Montag, 9. April 2012

Vor 182 Jahren: Können Pferde schweben?

Es war einmal vor 182 Jahren

Manchmal stolpert man ja ganz durch Zufall über lohnenswerte Dinge, und weil mir dies gestern recht spät nachts bei der Recherche für den letzten Blog-Beitrag so ging, gibt es heute einen zuvor eigentlich nicht geplanten zweiten Text über einen auch nicht gerade besonders runden Jahrestag. Es handelt sich, wie mich mein Freund, die international berühmte Suchmaschine, mit ihrer zu gewissen Anlässen gerne passend künstlerisch gestalteten Hauptseite informierte, um den 182. Geburtstag von Eadweard Muybridge.



Eadweard wer?

Ja, einem deutschen Leser kann durchaus verziehen werden, wenn er diesen einigermaßen exzentrisch anmutenden Namen eines Pioniers der Foto- und Filmgeschichte noch nie gehört hat. Mir selbst ging es auch bis vor einigen Wochen so, doch es war gerade die Verbindung zwischen Muybridges Filmschaffen in den schwarz-weißen Anfangszeiten der Filmkunst zu Beginn des 20. Jahrhunderts und meinem Lieblingshobby, der Geschichte des Galopprennsports, die mich auf ihn aufmerksam werden ließ. Da ging es nämlich um das Galoppieren von Rennpferden und um die Beweisführung, dass ein Pferd in dieser schnellen Gangart alle vier Hufe simultan vom Boden hebe. Können Pferde tatsächlich schweben?

Ich war damals fasziniert von den Bildern, die ich bei der Vorbereitung einer Unterrichtsreihe für meine eigentliche Hauptbeschäftigung, also das Lehrerinsein, entdeckt hatte. Auch in Schwarz-Weiß konnte ich mich der Faszination eines galoppierenden Pferdes nicht entziehen, und so wurde es zum Gegenstand einer Unterrichtsstunde im Jahrgang 9, die sich in englischer Sprache mit den Ursprüngen der Filmgeschichte befasste. Wenn ich schon einmal eine Ausrede habe, um den Rennsport in meine Stunden einfließen lassen zu können, kann ich diese natürlich nicht einfach ungenutzt lassen. Eine gewisse Praxiserfahrung lehrt ja zudem, dass Pferde als Thema, und sei es auch nur sekundär, bei reinen Mädchengruppen in der Pubertät wie jener, die ich da zu unterrichten hatte, komischerweise fast immer „gehen“. So war es auch in diesem Fall, also ist mir der Name Eadweard Muybridge recht positiv im Gedächtnis geblieben.

Wer war dieser heute vor 182 Jahren, am 9. April 1830, im englischen Kingston-upon-Thames geborene Mann aber nun, der optisch mit seiner wallenden weißen Haarpracht eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl Marx vorweisen konnte?

Hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Karl Marx: Eadweard Muybridge

Eadweard Muybridge, oder Edward James Muggeridge, wie sein Geburtsname etwas weniger exotisch eigentlich lautete, war als junger Mann in den 1850er Jahren in die USA ausgewandert, wo er in New York und später San Francisco zunächst als Verleger und Buchhändler arbeitete. Erst als er nach einer schweren Kopfverletzung bei einem Kutschunfall Anfang der 1860er Jahre für eine Weile nach England zurückkehrte, begann er scheinbar, sich intensiver mit der damals noch in den Kinderschuhen steckenden, aber viele Menschen enorm faszinierenden Fotografierkunst zu beschäftigen. Zunächst waren es herkömmliche statische Motive, die er nach seiner Rückkehr in die USA 1866 mit seiner Kamera ins Visier nahm: Landschaften wie etwa im Yosemite National Park, Architekturdetails, aber auch Portraits von Menschen. Diese Arbeiten waren aber nicht der Grund dafür, warum Eadweard Muybridge zumindest im angloamerikanischen Raum zu großer Berühmtheit gelangen sollte, denn sie stellten einfach noch nichts Besonderes dar.

Irgendwann jedoch muss Muybridges Interesse an einem fotografischen Thema erwacht sein, das ein einzelnes mit der Kamera festgehaltenes Bild eigentlich gar nicht spiegeln konnte. Bewegung war es nämlich, die er fotografieren wollte. Und die Gelegenheit dazu ergab sich, als er 1872 vom ehemaligen kalifornischen Gouverneur Leland Stanford, der offenbar neben der Politik auch noch genug Zeit für andere Aktivitäten hatte, engagiert wurde, um eine damals äußerst intensiv diskutierte Streitfrage durch fotografische Dokumentation abschließend zu klären:

Hebt ein galoppierendes Pferd kurzzeitig alle vier Hufe vom Boden ab und begibt sich so in einem Phase des schwebenden Übergangs oder berührt immer stets ein Huf die Erde?

Leland Stanford hatte als Besitzer von Vollblütern persönliches Interesse an dieser Diskussion, und da er nebenbei auch noch einer der reichsten Männer Amerikas war, entschloss er sich, die Entscheidung so herbeizuführen wie es sich für einen Rennstallbesitzer geziemt – durch eine Wette. An dieser Stelle kam Eadweard Muybridge ins Spiel, der eine damals revolutionäre Technologie einsetzte. Eine Staffel aus Kameras wurde zu diesem Zweck in Reihe aufgebaut. Jede Kamera wurde ausgelöst, sobald ein an ihnen vorbei galoppierendes Pferd einen dünnen Faden zerriss. Die so entstandenen Einzelaufnahmen konnten dann in Form von Silhouetten mit einer als Zoopraxiskop bekannten Maschine zusammengefügt und in Bewegung betrachtet werden.




Man kann sich wohl unschwer ausmalen, wie aufwendig die Umsetzung dieses theoretischen Ansatzes in der Praxis gewesen sein mag, und so wundert es auch nicht, dass fünf Jahre vergingen, ehe Muybridge Leland Stanford demonstrieren konnte, dass dessen eigenes Pferd mit dem schönen Namen Occident tatsächlich alle vier Hufe gleichzeitig vom Boden abhob, wenn es galoppierte. Im Gegensatz zur damals populären und auf vielen Gemälden zu beobachtenden Vorstellung geschah dies aber nicht im Moment der größten Streckung, so dass die Vorderbeine nach vorne ausgriffen und die Hinterbeine nach hinten gestreckt waren, sondern in dem Augenblick, in dem sich alle vier Beine unter dem Pferdekörper befinden. Heute mag dies wie eine Binsenweisheit anmuten, doch für die Zeitgenossen von Muybridge und Stanford war diese Feststellung so faszinierend, dass das Experiment in ähnlicher Form noch mehrfach (und auch mit anderen Tieren wie etwa Elefanten und Büffeln) wiederholt wurde, so dass wir heute noch die erhaltenen bewegten Bilder betrachten können. Dass Muybridges Pionierleistung am Übergang von Fotokunst zu Film ihm zunächst wenig Erfolg und Ansehen brachte, lag jedoch auch an einem späteren Streit mit seinem einst so großzügigen Mäzen Stanford, der die Aufnahmen des Fotografen „stahl“ und sie in einem Buch mit dem Titel „The Horse in Motion“ veröffentlichte. Einen gegen Stanford angestrengten Prozess um seine Urheberrechte konnte Muybridge nicht gewinnen.

Nicht nur an pferdischer, sondern auch an menschlicher Bewegung interessiert:
Muybridges Aufnahmen einer (ja, unbekleideten!) Frau beim Treppensteigen 

In einer späteren Schaffensphase dehnte Muybridge sein Interesse auch auf die Anatomie der menschlichen Bewegung aus. Er behielt die wesentliche Technologie bei, die er bereits bei der Fotografie von Tierbewegungen eingesetzt hatte, stellte nun jedoch auch bewegte Aufnahmeserien her, die von boxenden oder Wassereimer tragenden Männern bis hin zu Treppen steigenden nackten Frauen reichten. Inzwischen war der Fotograf hauptsächlich für die Universität von Pennsylvania tätig, reiste aber auch viel in andere Länder und war mit stetig wachsender Popularität eingebunden in ein internationales Netzwerk von wissenschaftlich interessierten Künstlern, die sich etwa mit den Anfängen von Biomechanik, Kinetik und Aerodynamik auseinandersetzten. Die öffentliche Vorführung seiner Serien bewegter Tierbilder, die Muybridge mit seinem Zoopraxiskop 1893 anlässlich der World’s Columbian Exhibition in Chicago organisierte, wird, da an das Publikum Eintrittskarten verkauft wurden, von vielen Filmhistorikern als die Geburtsstunde des Kinos betrachtet.

Antiquarisch und angestaubt wirken die von Muybridge vor über hundert Jahren gemachten Aufnahmen heute in unserer Ära der computergenerierten Special Effects und des wie selbstverständlich verfügbaren digitalen Fernsehens. Zwar hätten wir (in Deutschland) liebend gerne eine bessere Rennverfilmung als die derzeit für deutsche Turffreunde verfügbare Technologie, doch wenn man unser Angebot mit den Produkten von Eadweard Muybridge vergleicht, wird schlagartig deutlich, wie ungeheuer rasant sich die Technologie des Filmens und Fotografierens weiterentwickelt hat. Ohnehin leben wir Menschen des frühen 21. Jahrhunderts in einer grundlegend anderen Zeit, wie abschließend eine weitere Episode aus Muybridges schillernder Biographie illustrieren soll:

Der Fotograf stand nämlich 1874, also genau zu der Zeit, als er sich mit dem Fotografieren bewegter Pferdehufe befasste, vor Gericht, weil er den Liebhaber seiner Frau, einen Theaterkritiker namens Harry Larkins, kaltblütig erschossen hatte. Ins Gefängnis kam er für diese Tat allerdings nicht, denn sie galt seinen Zeitgenossen als verständliches, entschuldbares Delikt. Heute wäre eine solche Entscheidung wohl kaum vorstellbar…

Wer mehr über den Fotografen Eadweard Muybridge erfahren möchte, dem seien diese bereits jetzt schon überaus umfangreichen Websites empfohlen, die sich noch im weiteren Aufbau befinden – eine faszinierende Fundgrube für viel, viel mehr als nur alte Aufnahmen galoppierender Pferde:






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