den Elbwiesen, beim Bestaunen der alten Architektur ringsum (Platte oder – vorzugweise! – wesentlich älter… auch wenn die heute großartig wiedererrichtete Frauenkirche damals zum Beispiel noch ein ziemlicher Schutthaufen war), bei Diskussionsrunden, tatsächlich über Gott und die Welt, unseren von der Dresdner Bevölkerung übrigens interessiert angenommenen Mitmachaktionen sowie der einen oder anderen Party. Die Unterbringung auf dem harten Klassenraumfußboden war dann irgendwann auch egal, denn Schlaf war sowieso vollkommen überbewertet. Mit gerade einmal zwanzig Jahren ist man da wohl ausdauernder und leidensfähiger.

Irgendwo da war ich mittendrin -
Menschenmassen auf dem Dresdner Katholikentag 1994
Es war also eine großartige, von Euphorie getriebene, nachdenklich machende, intensiv erlebte Zeit, und dass weit entfernt in einer Stadt namens Hamburg die Derby-Woche 1994 auf ihren jährlichen Höhepunkt zusteuerte, hatte ich ehrlich gesagt praktisch vergessen. Oder vielleicht war es mir auch deshalb ziemlich egal, weil parallel so viel anderes Spannendes geschah. 


Dann jedoch, am ersten Julisamstag 1994, hatte ich vor der Abreise am Sonntag nach der gemeinsamen Eucharistiefeier noch einen kleinen Privatausflug ins Hygiene-Museum geplant und musste zu diesem Zweck durch den Bahnhof laufen, der vor lauter Katholikentagsvolk und Einheimischen aus allen Nähten zu platzen schien. Und plötzlich sah ich bei einem Zeitschriftenhändler etwas ausliegen, was ich so in Dresden (wieso eigentlich nicht?) gar nicht erwartet hatte: die Sport-Welt. Und es war nicht irgendeine Sport-Welt, die ja damals noch schlicht schwarz-weiß mit – wenn überhaupt – wenigen Fotos daherkam, sondern die besondere Derby-Ausgabe, die traditionell passend zum Blauen Band nicht nur besonders dick war, sondern auch blau, statt wie sonst grün umrandet war. Die musste ich natürlich kaufen, und zum Glück fand sich in der kurzen Hose, die ich im leckenden Klassenraumwaschbecken von Hand ausgewaschen und über Nacht auf dem Fensterbrett unserer Schulunterkunft getrocknet hatte, auch gerade noch genug Kleingeld.

Mit der Sport-Welt in der Tasche besichtigte ich also das Hygiene-Museum, war sehr angetan von der Ausstellung dort, hatte aber anschließend, als die Sonne schon wieder brennend vom Himmel stach, absolut genug von irgendwelchen weiteren Aktivitäten und beschloss, mich einfach in den Schatten eines Baumes zu werfen und ein wenig in der Sonderausgabe zu blättern.

Tja, und genau dort hat mich dann ein Dresdner namens Gerd entdeckt, so etwa Mitte 50, der mich wohl schon eine Weile beobachtet haben musste, wie ich im Schneidersitz auf dem Boden die Sport-Welt las, und sich dann ein Herz fasse, um mich unbekannte Fremde spontan anzusprechen. Eigentlich hätte ich ja unter den gegebenen Umständen misstrauisch reagieren müssen, aber Gerd hatte irgendwie etwas spontan Sympathisches und Harmloses an sich, und überhaupt war ich ja begeistert von all der Kommunikation mit Menschen, die zum größten Teil eine ganz andere Lebensgeschichte hinter sich hatten als ich.

Über Pferderennen kann man (fast) überall sprechen -
auch vor dem Hygiene-Museum in Dresden
Also haben wir uns unterhalten, und die Tatsache, dass es Gerd verwunderte, dass ein Wessi-Mädchen im alles andere als gebügelten Katholikentags-T-Shirt in seiner Stadt auf einer Wiese sitzend ausgerechnet die ihm gut bekannte Sport-Welt las, war nur der Anlass zu einem Gespräch, das mir intensiv im Gedächtnis geblieben ist, weil es mit Pferderennen – unserem offenkundig gemeinsamen Hobby – anfing, immer wieder zu diesem Thema zurückkehrte, aber doch um so viel mehr ging.

Gerd, der noch gesprächiger wurde, als er von meinem brennenden Interesse an Geschichte und der Tatsache erfuhr, dass ich vorhatte, auf ein Lehramtsstudium zu wechseln, war wirklich ein netter Mensch, aber auch ein zutiefst enttäuschter „Wende-Verlierer“. So bezeichnete er sich zumindest selbst. Er erzählte mir, dass er mit „denen da oben“ nichts zu tun gehabt habe. Er habe halt so ein „bisschen mitgemacht, wenn es nicht anders ging“, aber grundsätzlich habe er nur seine Ruhe haben wollen. Er hatte sich sicher gefühlt in der DDR, und der Mauerfall sowie die atemlosen, radikalen Umwälzungen der Jahre danach hatten ihn überfordert. Sein Arbeitsplatz bei einem privatisierten Kombinat, in dem er sich immer kompetent und geschätzt gefühlt hatte, hatte lange auf der Kippe gestanden, dann war er arbeitslos gewesen, hatte sich mit Mühe eine neue Stelle (eher einen Job) bei einem anderen Arbeitgeber besorgt, tat dort sein Bestes, obwohl ihm die neue Arbeit wenig Freude bereitete, und fühlte sich doch ständig vom Schreckensgespenst neuer – und dann wahrscheinlich permanenter – Arbeitslosigkeit verfolgt. Dieser Gedanke, dem er nicht ausweichen konnte, belastete ihn, machte ihm fast Tag und Nacht Angst. Überhaupt hatte er das Gefühl, dass er nicht mehr recht in die wiedervereinigte Welt passte, dass ihm bei allem Fleiß die Energie und Spritzigkeit fehlten, um mithalten zu können. Er hatte, so meinte er mit einer aufrichtigen Traurigkeit, die mich sehr berührte, seine Heimat verloren, obwohl er doch immer noch in seiner Heimatstadt Dresden zu Hause war.

Ich habe überwiegend zugehört, denn ich merkte rasch, dass mir nicht bloß Lebensalter, sondern vor allem auch Lebenserfahrungen fehlten, um irgendetwas sinnvoll Tröstliches angesichts seiner nachdenklichen Mutlosigkeit sagen zu können, die aber in keiner Weise mir gegenüber vorwurfsvoll war. Im Gegenteil – er betonte mehrfach, wie sehr es ihn freue, all die jungen Menschen zu sehen, die durch den Katholikentag in seine Stadt gekommen waren, weil sie so viel von dieser Lebensfreude und offenen Neugier verströmten, die er selbst für sich und sein Leben gerne gehabt hätte.

Dass ich die Sport-Welt las, fand er kurios, und ich muss gestehen, mir war zuvor gar nicht recht bewusst gewesen, dass es ja in Dresden auch eine Rennbahn mit langer Tradition gab. Gerd war dort ein regelmäßiger Besucher, einer von der Sorte, der als Junge von einer Jockey-Karriere geträumt hatte und häufig mit seinem Großvater in Hoppegarten gewesen war, bis er selbst zu groß und vor allem zu schwer wurde. Aber er ging immer noch hin, fuhr manchmal auch nach Berlin oder auf andere der sogenannten „Ost-Bahnen“, verlässlich wie ein Uhrwerk. Und er kannte darum Leute, Pferde, Anekdoten über den Galopprennsport im Osten und noch weiter zurück aus Hoppegartener Zeiten, die mir völlig neu waren.

An Hein Bollow konnte er sich noch als Reiter erinnern, und schon hatten wir ein Thema, über das wir auch gemeinsam reden konnten, aber auch andere ehemalige Hoppegartener Namen waren mir in der Form wesentlich älterer Menschen vornehmlich aus dem Trainerlager bekannt. Was dazwischenlag – nun, auch davon erzählte er ein wenig, schwärmte von einigen großen Pferden aus der DDR, die ihn begeistert hatten, aber bald seufzte er und meinte, aus meiner Perspektive müsse das ja alles albern wirken. Als ich erstaunt nachfragte, wie er darauf komme, meinte er nur mit einem Schulterzucken, die ganzen Ost-Pferde könnten ja im Westen in keiner Form mithalten. Das müsse man ganz nüchtern zugeben. Ich konnte merken, wie sehr es ihn schmerzte das zu sagen, denn ganz offenbar hing sein Herz an vielen dieser Erinnerungen an seine miterlebten Rennen der vergangenen DDR-Jahrzehnte.

So recht widersprechen konnte ich ihm ehrlicherweise aber auch nicht, denn 1994 war es einfach noch so. Kaum ein Pferd, das im Osten trainiert wurde (und viele waren noch in volkseigenen Gestüten gezogen worden), konnte auf gehobenem Niveau mit der Konkurrenz aus den westdeutschen Bundesländern konkurrieren. Das nahmen manche – nicht alle! – Westtrainer gern zum Anlass, umfangreiche Expeditionen auf die Ostbahnen zu starten und dort richtig „abzusahnen“, denn auch in Sieglosenrennen und Ausgleichen taten sich die meisten westdeutschen Pferde in Dresden, Leipzig, Hoppegarten und Co. mit dem Gewinnen doch oft einen Tick leichter als zu Hause. Heinz Jentzsch, der westdeutsche Dauerchampion bei den Trainern, war hier regelmäßig dabei, und in der Tat hatte er zum Beispiel am 11. Juni 1994, dem vorletzten Dresdner Renntag vor meiner Zufallsbegegnung mit Gerd vor dem Hygiene-Museum, richtig jubeln können. Sage und schreibe fünf (!) der acht ausgeschriebenen Rennen gewann er mit seinen Asterblüte-Pferden. Unter ihnen befand sich übrigens auch Laroche, der den Anlass für das Schreiben dieser Erinnerungen liefert, denn er gewann mit dem ehemaligen Herold-Rennen einen Traditionstitel. Und nachdem auch Elfi Schnakenberg, Theo Grieper und Hans-Albert Blume je ein Rennen in den Westen geholt hatten, blieb für die Ost-Trainer rein gar nichts mehr übrig. Ob sich die West-Trainer mit derlei Aktionen unbedingt beliebt gemacht haben? Ich habe da gewisse Zweifel!

Nicht immer offenbarte sich die Leistungskluft, die fünf Jahre nach dem Mauerfall noch bestand und sich erst in den folgenden Jahren langsam verringerte, als solche Pferde wie Artan oder Magical River dann und wann auch einmal im Westen auf sich aufmerksam machen konnten, derart eklatant. Aber für Gerd schien der vergangene Rennsamstag auf seiner Dresdner Hausbahn wie eine Bestätigung seines traurigen Verlierergefühls zu sein. Fast kam es mir vor als fühle er sich genauso abgehängt wie seine geliebten und vertrauten Rennpferde – irgendwie nichts mehr wert, egal wie sehr sie ihn in der Vergangenheit auch begeistert hatten.

„Naja, die Pferde aus dem Westen gewinnen halt wie sie wollen“, bemerkte er ernüchtert.

Und weil ich eben irgendetwas Relativierendes sagen wollte, verwies ich auf die Titelseite der Sport-Welt-Sonderbeilage, die zwischen uns lag. Dort war ein englisches Pferd namens Overbury abgebildet, dem in jenem Jahr im bevorstehenden Derby eine Schlüsselrolle zuzukommen schien, denn dieses zweifellos sehr gute Rennpferd war für unser Rennen aller Rennen genannt worden und machte – so zumindest der Tenor vieler Artikel, die vorab geschrieben wurden – den deutschen Galoppanhängern mächtig Angst. Sie befürchteten schlicht und einfach, dass Overbury gleich im ersten Anlauf das schaffen würde, was tatsächlich dann erst Buzzword 2010 glückte: das nun auch für ausländische Pferde geöffnete Blaue Band aus Deutschland zu entführen. Zu übermächtig erschien Overbury als dass die deutschen Kandidaten gegen ihn ankommen konnten.

Als ich eine Bemerkung in dieser Richtung machte, nickte Gerd nur und meinte: „Tja, da können die West-Trainer und Besitzer mal sehen, wie wir uns hier ständig fühlen.“

Gleich aber fügte er mit einem entschuldigenden Lächeln noch etwas an: „Vielleicht muss man gerade deswegen mal auf die Außenseiter setzen. Habe ich gemacht.“

Neugierig fragte ich nach, welches Pferd er meinte und schlug nebenbei die Doppelseite mit der Einzelvorstellung der Derbykandidaten auf, die mir in jenem Jahr viel weniger vertraut waren als zu anderen Gelegenheiten, weil ich ja weitab vom Schauplatz des Geschehens gewesen war.

„Den hier habe ich gewettet. Hat mir gefallen, als ich ihn neulich gesehen habe.“


Und er deutete auf ein Pferd in Ittlinger Farben.

Laroche.

„Eine Chance hat er natürlich nicht, denn sonst wäre er wohl kaum als letztes hier bei uns im Osten gelaufen. Aber wer weiß, sein Bruder hat’s ja letztes Jahr auch schon gewonnen. Ist vermutlich verrückt, aber mir war danach Laroche zu spielen.“

Gerd war fest davon überzeugt, sein Geld zum Fenster hinausgeworfen zu haben, einfach aus einer komischen Laune heraus. Eine rechte Meinung zu den Derbypferden hatte ich ja auch nicht, außer dass mir natürlich ein Sieg des Union-Ersten Twen aus „meinem“ Stall sehr sympathisch gewesen wäre. Das hätte ich allerdings leicht abergläubisch wie ich damals schon im Hinblick auf große Rennen war, nie laut gesagt. Laroche war nur einer von insgesamt zwanzig Startern – ein veritabler Außenseiter noch obendrein. Glauben mochte ich daran also auch nicht, und als wir uns kurze Zeit später freundlich voneinander verabschiedeten, hatte ich Gerds verwegenen Tipp schon fast wieder vergessen.

Vielleicht wäre diese für mich sehr angenehme Zufallsbegegnung auch inzwischen schon längst im Nebel der Vergangenheit versunken, wenn… ja, wenn Gerd mit seinem wagemutigen Tipp nicht am Ende doch Recht behalten hätte und zumindest am folgenden Tag, dem Derbysonntag 1994, nicht auf der Verliererseite des Lebens stand. Das Ergebnis des Derbys habe ich erst mit einiger Verspätung erfahren, denn wo heute wahrscheinlich ein internetfähiges Handy zum Einsatz kommen würde, war ich auf der langen Busfahrt zurück von Dresden nach Heidelberg einfach von allen Neuigkeiten abgeschnitten. Das war aber nicht schlimm, denn wir waren nach den ereignisreichen Tagen alle ziemlich müde, aber zufrieden und mit jeder Menge neuen Eindrücken angefüllt, die erst einmal sortiert werden wollten.

So stand ich dann irgendwann deutlich nach Mitternacht, als endlich alle Gruppenkinder von ihren Eltern abgeholt worden waren, im Innenhof der Heidelberger Malteser-Dienststelle und beschloss spontan, kein Taxi zu rufen, sondern vor Ort eine weitere Nacht im Schlafsack im großen Schulungsraum zu verbringen. Der letzte Bus in den Vorort, wo sich meine Studenten-WG befand, war schon längst gefahren, also schien das Sinn zu machen. Zunächst hatte ich aber Hunger, und so borgte ich mir ein altes Fahrrad, das für diesen Zweck im Innenhof stand, und radelte durch die menschenleere Stadt in Richtung Bahnhof, weil ich mir dort am ehesten eine noch offene Futterquelle versprach. Die habe ich auch tatsächlich in Form eines angemessen studentischen Dönerstands gefunden – und direkt daneben einen Buchmacher, in dessen Schaufenster die Ergebnisse des abgelaufenen Renntags ausgelegt waren.

Und dort habe ich dann gesehen, wer das Derby 1994 gewonnen hatte. Nicht Overbury war es gewesen, denn der kam nur als Zweiter ins Ziel. Auch mein Wunschpferd Twen hatte es nicht geschafft, denn der war am Boden gescheitert. Nein, Laroche hatte gewonnen, und das als Außenseiter zu einer wirklich netten Quote von 181:10.

Alle Achtung!

Dönerkauend bin ich damals mit einem breiten Grinsen einhändig durch die dunklen Straßen von Heidelberg geradelt und habe mich, ehe ich in meinen Schlafsack geschlüpft bin, einfach nur für meine freundliche Dresdner Kurzbekanntschaft Gerd gefreut, dem dieser Treffer sicher gut getan haben dürfte.

Ob es ihn wohl noch gibt? Inzwischen müsste er ja auch schon recht alt sein. Ich habe schon lange nicht mehr an ihn gedacht. Erst als ich zum Zweck dieses Erinnerungstextes ein wenig über Laroche recherchierte, fiel mir unser Gespräch damals wieder ein. Unbekannterweise hoffe ich aber zumindest, dass er sich über Laroches großen Sieg und seinen daraus resultierenden Wettgewinn gefreut hat. Schön wäre es außerdem, wenn dieser nette Mensch vielleicht doch nicht dauerhaft auf der gefühlten Verliererseite des Lebens gestanden hat, sondern immer wieder, ob nun beim Pferderennen oder anderswo, Grund zur Freude hatte.

Und wer weiß – vielleicht hat er im folgenden Jahr ja auch im Derby den Sieger des ehemaligen Herold-Preises auf seiner Dresdner Bahn gespielt. Falls ja, hätte er damit den zweiten Derby-Sieger in ebenso vielen Jahren getroffen, denn auch All My Dreams gewann vor seinem Hamburger Triumph zunächst in Dresden.

Das allerdings, die Geschichte von All My Dreams, ist ein Thema für einen anderen Beitrag und Tag… 

1 Kommentar:

  1. Wieder, oder soll ich sagen, wie immer, ein ganz toller Bericht. Ich habe Laroche noch laufen sehen.

    LG Gaby

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