Es war einmal vor zehn Jahren
Mit dem heutigen
Bericht bewege ich mich für meine Verhältnisse ziemlich weit über meine
üblichen Interessensgrenzen hinaus, denn ich bin einfach sehr stark auf den deutschen
Galopprennsport fokussiert. Das hat möglicherweise mit meiner frühkindlichen
Prägung als Ruhrgebietspflanze und Patenkind eines Rennsportfreundes zu tun,
für den bereits die jährlichen Meetings in Hamburg und die Große Woche in Iffezheim
große Reisen bedeuteten…
Das Geschehen im
Rest Europas interessiert mich allerdings seit einigen Jahren schon deutlich
mehr, aber zu behaupten, dass ich von der amerikanischen Rennsportszene
gesteigerte Ahnung hätte, wäre wirklich extrem übertrieben. Was dort, im Land
der vermeintlich unbegrenzten Möglichkeiten, geschieht, bekomme ich
normalerweise eher am Rande (wenn überhaupt) mit. Manches, was dort üblich ist,
betrachte ich in ziemlich negativem oder zumindest skeptischem Licht. Und
dennoch bin ich heute Nacht lange wach geblieben, um mir ein absolutes
Highlight des US-Rennsportkalenders im Livestream anzusehen – das Kentucky
Derby.
Auslosung der Startboxen in Kentucky - nicht mit Hein Bollow |
Um zu erklären,
wie es zu dieser freiwilligen Nachtwache kam, muss ich aber ein wenig ausholen
und gleichzeitig in nostalgischen Erinnerungen an die Zeit damals vor zehn
Jahren schwelgen, die zunächst einmal rein gar nichts mit dem Galopprennsport
zu tun hatten, mich dann aber doch ganz unverhofft dazu brachten, mein erstes
(und bis dato auch einziges) Kentucky Derby so zu zelebrieren wie es eben
viele Amerikaner tun. Aber der Reihe nach…
Vor zehn Jahren
schrieben wir das Jahr 2002, und ich befand mich mitten im Referendariat für den
Schuldienst in NRW. So langsam kam das zweite Staatsexamen immer näher, und die
ständige Mischung aus sehr hoher Arbeitsbelastung, permanenter Selbst- und
Fremdhinterfragung sowie chronischem Schlafmangel (in anderen Worten: vollkommen normal im
Referendariat) hatten bei mir zu einer sehr starken, einseitigen Fixierung auf
alles Schulische und die Aufgabe praktisch sämtlicher Hobbys und Freizeit geführt
(auch das leider kein unübliches Phänomen). So hatte ich 2001 auch die Zahl
meiner Rennbahnbesuche im Vergleich zu den Vorjahren deutlich eingeschränkt und
habe auf dem grünen Rasen einige Dinge verpasst. Irgendwie hatte ich nur noch
Schule und Lehrerinwerden im Kopf.
Eines Tages früh
im Jahre 2002 sprach mich meine Seminarleitung überraschend auf dem Gang an und
meinte, ob ich denn schon etwas geplant hätte für den obligatorischen Auslandsaufenthalt,
den ich im Rahmen meiner Zusatzausbildung für den Einsatz an bilingualen Zweigen
absolvieren müsste. Äh… bitte was?
Ich war zunächst
einmal ziemlich konsterniert. Dass ich davon noch nichts gehört hatte, war
nicht besonders verwunderlich, denn es gab diese Regel, die das
Kultusministerium meines Heimatbundeslandes in seiner unermesslichen Güte
spontan vom Himmel hatte fallen lassen, um sie für die folgenden Jahrgänge
prompt wieder aufzuweichen, erst seit einem knappen Monat. Mir als einziger betroffener bilingualer Referendarin an meinem Seminar hatte man natürlich nichts davon gesagt. Warum auch? Nicht dass ich den
Sinn und gleichzeitig den Reiz eines solchen längeren Auslandsaufenthaltes in
einem (für meine Zwecke) englischsprachigen Land nicht eingesehen hätte, aber mitten
im Referendariat? So plötzlich? Und logischerweise ohne irgendwelche
finanzielle oder logistische Unterstützung?
Sagen wir so: Es
war eine ziemliche Herausforderung, die vorgeschriebenen zwei Monate irgendwie selbstständig
zu organisieren, aber letztlich kam ich so ganz unverhofft in den Genuss einer
Erfahrung, an die ich mich bis heute äußerst positiv und mit viel Dankbarkeit
erinnere, denn durch die großzügige Hilfe und enorme Gastfreundschaft vieler
verschiedener Menschen auf der anderen Seite des Atlantischen Ozeans wurde es
eine unvergessliche, enorm bereichernde Zeit.
Atlanta, Georgia in den USA - anno 2002 mein Praktikumszuhause für zwei Monate |
Möglich war dies
alles nur dadurch, dass meine Ausbildungsschule hier im Ruhrgebiet eine
Partnerschaft mit einer High School in Atlanta, Georgia hatte. Der dorthin
zaghaft aufgenommene Kontakt brachte mich bald in einen immer angeregteren E-Mail-Austausch
mit Elizabeth, der Leiterin des dortigen Social Studies Departments, die mir
auf Anhieb ungeheuer sympathisch war. Obwohl sie mich ja gar nicht kannte, warf
Elizabeth sich voll in die Vorbereitung meines Aufenthalts an ihrer Schule,
half mir mit Formularen und administrativen Anträgen, und fand für mich vier
Gastfamilien, die mich jeweils für zwei Wochen meiner Zeit in Atlanta betreuen
würden. Man stelle sich so etwas an einer deutschen Schule vor… unglaublich,
eigentlich! Es musste sogar eine Art Casting veranstaltet werden, da sich etwa
vierfach so viele mögliche Gastfamilien für den „visiting student teacher from
Germany“ gemeldet hatten wie überhaupt benötigt wurden!
In der zweiten
Märzwoche ging es dann los über den großen Teich. Noch heute kann ich nur
schwärmen von den vielen, vielen positiven Erfahrungen, die ich in den
kommenden knapp neun Wochen in Atlanta gemacht habe. Viel gelernt, viel
gesehen, viel erfahren – eine ganz intensive Zeit, und das verdanke ich neben
der ausgesprochen warmherzigen Elizabeth und den oft fantastischen jungen Amerikanern,
die ich an „meiner“ High School kennen lernen durfte, besonders meinen
Gastfamilien. Jede davon war auf ihre ganz eigene Art völlig individuell und
überhaupt nicht so stereotyp wie uns Fernseh-Sitcoms weismachen wollen, und vor
allem haben sie mich alle mit offenen Armen aufgenommen und in kürzester Zeit
in ihr ganz normales Familienleben integriert.
Merkt man, dass
ich auch heute, immerhin zehn Jahre später, noch vollkommen begeistert bin?
Ja?
Dann ist es ja
gut.
Es wurden also
zwei fantastische Monate, aber was ich in meiner letzten Woche in Atlanta
erlebt habe, schlug alles bis dahin Geschehene noch einmal um Längen – und so
langsam kommt nun auch wieder der Galopprennsport ins Spiel.
Gastfamilie
Nummer 4 war nämlich an und für sich gar nicht aus Atlanta, sondern nur der
Arbeit wegen zugezogen. Sie stammte aus einer New Yorker Familie und arbeitete kunst-
und bewegungstherapeutisch mit mehrfach behinderten Kindern und Jugendlichen,
er war Steuerfachanwalt und stammte aus Kentucky. Ja, genau… aus Kentucky –
gleich sind wir wieder bei den Pferden. Als ich nämlich das erste Mal in das
Haus meiner letzten Gastfamilie trat (man stelle sich in etwa eine Wohngegend
wie die Wisteria Lane aus der Fernsehserie „Desperate Housewives“ vor), fiel
mein Blick sofort auf ein riesiges Gemälde mit einer packenden Rennsportszene.
Das Bild hatte die Herrin des Hauses, wie ich später erfuhr, selbst gemalt, und
es zog mich logischerweise sofort in seinen Bann.
So ähnlich, ganz im Stil der Wisteria Lane, sah es aus, das Zuhause von Gastfamilie Nr. 4 |
Beim ersten
gemeinsamen Abendessen, einer relaxten Grillrunde rund um den kleinen Pool im
Garten hinter dem Haus, kamen wir angeregt durch das Gemälde auch auf das Thema
Galopprennsport zu sprechen. Wie sich herausstellte, hatte mein Gastvater
seiner Liebsten auf der Rennbahn von Churchill Downs (allerdings quasi menschenleer
im Rahmen eines Picknicks drei Tage vor dem großen Derby Day) einst den
Hochzeitsantrag gemacht. Er selbst war als Kind jedes Jahr mit seinem Großvater
beim Run for the Roses gewesen und schwärmte von all den Pferden, die er dort
live erlebt hatte: Northern Dancer und Secretariat, das waren zumindest zwei
Namen, mit denen ich etwas anfangen konnte. Auch seine Frau und die beiden
damals im Grund- und Mittelschulalter befindlichen Kinder hatten sich bei ihm
mit der Begeisterung für das Kentucky Derby angesteckt, und so erfuhr ich bald,
dass die inzwischen 128. Austragung des großen Rennens gar nicht mehr weit
entfernt lag.
Auch ein netter Ort für einen Heiratsantrag: Die Rennbahn Churchill Downs |
Tja, und dann
offenbarten sie mir am Anfang meiner letzten Woche in Amerika, dass sie mich
eigentlich gerne behalten würden , aber wenn ich schon wieder nach Hause müsse,
zumindest eine schöne Abschiedsparty für mich machen wollten. Vor überraschter
Rührung konnte ich gar nicht richtig antworten, und es wurde noch besser, als
mir meine Gastmutter erklärte, es solle eine typisch amerikanische
Nachbarschaftsparty werden, zu der jeder Gast etwas beiträgt, denn sie wollten
alle einladen, mit denen ich während meiner zwei Monate in ihrem Land engeren
Kontakt gehabt habe. Und als Motto hatten sie an „Derby Day“ gedacht. Wie ich
das finden würde…
Na, wie wohl?
Was für eine
großartige Idee!
Ich war
begeistert und half gerne, wenn auch recht wehmütig wegen des bevorstehenden
Abschieds von diesen lieben Menschen, bei den Vorbereitungen mit, die aber typisch amerikanisch sehr entspannt und in guter Stimmung abliefen. Von den
Kindern des Hauses lernte ich Melodie und Text der Hymne „My Old Kentucky Home“,
bis ich beides zumindest mitsingen konnte. Meine Gastmutter weihte mich in die
Zubereitung des traditionellen Getränks Mint Julep (inklusive der alkoholfreien
Variante für die zahlreich erwarteten Kinder) ein, wir bereiteten Snacks vor,
stellten Liegestühle rund um den Pool und Plastikstühle sowie einen Pavillon in
den Garten und kauften allerhand Dekomaterial für einen Hutdekorationswettbewerb.
Rosensträuße dienten als Dekoration, die meisten davon aus dem eigenen Garten. Auf
den ebenfalls traditionellen Eintopf Burgoo wurde dann doch verzichtet, weil es
am Tag der Party in Atlanta wieder einmal sehr heiß wurde, aber Burger und
Steaks wollte der Hausherr mit seinem Sohn grillen, und er verriet mir mit
einem Augenzwinkern, dass die sowieso leckerer seien als Burgoo.
Muss beim Kentucky Derby sein: Mint Julep |
Irgendwann zwischendurch
wurde auch das Starterfeld des Derby-Rennens studiert, denn es sollte ja
den in Amerika üblichen Derby Pool unter allen Anwesenden geben, ehe der Start
erfolgte. Mir sagten die Namen logischerweise alle nichts, aber meine
Gastfamilie geriet in heftige Diskussionen über die Abstammung, Vorleistungen
und allgemeinen Chancen aller möglichen Kandidaten, die darauf hinausliefen,
dass jeder Gast eine gewisse Anzahl Jelly Beans beim Eintreffen bekommen
würde, mit denen dann Pferde statt mit echtem Geld ersteigert werden konnten.
Und dann war der
große Tag da – erster Samstag im Mai, der Tag nach meinem ziemlich
tränenreichen Abschied von den tollen Klassen meiner High School auf Zeit. Es
war morgens schon sommerlich warm, also warf ich mich ebenso wie meine Gastmutter
und -schwester in ein leichtes Kleid und Sandalen und half bei den letzten
Vorbereitungen, ehe dann die Gäste für die Kentucky Derby and Farewell Party
eintrafen. Und alle kamen… meine übrigen drei Gastfamilien mit Kindern und dem
einen oder anderen Großelternteil, die Nachbarn, einige der Lehrer, bei denen
ich hospitiert und eigene Unterrichtsversuche absolviert hatte, der Priester der katholischen Gemeinde, in der ich mit
Gastfamilie Nr. 2 öfter gewesen war, aber auch der Rabbi von Gastfamilie Nr. 3,
meine Betreuerin Elizabeth, die netten Nachbarn… Das Kentucky-Derby-Fieber hatte sie alle erfasst. Insgesamt werden es wohl um
die fünfzig Gäste gewesen sein, unter denen viele Kinder waren.
Es war eine ganz
und gar ungezwungene Atmosphäre, denn jeder hatte etwas fürs Büffet mitgebracht
(und alles, aber auch wirklich alles war lecker!), Getränke gab es reichlich,
wer wollte, sprang einfach in den Pool, alle Gäste unterhielten sich angeregt miteinander,
auch wenn sie sich vor meinem Praktikum gar nicht gekannt hatten, der Barbecue-Grill
lief auf Hochtouren, Hutwettbewerb und Derby-Pool waren ein voller Erfolg.
Allerdings waren die Jelly Beans verschwunden (vermutlich von einem Kind
gegessen), also wurde die geplante Versteigerung kurzerhand in eine Verlosung
umfunktioniert. Niemand nahm das Missgeschick krumm, und es wurde viel gelacht,
vor allem als ich meinen blind von der Liste gewählten Wunschkandidaten namens
Saarland tatsächlich bekam. Irgendwie musste ich ja ein wenig Lokalpatriotismus
zeigen, und wenn da schon ein deutsches Bundesland in Kentucky mitlief… Das
Schicksal schien es so zu wollen.
Der Sohn von
Gastfamilie Nr. 1 erloste mindestens so ahnungslos in Sachen amerikanischer
Rennsport wie ich ein Pferd namens War Emblem und versuchte zwei Stunden lang, seinen
Vierbeiner mit demjenigen seiner Schwester zu tauschen, aber die hatte Medaglia
d’Oro, einen Vorabfavoriten, erwischt und gab ihn logischerweise nicht mehr her,
zumal ihr Vater ihr verraten hatte, dass der Name auf Italienisch „Goldmedaille“
hieß. Da konnte das Pferd ja nur gewinnen… dachte sie.
Medaglia d'Oro - nicht der Sieger, aber später immerhin Vater einer gewissen Rachel Alexandra |
Schließlich
rückte, während es im weit entfernten Deutschland schon wieder Nacht war, die
Startzeit heran, und der Pool lag vollkommen verlassen im Sonnenlicht, der
Grill war verwaist und dafür das Wohnzimmer der Gastfamilie rappelvoll, denn
alle hatten sich vor dem (zum Glück großen) Fernseher versammelt. Kinder im
Schneidersitz auf dem Boden, Erwachsene auf, neben und hinter dem XXL-Sofa, und
alle sprangen auf, als „My Old Kentucky Home“ gespielt wurde. Natürlich wurde
mitgesungen, und es stellte sich heraus, dass auch in den anderen Familien
geübt worden war. Diese Atmosphäre verschaffte mir einen winzigen, aber nachhaltigen Eindruck
davon, wie die Stimmung wohl am Ort des Geschehens in Churchill Downs selbst
sein mochte, und Gastvater Nr. 4 versprach seinen Kindern spontan, eine alte
Familientradition aufleben zu lassen. „Next year I am taking you all there.“
Tochter und Sohn nickten zustimmend und starrten weiter gebannt auf den
Fernseher.
„Aaaaannnd they’re
off!“
Ich muss gestehen, dass ich einen großen Teil der ersten Hälfte des
Rennens mit der Orientierung im Feld und dem Suchen nach den Rennfarben meines
Pferdes Saarland (lange Zeit Vorletzter, später eher unspektakulär auf dem
zehnten Platz im Ziel) verbracht habe. Erst recht spät fand meine
Aufmerksamkeit den Führenden War Emblem, was aber vor allem an Sohn von
Gastfamilie Nr. 1 lag, der direkt vor mir auf dem Teppich saß und
unkontrollierte herumwibbelte, als er entdeckte, dass er den Spitzenreiter
gezogen hatte. Und der machte – anders als Bodemeister in der 138. Austragung
des Kentucky Derbys gestern Nacht, keine Anstalten, einem heraneilenden Angreifer
zu weichen, denn er legte, als es in die Zielgerade ging, immer und immer wieder
neu zu, so dass er mit sehr komfortablem Abstand vor Proud Citizen (nicht zu
verwechseln mit dem kürzlich in Frankfurt erfolgreichen deutschen Namensvetter)
und Perfect Drift gewann.
War Emblem gewinnt die 128. Austragung des Kentucky Derby |
Um mich herum herrschten damals in Atlanta begeisterter Jubel und aufgeregtes Quietschen, man fiel sich in die Arme, dem
ziemlich konsternierten Sohn von Gastfamilie Nr. 1 wurde mindestens so
enthusiastisch zu seinem Losglück gratuliert als hätte er selbst, und nicht
Jockey Victor Espinoza War Emblem zum Erfolg geritten. Das alles war einfach
nur ansteckend in seiner Hingabe an die gute Laune und das Mitfeiern eines
nationalen Sportereignisses mit langer, ehrwürdiger Tradition. Ich habe mich
gerne mitreißen lassen, und so endete die Party an jenem 128. Kentucky Derby
Day erst ziemlich spät am Abend, als die ersten Kinder schon längst erschöpft
auf irgendwelchen Sesseln oder in den Armen ihrer Eltern eingeschlafen waren.
Es war also ein Abschluss für ein wider Erwarten fantastisches
Auslandspraktikum, der so ziemlich alles übertraf, was ich bis dahin an
gemeinsamem Feiern miterlebt hatte. Am folgenden Montag reiste ich wieder
zurück nach Deutschland, um mich an die letzte Etappe meines Referendariats zu
machen, aber diese Kentucky Derby and Farewell Party habe ich logischerweise
nie vergessen. Auch zu einigen der damals anwesenden Amerikaner habe ich –
sozialen Netzwerken sei Dank! – nach wie vor regelmäßigen Kontakt, so auch zur
Mutter des mit dem Los von War Emblem beglückten Sohnes von Gastfamilie
Nr. 1. Inzwischen wohnt die Familie, nachdem die Kinder im College sind, nicht
mehr in Atlanta, aber ein wenig scheint der Rennsport diese Frau immer noch
gepackt zu haben, denn sie schrieb mit gestern Nachmittag, während ich in
Mülheim auf der (im Vergleich zu Kentucky natürlich arg trostlosen und
menschenleeren) Rennbahn war, dass sie in ihrem Office Derby Pool (was es in
den USA alles gibt… kann sich jemand das in Deutschfussballland vorstellen?)
ein Pferd namens I’ll Have Another gezogen habe.
I'll Have Another - Sieger in Kentucky 2102 |
Sie spekulierte, dass damit wohl der Mint Julep
gemeint sein müsse, den sie abends zur Feier des Derby Day und in Erinnerung an
unsere tolle Feier damals in Atlanta trinken werde. Hausgemacht, natürlich… Ihrer
Meinung nach müsse ja eigentlich Bodemeister gewinnen, ein Pferd, bei dem sie
immer an mich denken müsse, weil sein Name so deutsch klinge. Im Chat haben wir
noch ein wenig über dieses und jenes getratscht, wie es den Kindern so geht
hauptsächlich, und als ich feststellte, dass es schon relativ spät war, habe
ich mich spontan entschlossen, für das Derby-Rennen wach zu bleiben. Und anschließend
konnte ich ja dann gleich gratulieren, denn wieder einmal hat diese
amerikanische Familie Losglück gehabt.
I’ll Have Another sprintete auf der
Schlussgeraden noch am lange führenden Bodemeister vorbei, und schon einige
Längen vor dem Ziel war klar, dass er, geritten von einem bis dato ziemlichen Jockey-Nobody
namens Mario Gutierrez, zu einem spektakulären Triumph unterwegs war. So ganz
nebenbei… Gutierrez ist Sohn eines Jockeys, in Mexiko geboren, ritt dort seit
er vierzehn Jahre alt war Quarter Horses und emigrierte 2006 nach Kanada, wo er
zwar recht erfolgreich war. Aber ein Star der amerikanischen Jockeyszene zu
werden – dass ihm das so rasch gelingen würde wie durch die Siege mit I’ll Have
Another im Santa Anita Derby und gestern Nacht in Kentucky, das hätte er sich
vermutlich kaum träumen lassen. Wer weiß, vielleicht wird der Kentucky Derby
Winner dieses Jahres ja später einmal ganz am Anfang einer großen
Jockey-Karriere stehen, die für den bei seinem Interview nach dem Ziel sehr sympathischen Mario Gutierrez einen ganz persönlichen American Dream wahr
macht.
Überaus sympathische Sieger: Mario Gutierrez und I'll Have Another |
Ein Sieg in den Preakness Stakes, wie er I’ll Have
Anothers Vorgänger War Emblem vor zehn Jahren im Anschluss an das Kentucky
Derby gelang, würde da sicher helfen, doch noch ist das – ebenso wie das
mögliche Erlangen der begehrten Triple Crown mit den Belmont Stakes – absolute Zukunftsmusik.
Die Triple Crown hat sich War Emblem, den ich damals nach dem Zieleinlauf in
Churchill Downs, als die Kameras ihn in Großaufnahme über alle Fernsehschirme in
den USA flimmern ließen, unglaublich schön fand, übrigens auch nicht sichern
können. Nach einem verkorksten Start und einem wenig optimalen Rennverlauf
hatte er gegen Sarava aus dem Stall von Bob Baffert keine Chance.
Ende 2002 beendete War Emblem seine Rennbahnkarriere
und wurde nach Japan in die Zucht der Shadai Stallion Station verkauft. Dieses
riesige Gestüt ist uns ja in Deutschland durch die aktuellen Verkäufe zahlreicher
sehr guter Pferde an Teruya Joshida keineswegs unbekannt. War Emblem kostete
seinerzeit bescheidene 17 Millionen Dollar, wogegen der Erwerb von fünfzig
Prozent an unserer gegenwärtigen deutschen Stargalopperin Danedream vor deren
Arc-Triumph und die Nachnennungsgebühr von 100.000 Euro vermutlich eher
Schnäppchen gewesen sein dürften. Im Vergleich zu dieser gewaltigen Summe
hat der Sieger des Kentucky Derby seinen japanischen Besitzern bereits jede
Menge Kopfzerbrechen bereitet, denn seiner geplanten Aufgabe, dem Decken
von teuren Vollblutstuten, geht er offenbar wenn überhaupt nur mit extrem
gebremster Begeisterung nach. An einer Lösung dieses für einen Deckhengst ja
geradezu katastrophalen Problems wird weiterhin gearbeitet, doch ob
die Erfolge in der Bedeckungsquote, die sich zuletzt wieder einstellten, von
Dauer sein werden, kann nur die Zeit zeigen.
Bis der Sieger von gestern, I’ll Have Another,
möglicherweise später einmal in eine solche Stellung als Deckhengst gelangt, werden
noch einige Zeit und hoffentlich weitere Rennerfolge vergehen. Für den Moment
darf gefeiert werden, so wie man es in den USA sicher nicht nur in Atlanta tut:
mit ordentlich Mint Julep.
Na dann: Cheers!