Umzüge bringen es ja so mit sich, dass einem beim Einpacken und Ausmisten manchmal interessante Besitztümer in die Hände fallen, deren Existenz man schon beinahe vergessen hatte. So ging es mir in der vergangenen Woche beim Ausräumen meiner nicht gerade schwach bestückten Bücherregale ebenfalls, als ich einen Stapel alter Rennprogramme aus Hamburg und Baden-Baden fand. Die insgesamt acht Hefte stammen aus dem Jahr 1971, sind also genau vierzig Jahre alt, und gehen auf eine Zufallsentdeckung bei einem bekannten Online-Auktionshaus zurück. Spontan hatte das Angebot vor einer Weile meine Neugier geweckt, so dass ich das Mindestgebot abgab und einfach abwartete. Scheinbar teilte damals niemand mein Interesse an den Programmen, so dass es dabei auch nach sieben Tagen noch blieb - und drei, zwei eins, waren die Hefte meins!
Bei der anschließenden Kontaktaufnahme mit dem Verkäufer stellte sich heraus, dass er nichts mit der Post verschicken musste, weil unsere Arbeitsstätten nur fünf Kilometer voneinander entfernt lagen. Ich fuhr also nach Schulschluss bei ihm vorbei, überreichte grinsend den Euro und kam in den Genuss eines sehr netten Gesprächs mit einem freundlichen Zeitgenossen. Er selbst konnte zwar mit Galopprennsport - und folglich auch mit den alten Programmen - gar nichts anfangen, aber er erzählte mir von seinem kürzlich verstorbenen Großvater, aus dessen Besitz das Heftkonvolut stammte. Der war offenbar ein begeisterter Rennbahngänger gewesen, der früher auch regelmäßig zu den großen Meetings fuhr und die Hefte akribisch sammelte. Überrascht war der Enkel davon, dass sich ein Mensch etwa seines Alters für diese Druckerzeugnisse interessierte, denn er hatte gedacht, Pferderennen seien nur etwas für ältere Männer wie seinen Opa. Da konnte ich ihn allerdings vom Gegenteil überzeugen...
Und weil es gerade so schön in den Kalender passt, weil ich außerdem morgen selbst nach Baden-Baden fahre (*freu*), und weil ich die alten Programmhefte gleichzeitig schön und wegen ihres Alters stellenweise amüsant skurril finde, habe ich mir das Exemplar herausgesucht, das heute vor exakt vierzig Jahren, also am 31. August 1971, in Iffezheim verkauft und benutzt wurde, um eine kleine Reise zurück in die Vergangenheit zu unternehmen.
Es war einmal vor vierzig Jahren...
An jenem letzten Tag des Monats August 1971 war Willy Brandt deutscher Bundeskanzler, während in der DDR Erich Honecker erst vor kurzer Zeit Walter Ulbricht an der Spitze der Macht abgelöst hatte. Mitten im Kalten Krieg bestimmten US-Präsident Richard Nixon und auf Seiten der Sowjetunion Leonid Breschnew die Geschicke der Weltpolitik, während einige Golfstaaten wie Katar und Bahrain gerade dabei waren ihre Unabhängigkeit zu verwirklichen. Was die Bundesbürger bewegte, mag ganz unterschiedlicher Natur gewesen sein - vielleicht war es das aktuell verabschiedete und typische deutsche Substantiv-Monster Bundesausbildungsförderungsgesetz, abgekürzt BAFöG, oder der Bundesligaskandal, der der Deutschen liebsten Sport mächtig in Verruf brachte. Mangos und Kiwis würden die Westdeutschen jedenfalls erst Ende September jenes Jahres kennen lernen, und auch sonst wird das Warenangebot deutlich eingeschränkter gewesen sein als in unserer heutigen globalisierten Konsumgesellschaft.
Was es aber schon damals gab, waren die traditionsreichen Rennen in Baden-Baden - und passend zu diesem Ereignis auch ein Programmheft in einem warmen Orangeton, das zum Preis von 1,- DM erworben werden konnte. Der Großvater meines Auktionspartners hatte ein solches Heft erstanden und es im Verlauf des Renntags, des dritten innerhalb der gesamten Meetingswoche, per Kugelschreiber gewissenhaft mit Notizen und Zusatzinformationen gefüllt. So kann man sich heute, vierzig Jahre später, noch ein genaueres Bild von den Ereignissen jenes Nachmittags auf der Iffezheimer Rennbahn machen, der ganz ohne PMU um 14.00 Uhr begann. Weich war der Boden offenbar, und insgesamt standen neun Rennen auf der Karte, deren Titel auch heute noch gelegentlich als Namensgeber dienen. Der Yburg-Ausgleich und der Preis des Casinos Baden-Baden sind jedenfalls nicht völlig aus der Mode gekommen.
Wo es heute im Hinblick auf Nachwuchsförderung oft mit einem Ponyrennen losgeht, stand damals zu Anfang der Tageskarte ein so genanntes Lehrlingsreiten. Die ganz große Karriere hat keiner der immerhin dreizehn am Start versammelten Nachwuchsmänner später gemacht, auch wenn uns der eine oder andere Name heute noch als (Besitzer-)Trainer vertraut ist. Für einen jungen Mann namens Volker Griebel brachte dieses Rennen im Sattel des von Hein Bollow trainierten vierjährigen Wallachs Beständer eine Sternstunde, gewann er doch eines der beiden überhaupt von ihm in seiner nur zwei Jahre währenden aktiven Zeit siegreich gestalteten Rennen. Knapp war der Ausgang zudem, denn der ursprüngliche Besitzer des Heftes notierte mit seinem Kugelschreiber auch den Richterspruch "kk" und die Zeit des Rennens, nämlich 2:23,8 min für 2200 Meter.
Nur eine halbe Stunde später stand das zweite Rennen an, und hier war Volker Griebel wieder im Einsatz, erneut für Hein Bollow auf der Stute Zeremonie. Diese hatte das Höchstgewicht von 63 Kilo zu schleppen und profitierte so sicherlich von den fünf Kilo Gewichtserlaubnis des jungen Reiters, der sie immerhin auf einen dritten Platz brachte. Heute betreibt Volker Griebel einen Reiterhof aus der Nordsee-Insel Neuwerk. Den Sieg in dieser Konkurrenz machten aber zwei der ganz großen Jockeynamen jener Zeit unter sich aus, nämlich Fritz Drechsler, der Mylene Zweiter wurde, und Peter Remmert, der ebenfalls mit dem enormen Gewicht von 63,5 Kilo das Siegerpferd My King steuerte.
Die Wartezeit zum dritten Rennen konnte das Publikum durch Betrachten einer Handtaschenwerbung überbrücken, ehe im Preis der Jährlingsauktion die Zweijährigen zum Einsatz kamen. Prinzess Didi war ebenso dabei wie Pferde mit so schönen Namen wie Blume, Freddy, Werkmeister oder passend zu Baden-Baden Kurprinz. Und dann gab es da noch Garzer, einen der guten Flieger jener Zeit. An jenem Tag wurde er nur Vierter hinter Missouri, Werkmeister und Prinzess Didi, doch später entwickelte sich Garzer zu einer Art Baden-Baden-Spezialist und erzielte dort Siege und schöne Platzierungen u.a. in der Goldenen Peitsche, im Benazet-Rennen und im Oettingen-Rennen.
Amüsant mutet aus heutiger Sicht die Werbung für modernste Spezial-Fahrzeuge einer bekannten Kölner Pferdespedition an, die noch einmal unterstreicht, wie sehr sich alltägliche Dinge wie Autos in den letzten vierzig Jahren verändert haben.
Als viertes Rennen folgte der Preis des Casino Baden-Baden, in dem durch den Heftbesitzer zwei Nichtstarter brav durchgestrichen wurden: Weder Wichtig, trainiert von Heinz Jentzsch, noch Who's Who aus dem Röttgener Stall von Theo Grieper rückten in die Startboxen ein. Am Ende gewann hier das Leichtgewicht Federgeist, das Peter Remmert - um erstaunliche elfeinhalb Kilo Blei in den Satteltaschen erleichtert - bereits den zweiten Tagessieg bescherte. Wieder war es nur ein knapper Erfolg, denn an der ersten Stelle des Richterspruchs stand die Abkürzung "Kopf".
Inzwischen war mit dem fünften Rennen der Tageskarte die Hälfte der Veranstaltung erreicht, und Peter Remmerts jüngerer Bruder Harro setzte die Siegesserie der Remmerts fort, indem er mit dem Ostermann-Hengst Bärensohn als Erster die Ziellinie passierte.
Nun war es Zeit für den Rennbahnbesucher, einmal seine Gewinne und Verluste zu überschlagen, und genau dies tat der Heftbesitzer in einer für Notizen reservierten Spalte mit dem erfreulichen Resultat, dass er erstaunliche 407,00,- DM Gewinn gemacht hatte. Das darf wohl als erfolgreicher Renntag gewertet werden.
Zwei Abteilungen hatte der Yburg-Ausgleich, eines jener typischen Baden-Baden-Handicaps der Kategorie Ausgleich IV, in dem sich offenbar damals wie heute die Starter drängelten. Beide Felder waren bestens gefüllt, und in der ersten Abteilung war es erneut ein Leichtgewicht namens Tupelo mit Horst Horwart im Sattel, das das Rennen machte, während in der zweiten Abteilung Jaspis mit Helmut Straubinger den Sieg nach München holte.
Da sich der Renntag langsam dem Ende zuneigte, wurde auch die Werbung im Programmheft immer interessanter, und so konnte der geneigte Leser per Flüsterpropaganda erfahren, dass Kapseln namens "Geriatric" nicht nur die Widerstandskraft stärkten und die Leistungsfähigkeit steigerten, sondern den Einnehmenden bis ins hohe Alter immer fest im Sattel hielten. Gut zu wissen...
Im letzten Flachrennen der Tageskarte war das Gestüt Röttgen am Zug, denn hier gewann Königin Winnica den Ausgleich III mit Peter Kienzler im Sattel. Und schließlich folgte noch das heimliche Highlight für viele regelmäßige Iffezheim-Besucher, das tägliche Jagdrennen, das allerdings nicht über den Berg führte. Gewissenhaft vermerkte der Heftkäufer, dass Mondsee reiterlos wurde und sowohl Le Sagittaire als auch Papi's Pet gefallen waren, ehe das Höchstgewicht Hemingway unter dem Amateur Jean-Hugues de Chevigny gewann.
Und damit war Schluss für den dritten Renntag. Drei weitere Renntage warteten in jenem Jahr noch auf die Meetingsbesucher der Großen Woche, die erst am Sonntag, den 5. September 1971 ihren Höhepunkt erreichte, als Cortez unter Ossi Langner für das Gestüt Zoppenbroich den Großen Preis von Baden gewann.
Vielleicht sollte ich ja auch mal die Rennprogramme so sorgfältig mit Notizen füllen und dann aufheben, die ich ab morgen in Iffezheim erstehen werde. Wer weiß, welche Geschichten sie in vierzig Jahren erzählen können...
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