Sonntag, 7. April 2013

Vor fünfzehn Jahren: Losgetigert


Endlich – am Sonntag gibt es wieder Galopprennen fast vor meiner (ehemaligen Speldorfer) Haustür am Raffelberg. Inzwischen hat es mich ja in einen anderen Mülheimer Stadtteil verschlagen, aber ich kann mich noch so gut an das Gefühl prickelnder Spannung und Vorfreude erinnern, mit dem ich damals, früher immer den kleinen Berg von der Duisburger Straße hinunter, oft mit einem kleinen Abstecher zum elterlichen Schrebergarten in der benachbarten Laubenpieperkolonie, zur Rennbahn gelaufen bin. Die Pferdetransporter von Harzheim, Stinshoff und Co. waren dann in der Regel schon da und fleißige Pferdepfleger entluden die kostbare vierbeinige Fracht, so dass man schon ehe man das Gelände der Rennbahn an sich betreten hatte, mittendrin war im Geschehen. Einfach nur schön…


Morgen geht es wieder los auf der Rennbahn am Raffelberg!

Leider sind diese Renntage, von denen ich als Kind und Jugendlichen nach Möglichkeit keinen ausgelassen habe, in Mülheim inzwischen selten geworden.  Ich trauere den vergangenen Zeiten, in denen es durchschnittlich alle zwei Wochen einen Renntag auf meiner Heimatbahn gab, immer wieder heftig nach, aber Jammern und Wehklagen werden sie wohl kaum zurückbringen. Und so bleiben immerhin viele, viele schöne Erinnerungen, die dann und wann auf ihre typisch melancholische Art in meinem Bewusstsein anklopfen – so wie jene an das Orakel der Dreijährigen anno 1998. Dieses früher so beliebte Rennen, das wohl leider auch in die ewigen Jagdgründe der Mülheimer Vollblutgeschichte eingegangen sein dürfte, wurde nämlich vor fast genau fünfzehn Jahren von einem ganz besonderen Pferd gewonnen. Einen der jüngsten Nachkommen dieses Deckhengstes habe ich nämlich in der vergangenen Woche noch auf ganz frischen Fohlenfotos bewundern können, die der zu Recht stolze Züchter des kleinen und putzmunteren Arakis in unserem Tippspielforum eingestellt hatte. 

Einen weiteren Jahrgang des großen Fährhofers Tiger Hill wird es nun leider nicht mehr geben können, denn der Hengst musste im vergangenen September nach einer Fraktur, die er sich auf der Koppel zugezogen hatte, erlöst werden. Als diese Nachricht vor sieben Monaten die Runde machte, kamen zum ersten Mal wieder die Erinnerungen an das Rennen, um das es in diesem Blogeintrag gehen soll: das Orakel der Dreijährigen 1998 und den beeindruckenden Sieger mit Namen Tiger Hill.

Als ich damals am 12. April 1998 zum Raffelberg lief, hatte ich schon eine gefühlte Babybadewanne voll Kartoffelsalat für die Party produziert, die mein Bruder abends zu seinem zwanzigsten Geburtstag feiern wollte. Da war der Ausflug auf die Rennbahn wirklich hochverdient!  

Ein Pferd gab es, auf das ich mich an jenem Tag ganz besonders vorfreute, und das war eben jener Tiger Hill, der auf meiner Heimatbahn sein Saisondebüt geben würde. Schon lange war mir sein Name geläufig – genau genommen seit der Jährlingsauktion zwei Jahre zuvor, bei der mein Patenonkel, wie es früher seine Angewohnheit gewesen war, während seines Aufenthalts in Iffezheim „kiebitzen“ gewesen war. So nannte er das stumme Zuschauen und Bestaunen des Pferdenachwuchses, wahrscheinlich dann und wann bei einem besonders imposanten Jährling kombiniert mit einem sehnsüchtigen Tagtraum, was er denn machen würde, wenn er das nötige Kleingeld hätte, um mitsteigern zu können.

Das hatte er natürlich nie, aber der Wittekindshofer Tiger Hill, der für beeindruckende 130.000 Mark in den Besitz Georg Baron von Ullmanns wechselte, hatte es ihm damals schon arg angetan. Er lobte dieses Pferd jedenfalls bei unserer nächsten Begegnung in den höchsten Tönen und freute sich sehr, als Tiger Hill zweijährig ungeschlagen blieb. 


Hatte vor fünfzehn Jahren dank Tiger Hill noch jede Menge Grund zur Freude:
Georg Baron von Ullmann

Schon bei seinem Debüt im Juli 1997 in Gelsenkirchen, als ich gerade per Inter Rail mit einer Freundin Großbritannien erkundete, war der Danehill-Sohn seinem Ruf gerecht geworden und hatte die Wetter, die ihn auf optimistische 12:10 heruntergewettet hatten, nicht im Stich gelassen. Wahnfried, Treinton und Alpen Princess waren ihm in einem extrem überschaubaren Viererfeld nicht gewachsen gewesen. Etwas anspruchsvoller und vor allem kopfstärker war dann die Konkurrenz bei Tiger Hills zweiten Rennbahnauftritt doch ausgefallen. Rückblickend erkennt man im Starterfeld des Dortmunder Auktionsrennens von 1997 – immerhin im Listenstatus – einige bekanntere Namen: Marlowe, Leroy, Evening Set… besonders aber zwei andere spätere Deckhengste mit Namen Tannenkönig und Areion. Beide Stallion-Kollegen hat Tiger Hill in Dortmund wieder souverän hinter sich gelassen. Und gegen Tannenkönig gelang ihm dies sogar ein weiteres Mal im Münchner Auktionsrennen.

Ungeschlagen, mit der berühmten weißen Weste ausgestattet, ging der zunächst noch von Heinz Jentzsch in seinem letzten Trainerjahr in Köln vorbereitete Tiger Hill also in die Winterpause, und dürfte mit seiner erfolgreichen Zweijährigen-Kampagne in Peter Schiergen als Nachfolger am Asterblüte-Stall so manch eine Hoffnung geweckt haben, die es dann beim ersten Auftritt 1998 im Mülheimer Orakel der Dreijährigen zu verwirklichen galt. Er mag geahnt haben, was tatsächlich noch in diesem Pferd stecken konnte, denn schließlich war er ja bis zum Ende seiner Jockeylaufbahn bei allen drei Starts selbst sein Reiter gewesen.




Freilich, es bleibt die Frage, was denn ein überaus leichter Maidenerfolg gegen sehr überschaubar talentierte Konkurrenz und zwei Treffer in Auktionsrennen wert sein mochten. Winterfavorit auf der vermeintlich anspruchsvolleren Route war ein gewisser El Maimoun geworden, von dem man sich für die Dreijährigensaison große Dinge versprach. Einlösen konnte er sie nie, denn er kam leider nach einer schweren Trainingsverletzung nicht mehr an den Start und musste aufgegeben werden. Aber ob Tiger Hill, der El Maimoun ja zweijährig nie begegnet war, in der gleichen Liga spielte, konnte zu Beginn der Saison 1998 nur spekuliert werden.

Diese leichte Skepsis teilten wohl auch einige der Wetter vor dem Mülheimer Rennen, denn sie machten Tiger Hill nur minimal zum 20:10-Favoriten gegenüber dem mit einem Punkt mehr am Toto notierten Kölner Konkurrenten Royal Story aus dem Stall von Andreas Schütz. Dessen großer Bonus war, dass er bereits ganz früh in der Saison in Krefeld einen Start absolviert hatte. Dieses Rennen hatte er dann auch gleich siegreich gestaltet. Man musste ihm also durchaus für das Orakel der Dreijährigen gute Chancen einräumen.

Der Rennverlauf zeigte aber schnell, dass ein neuer Star am Dreijährigenhimmel geboren war. Und der hieß nicht Royal Story, sondern Tiger Hill. Sage und schreibe zehneinhalb Längen lagen am Raffelberg nach einer Renndistanz von 1600 Metern schließlich zwischen dem Sieger aus dem Asterblüte-Stall und dem Starter von Jaber Abdullah! Man muss schon von einer Demonstration sprechen, die der von Billy Newnes gerittene Tiger Hill in Mülheim veranstaltet hatte. Oder, um es in den Worten meiner Rennbahnfreundin Simone auszudrücken, die damals mit mir auf der Bahn und natürlich auch dicht am Geländer des Absattelrings war: „Der ist toll. Den will ich klauen!“

Aus dieser Absicht wurde nichts – zum Glück! Das Stallpersonal von Peter Schiergen bewachte Tiger Hill hervorragend, und so konnte dieser im Frühjahr und Frühsommer 1998 gleich zwei weitere Siege folgen lassen, die nur noch einmal eindrucksvoller unterstrichen, wie gut dieses Pferd war. Er gewann das Mehl-Mülhens-Rennen in Köln ebenso wie den Großen Müller Brot-Preis in München, beides Rennen der Gruppe II. 

Solchermaßen nach sechs Rennen noch ungeschlagen war es natürlich nur logisch, dass Tiger Hill auch am 5. Juli 1998 in Hamburg zum ganz großen Vorabfavoriten für das Deutsche Derby gekürt wurde. Wer sonst hätte diese Rolle auch übernehmen sollen? Einzig Lanciano, der Sieger des von Tiger Hill nicht bestrittenen Union-Rennens, notierte außer ihm noch zweistellig. Ansonsten gab es auf alle anderen Kandidaten im Neunzehnerfeld teils satte dreistellige Quoten. Und die Tatsache, dass für Tiger Hill immerhin noch großzügig erscheinende 31:10 offeriert wurden, konnte eigentlich nur einen Grund haben: das Horner Moor.

Dieses Horner Moor machte in jenem Jahr nämlich seinem Namen zur Abwechslung mal wieder die allergrößte Ehre. Die Videobilder zeigen, dass die Hansestadt, wie es sich für Anfang Juli ja schließlich gehört, allerfeinstes Sommerwetter ausgepackt hatte.

Nein, im Ernst – auf Englisch würde man sagen: „It was raining cats and dogs… and elephants… and possibly a mammoth, too”! Noch heute, fast fünfzehn Jahre später, bin ich froh, dass ich damals in Zeiten knapper studentischer Kassen der Versuchung nach Hamburg zu fahren nicht nachgegeben habe, sondern das große Rennen nur vor dem heimischen Fernseher geschaut habe. So bin ich immerhin trocken geblieben. 

Der offizielle Bodenwert belief sich in Hamburg nach einer Woche Dauerregen auf 6,5 schwer, und wenn man die Rennverfilmung betrachtet, wird deutlich, dass dies der Tag der Spurensucher und Sumpfhühner werden musste. Schon bald nach dem Start, spätestens aber in der Gegengeraden, fächerte das Feld in der ganzen Breite quer über die Bahn auf – vermutlich alle Jockeys intensiv mit dem Suchen nach einer weniger tief morastigen Schlammspur beschäftigt. Und Tiger Hill lag lange sogar im vorderen Mittelfeld, wurde auch von Rennkommentator Manfred Chapman einige Male erwähnt, während vorne der Ittlinger First Step aus dem Stall von Hans-Albert Blume die Pace für den zweiten Favoriten Lanciano machen sollte. 




Diese Taktik erwies sich aber genauso – im wahrsten Sinne des Wortes – als ein Schlag ins Wasser wie der Ritt von Billy Newnes auf Tiger Hill, der immer in der Mitte der Bahn gehalten eine Menge Meter mehr gehen musste. Kurzzeitig konnte er an das Spitzentrio scheinbar den Anschluss herstellen, aber schon eingangs des Schlussbogens war eigentlich klar ersichtlich, dass Tiger Hill seine weiße Weste im Hamburger Schlamm verlieren würde, denn er lief nur noch schwerfällig und hatte bei diesen Bodenverhältnissen und diesem Rennverlauf nichts mehr zuzusetzen. So sprintete sich am Ende Andrasch Starke mit einem genialen Ritt auf dem Riesenaußenseiter Robertico – sicher nicht der ersten Waffe des Schütz-Stalls – zum Derbysieg, und für den großen Favoriten Tiger Hill, der die gesamte Frühsaison dominiert hatte, blieb nur der sicher bitter enttäuschende zehnte Platz. Ob es da ein Trost war, dass es Lanciano, der nur Siebzehnter und damit Drittletzter wurde, trotz aller Stalltaktik noch schlimmer getroffen hatte? Wohl kaum…

Aber da macht man nichts. Das Derby ist eben, wie es so schön heißt, das verrückteste Rennen des Jahres. Quod erat demonstrandum!

Wie es eben im Leben ist, musste für eine solch bittere Niederlage ein Schuldiger gefunden werden, und neben dem Horner Morast bot sich da fast schon selbstverständlich der Jockey Billy Newnes an, der vor dem Rennen offenbar freie Hand bekommen hatte, wie er sich taktisch verhalten wollte. Er war als Spurensucher nicht erfolgreich gewesen, und so verlor er nicht nur das von vielen schon sicher geglaubte Derby selbst, sondern auch seine Position als Stalljockey. Bei seinen folgenden Starts wurde Tiger Hill überwiegend von Andreas Suborics, teilweise auch von Terry Hellier geritten, und vor allem für den Erstgenannten waren die Rennen mit Tiger Hill wesentlicher Teil seines Aufstiegs in die Spitzengruppe der damals in Deutschland tätigen Jockeyzunft.

Und schon bei seinem nächsten Rennauftritt bewies der dreijährige Tiger Hill, dass er ein richtig gutes Pferd war. Dieses Rennen habe ich wieder selbst miterlebt – in Düsseldorf auf dem Grafenberg, und bis heute erinnere ich mich sehr gut an den packenden Endkampf, den der Ullmann-Hengst sich mit dem ein Jahr älteren Röttgener Ungaro lieferte – seines Zeichens ebenfalls ein Pferd mit Gruppe-I-Format. Das hatte Ungaro gerade erst unter Beweis gestellt, als er in Mailand den Gran Premio di Milano gewann. In Düsseldorf nun trug Tiger Hill als Dreijähriger sage und schreibe sechseinhalb Kilo weniger als die ältere Konkurrenz, und so musste man ihm natürlich sehr gute Chancen einräumen, sich für das enttäuschende Derby zu revanchieren. Das hätte unter Alessandro Schikora, der die leichten 53,5 Kilo reiten konnte, auch fast geklappt… fast. Nur fast, denn am Zielpfosten hatte Ungaro mit Terry Hellier – damals schon ein so begnadet starker Endkampfreiter wie heute noch – mit einem Hals den Vorteil. Aber der zweite Platz bestätigte die Klasse von Tiger Hill und ließ die Horner Schlappe rasch vergessen. 

Noch deutlicher gelang Tiger Hill dies bei seinem folgenden Auftritt, denn da dominierte er das Feld des Großen Preises von Baden, in dem sich immerhin solch klangvolle Namen wie Elle Danzig, Luso oder Caitano befanden, nach Belieben. Ein beeindruckendes Rennen war es – zum Glück im Internet in bewegten Bildern mit dem enthusiastischen Rennkommentar von Manfred Chapman erhalten.




Und dann folgte – obwohl Tiger Hill ja erst dreijährig war – Anfang Oktober 1998 der Griff nach den Sternen. Mit Andreas Suborics im Sattel startete Tiger Hill in keinem geringeren Rennen als dem Prix de l’Arc de Triomphe. Betrachtet man heute den Rennfilm, so gibt es da auf halber Höhe der Zielgeraden diesen einen kleinen Moment, in dem das Herz schneller schlägt, weil es für wenige Augenblicke so wirkt als könne Tiger Hill das in Realität verwandeln, was tatsächlich erst 2012 einer gewissen Danedream gelang, nämlich als dreijähriges in Deutschland trainiertes Pferd den Arc-Sieg schaffen. Richtig gut sieht der Vorstoß des Danehill-Sohnes für einige Momente aus, aber dann können es doch noch zwei andere Starter ein wenig besser, nämlich der spätere Sieger Sagamix und die englische Stute Leggera. So wurde Tiger Hill am Ende nur ganz knapp geschlagen. Aber im Arc de Triomphe mit nur einer Länge Rückstand Dritter zu werden – Respekt! Entsprechend wurde dieses große Rennen seinerzeit in Deutschland auch gefeiert, und Tiger Hill, der mit Ausnahme des unglückseligen Morast-Derbys in jedem seiner bis dato gelaufenen Rennen siegreich oder platziert gewesen war, wurde ganz unangefochten DAS Pferd des Jahres in Deutschland.




Er war aber eben auch einfach ein Typ, der das Rennbahnpublikum spielerisch leicht für sich einzunehmen wusste. Einfach ein rundum sympathischer Galopper, der auch in seiner folgenden Saison als Vierjähriger jedes Mal, wenn er an den Start kam, sei es nun im Kölner Gerling-Preis zum Saisonstart oder später auch wieder in Frankreich, wo er den Grand Prix de Saint Cloud bestritt, mit vollem Einsatz lief und drei Rennen auf Gruppe II- und Gruppe I-Ebene gewann. Den Sieg im Gerling-Preis konnte ich selbst miterleben. Zufällig brachte er auch die Revanche an Ungaro, der Tiger Hill im Vorjahr in Düsseldorf ja noch geschlagen hatte. Bedenkt man zusätzlich, dass der inzwischen vierjährige Hengst aus dem Stall von Peter Schiergen, für den Tiger Hill in seinen ersten beiden Trainerjahren ein ganz großer Erfolgsmotor wurde, gegenüber Ungaro nun keinen Gewichtsvorteil mehr hatte, macht dies deutlich, dass der ohnehin herausragende Galopper sich vielleicht über die Winterpause noch einmal hatte steigern können. Auch das Bayrische Zuchtrennen heftete Tiger Hill an seine Fahnen, ehe er im Herbst seinen Vorjahreserfolg in Iffezheim wiederholte  und unter anderem Flamingo Road und dem aktuellen Derbysieger des Jahres 1999 keine Chance ließ. 

Es lag selbstverständlich nahe, dass man anschließend einen erneuten Anlauf auf den Prix de l’Arc de Triomphe nahm – in einem Jahr, in dem mit der bereits erwähnten Flamingo Road und Borgia zwei weitere namhafte deutsche Starterinnen im Feld waren. Von diesen drei Deutschen zog sich Tiger Hill am Tag der Deutschen Einheit 1999 deutlich am besten aus der Affäre, aber ganz so erfolgreich wie im Vorjahr war sein Auftritt nicht. Am Ende blieb hinter dem beeindruckenden Sieger Montjeu „nur“ der fünfte Platz. 

Einmal noch sollten die Rennsportfreunde den vierjährigen Tiger Hill danach am Start bewundern können – wenn auch weit entfernt in Japan, denn dort lief er zum Abschluss seiner Karriere noch im Japan Cup. Abgesehen vom berühmt-berüchtigten Derby wurde es Tiger Hills schlechtestes Rennen. Wieder kam er hier nur als Zehnter über die Ziellinie. Doch in Deutschland blieb der nachhaltige Eindruck seiner vielen Erfolge im Gedächtnis. Zehn Siege und vier Platzierungen bei insgesamt siebzehn gelaufenen Rennen – was für eine großartige Galopper-Laufbahn!


Erst Tiger Hills Jockey, dann sein Trainer:
Peter Schiergen mit Saldentigerin, einer der  besten Töchter von Tiger Hill

Nach zwei Jahren als Deckhengst in Frankreich kehrte Tiger Hill 2002 wieder nach Deutschland zurück, wo er im Gestüt Schlenderhan stationiert war. Von seinen Nachkommen ist mir vor allem der nicht gerade einfache, aber oft ungemein stark laufende Oriental Tiger in Erinnerung geblieben – etwa bei dessen Kölner Erfolg im Rheinland-Pokal 2008, der ihm später wegen der leidigen Dopingvorwürfe wieder aberkannt wurde. Die Anzahl der äußerst leistungsstarken Nachkommen von Tiger Hill ist groß: Iota und Königstiger müssen natürlich genannt werden, aber auch Elopa, Saldentigerin, Sommertag, Abbashiva oder Wurfscheibe fallen mir ein. Auch Rewilding, der aus der Zeit stammte, in der Tiger Hill in England deckte, war ein ganz Großer auf der Rennbahn – und mit manch einem anderen Nachkommen seines Vaters teilt er das traurige Schicksal, leider nicht besonders alt geworden zu sein. 


Oriental Tiger, der nicht mit dem Glück im Bunde war und wenig später so tragisch einging, mit seinem Trainer Uwe Ostmann

So ist derzeit kein Nachfolger für den im vergangenen Jahr eingegangenen Tiger Hill in Sicht. Natürlich stehen noch nicht gelaufene Jahrgänge bereit, in denen sich manch ein künftiger Star verbergen mag, denn der jüngste Tiger Hill-Nachwuchs wird ja in diesen Tagen erst geboren oder tollt als Fohlen an Mutters Seite über die Koppeln der Gestüte. Vielleicht kann man auf Ametrin, der  eine langwierige Verletzung auskuriert hat, einige Hoffnungen in dieser Richtung hegen, aber das muss die Zukunft erst zeigen. Schön wäre es aber ganz sicher, wenn Tiger Hill nicht nur selbst als geniales Rennpferd und herausragender Vererber im Gedächtnis bleiben würde, sondern wenn diese Blutlinie in der Vollblutzucht weitergeführt werden könnte.

Einstweilen bleiben eben nur die Erinnerungen – und die ewig neuen Hoffnungen, wie in jedem Frühjahr wieder, wenn die grüne Saison wie im Moment noch ganz am Anfang steht und alles noch weit offen erscheint. Ob das Rennbahnpublikum morgen am Raffelberg vielleicht wieder so einen herausragenden Vierbeiner bewundern darf wie damals vor fünfzehn Jahren? Wer weiß… Wenn ich mir die Tatsache vor Augen führe, dass es das Orakel der Dreijährigen eben nicht mehr gibt und dann auf das relativ übersichtliche Starterfeld des sechsten Rennens auf der Karte schaue, habe ich da gewisse Zweifel. Aber man sollte sich ja immer einen vorsichtigen Optimismus bewahren und bereit sein sich positiv überraschen zu lassen. Wie gut die dreijährigen Sieger der Frühsaison tatsächlich einmal werden, lässt sich sowieso immer erst im Nachhinein mit Gewissheit sagen. 

Und bis dahin kann ich ja weiter mit Hilfe eines sehenswerten Promotionsvideos ein wenig in Erinnerungen an den großartigen Tiger Hill schwelgen…   


                             
   

Sonntag, 10. März 2013

Vor vierzig Jahren: Früh am Start


Mit dem Frühlingsbeginn ist das ja so eine Sache… Wenn ich gegenwärtig auf den Schneeregen schaue, der vor meinem Fenster seit mehreren Stunden beharrlich zur Erde fällt, und an die eisige Wettervorhersage für die kommenden paar Tage denke, dann sind wir zumindest in diesem Jahr vom Frühlingsanfang noch ein ganzes Stück weit entfernt. So ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass das DVR – sollte der Winter tatsächlich noch einmal die befürchtete Ehrenrunde drehen – für den kommenden Sonntag einen Ersatzrenntag auf Sand in Dortmund ausgeschrieben hat. Und dabei hatte sich so langsam doch wirklich schon die Vorfreude auf den Start in die grüne Saison im Krefelder Stadtwald breitgemacht.

Momentan bleibt leider nur Abwarten und Hoffen, dass das Wetter uns doch nicht ganz so eisig mitspielt. Ein wenig Geduld wird es früher oder später schon richten… und immerhin haben wir ja heutzutage die Sandbahnrennen in Dortmund und Neuss als Überbrückung. Man mag ja über den sportlichen und finanziellen Wert dieser Veranstaltungen intensiv diskutieren können, aber als es diese Sandbahnen in Deutschland noch nicht gab, war im Winter – meistens ab Silvester – eben einfach für drei Monate Galoppsport-Pause, ehe es irgendwann im März mit der neuen grünen Saison weiterging.

WENN es dann aber irgendwann endlich wieder auch auf Gras heißt „Boxen auf!“, sind Spannung und Vorfreude verständlicherweise besonders groß. Und wie in jedem Jahr kreisen die Fragen dabei im Hinblick auf die sportlichen Highlights natürlich vor allem um die dreijährigen Hengste und Stuten, die im Frühjahr ihr Saison- oder gar Lebensdebüt geben. Oft verstreichen allerdings drei bis vier Frühlingswochen, ehe die wirklich – oder vermeintlichen! – Stars des Derbyjahrgangs wirklich zum ersten Mal an den Start kommen. Spätestens im April ballen sich dann aber die Rennen, in denen sich oft gleich mehrere der hoffnungsvollen Dreijährigen aus den großen deutschen Trainingsquartieren begegnen. Vom Rennbahnpublikum werden diese Konkurrenzen natürlich mit besonderer Aufmerksamkeit verfolgt, denn vielleicht bekommt man ja hier schon den künftigen Derbysieger oder die Erste im Preis der Diana zu sehen!

Manchmal allerdings ist es gar nicht nötig, so lange zu warten, bis die ersten richtigen „Stars“ über den grünen Rasen galoppieren. Das kann nämlich durchaus auch bereits im März an den ersten Grasbahnrenntagen der Fall sein, wie die beiden heutigen Beispiele belegen. Vor vierzig Jahren konnten nämlich schon eine Dreijährige auf der Rennbahn bewundert werden, die später noch groß von sich reden machen sollte. Ihr Saisondebüt als Dreijährige hat sie auch gleich auf Anhieb gewonnen – und bei diesem einen, noch vergleichsweise harmlosen Treffer sollte es nicht bleiben.

Die Rennbahn in Krefeld: Hier SOLL es eigentlich am kommenden Sonntag, falls das Wetter mitspielt, losgehen mit der grünen Saison 2013. Ob das klappt, muss abgewartet werden. Vor vierzig Jahren begann hier jedenfalls die Dreijährigensaison einer großartigen Stute namens Oraza.

Vierzig Jahre ist es heute auf den Tag genau her, als anno 1973 in Krefeld am 10. März der dritte Grasbahnrenntag gestartet wurde. Es war ein Samstag, und die Karte eröffnete mit einem Rennen für Amateurinnen, das von Golden Berry unter Gisela Herzog gewonnen wurde. So weit, so gut, so normal für diesen frühen Zeitpunkt im Frühjahr. Alles noch nicht besonders bemerkenswert…

Richtig spannend wurde es dann aber im vierten Rennen des Tages, als über noch relativ kurze 1400 Meter im Preis vom Niederrhein eine Stute an den Ablauf kam, die – obwohl sie zweijährig bei ihrem zweiten Start gleich gewonnen hatte – von den Wettern nur als dritte Favoritin eingestuft wurde. Sie hieß Oraza, war von Manfred Ostermanns Vater Fredi gezogen worden und später in den Besitz des Stalls Rosenau gewechselt. Für diese Besitzer war sie auch bereits als Zweijährige 1972 am Start gewesen – und zwar genau in zwei Rennen, die sich beide ebenfalls in Krefeld abspielten. Nach einem unauffälligen Debüt Ende September war Oraza hier zwei Monate später im November 1972 auch der erste Sieg gelungen – überlegen mit fünfeinhalb Längen gegen die Zoppenbroicherin Freudenau, wie der Zielrichter notierte.

Diese vielversprechende Form hatte Oraza ganz offenkundig mit über den Winter nehmen können, und so passierte die von Georg Zuber in Neuss trainierte Tochter des Deckhengstes Zank dann auch gleich beim ersten Versuch 1973 erneut als Erste den Krefelder Zielspiegel. Wieder saß Jockey Wolfgang Wickert, für den 1973 die sportlich mit Abstand erfolgreichste Saison seiner Karriere wurde, im Sattel der Stute.

Georg Zuber - Trainer von Oraza in Neuss
Es war im besten Sinne des Wortes ein gelungener Aufgalopp in die Dreijährigensaison von Oraza, denn kaum einen Monat später konnte Oraza in Düsseldorf den Treffer auf Anhieb bestätigen, als sie – nun auf der etwas längeren Meilendistanz und mit einem Kilo Siegaufgewicht – erneut gewann. Es war wohl ein kluger Schachzug, ausgerechnet dort an den Start zu gehen, denn nun kannte die Stute nach ihren drei Krefelder Starts auch die ja grundsätzlich anders gestaltete Bahn auf dem Grafenberg. Und so erschien es beinahe folgerichtig, dass Oraza Mitte Mai – nunmehr in der Königinnenklasse der dreijährigen Stuten angekommen – im Schwarzgold-Rennen bereits ihren vierten Erfolg in Serie feiern konnte. Bei dieser Gelegenheit hielt sie mit der ausgezeichneten Schlenderhanerin Sheba auch eine Altersgenossin von ganz hohem Format leicht in Schach. Diese Sheba, die später als Zuchtstute drei so enorm erfolgreiche Nachkommen wie Steuben, Solo Dancer und Shepard brachte, duellierte sich 1973 übrigens gleich mehrfach auf hoher und höchster Ebene mit Oraza.

Anders als heutzutage, wo ja auch der Preis der Diana in Düsseldorf ausgetragen wird, dies aber erst Anfang August, mussten die dreijährigen Stuten damals bereits recht früh in der Saison, nämlich am Pfingstwochenende Ende Mai oder Anfang Juni, topfit sein, wollten sie sich auf dem Raffelberg in Mülheim auch noch den Preis der Diana an die Fahnen heften. Natürlich versuchte man es nach dem fulminanten Saisonauftakt mit Oraza auch hier über eine mit 2100 Metern deutlich längere Distanz.

Trotz ihrer 1973 noch blütenreinen Weste trauten die Wetter der Sache noch nicht so ganz und kürten Sheba an Stelle von Oraza zur 21:10-Favoritin. Sie sollten falsch liegen, denn die Stute des Stalles Rosenau gewann erneut und kam – mit der Bona-Vertreterin Oktavia quasi als „Puffer“ – wiederum deutlich vor Sheba ins Ziel. Beinahe drei Längen lagen am Ende zwischen Oraza als Siegerin und der Diana-Dritten Sheba. Der Titel der Stutenkönigin 1973 schien eindeutig vergeben.

Danach musste Oraza nach den Informationen aus dem Album des Rennsports 1973 eine kleine Zwangspause hinnehmen, so dass man sie erst im Rahmen der Großen Woche in Iffezheim wieder am Start sah. Hier sollte sie nun im Fürstenberg-Rennen als einzige Stute erstmals gegen die Konkurrenz der Hengste antreten. Ein Sieg wurde es nicht gleich wieder, aber als Vierte zog Oraza sich mehr als achtbar aus der Affäre und verdiente gleich wieder Geld. Dass sie vielleicht noch nicht wieder die „alte“ Oraza war, zeigte sich beim folgenden Start im Neusser Herbst-Stuten-Preis. Auf ihrer Heimatbahn musste Oraza sich hier der Schlenderhanerin Sheba, die sie ja zuvor zweimal deutlich besiegt hatte, mit einem doch schon deutlichen Abstand von sechs Längen geschlagen geben.

Doch noch war das letzte Wort nicht gesprochen. Einen weiteren Start sollte Oraza in der Saison 1973 noch absolvieren, ehe es für sie in die Zucht ging. Zu diesem Zweck begab sich das Team nach Bremen, wo der Deutsche Stutenpreis über weite 2400 Meter auf dem Programm stand. Und Oraza hatte offenbar zu alter Form zurückgefunden, denn sie fertigte hier genau wie im Juni in Mülheim die Bona-Stute Oktavia locker ab und sicherte sich den sechsten Sieg ihrer Laufbahn. Sheba sah man hier nicht am Start, denn mit der Schlenderhanerin war man in der Distanz deutlich zurückgegangen und hatte in München Mitte Oktober den Bayern-Preis über 1300 Meter bestritten und gewonnen – ebenfalls ein überlegener Treffer mit sieben Längen Vorsprung.

So fällt es am Ende nicht ganz leicht zu entscheiden, welche der beiden hervorragenden Stuten Oraza oder Sheba denn 1973 nun die Allerbeste war. Wahrscheinlich hat Oraza aber alles in allem die Nase vorne. Fest steht ganz sicher aber, dass die Rennbahnbesucher 1973 schon sehr zeitig im Jahr in den Genuss kamen, eine richtig, richtig gute Dreijährige am Start erleben zu dürfen. Ob dies vierzig Jahre später 2013 wieder der Fall sein wird? Man wird diese Frage erst später im Jahr beantworten können, aber genau von dieser Spannung lebt der Rennsport ja ganz maßgeblich.

Bald wieder auf Gras... 
Also: Wann geht es endlich wieder richtig los?                 

Samstag, 29. Dezember 2012

Vor zehn Jahren: Ein Kreis schließt sich fast vollkommen rund

Ein Jahreswechsel, so wie er uns in wenigen Tagen wieder ins Haus steht, wird aus nachvollziehbaren symbolischen Gründen gerne genutzt, um den Übergang von einer Lebensphase in die nächste zu markieren. Eine sinnbildliche Tür mag sich schließen, doch gleichzeitig öffnet sich der Ausblick auf etwas Neues. Und auch für einen Blick zurück auf das, was in der Vergangenheit erreicht wurde, wird ein Jahreswechsel immer gern genutzt. Nicht anders war das heute vor exakt zehn Jahren, als in der (deutschen) Nacht vom 28. auf den 29. Dezember 2002 in den USA eine Stute mit Namen Uriah ein Rennen bestritt, die als die unwiderruflich allerletzte Starterin des Trainers Harro Remmert in die Annalen des deutschen Rennsports eingehen sollte.

Calder Race Course in Miami - Ort des letzten Auftritts eines von Harro Remmert trainierten Pferdes
Dass sich Uriahs Start ausgerechnet so weit entfernt auf dem Calder Race Course in Miami, Florida und nicht etwa in Deutschland abspielte, hatte seine Gründe. Doch hätte man den Trainer, der Uriah auf einer sicher für ihn ungewohnten Reise sogar selbst ins vermeintliche Land der unbegrenzten Möglichkeiten begleitete fünfundzwanzig Jahre früher, als er seine Laufbahn in Neuss begann, erzählt, dass er diesen Lebensabschnitt ein Vierteljahrhundert später einmal so beenden würde, dürfte er es wohl selbst kaum für möglich gehalten haben.

Schon allein die Vorstellung, einmal eine Stute zu trainieren, die angesichts ihrer deutschen Erfolge dringende Kaufgelüste in den USA erwecken würde, dürfte er damals für kaum vorstellbar gehalten haben, denn die wenigen Pferde, mit denen er das Trainieren im Sommer 1977 begonnen hatte, waren überwiegend mit recht bescheidenem Können gesegnet. Angefangen hatte nur diese zweite Rennsport-Karriere ein Jahr nach seinem folgenschweren Sturz im Dr. Busch-Memorial in Krefeld auf der Rennbahn in Neuss, auf der er bis 1972 für mehrere Jahre erfolgreich als Stalljockey von Trainer Georg Zuber gearbeitet hatte, mit gerade einmal neun Pferden. Bald war die Anzahl seiner Schützlinge angefeuert durch die sich rasch einstellenden Erfolge - so vor allem mit Twistlady, die auf Listenebene gewinnen konnte - gewachsen, so dass ein SPIEGEL-Artikel Ende 1977 bereits von fünfundzwanzig Pferden zu berichten wusste, die von Neutrainer Harro Remmert auf ihre Rennen vorbereitet wurden. 

http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-40680539.html

Das war jedoch noch längst nicht das Ende der Fahnenstange, denn nach einigen Jahren hatte sich Harro Remmerts Neusser Stall so etabliert, dass auch auf höherer Ebene Erfolge wie 1981 die doppelten Treffer der Zoppenbroicherin Anmut im Gontard- und Festa-Rennen oder die ersten Gruppesiege im Fürstenberg-Rennen 1980 sowie im Spreti-Rennen 1982 mit dem Hengst Ludovico zu verzeichnen waren. Auch Odenat, Kyros, Auenliebe und Germinal gehörten zweifellos zu den besseren Rennpferden, die Harro Remmert in seiner Neusser Zeit vorbereiten konnte.

Der ganz große Sprung nach oben auf der Erfolgsleiter gelang dem Trainer, der diese Laufbahn vor seinem Unfall eigentlich immer ausgeschlossen hatte und erst durch den Zoppenbroicher Gestütsbesitzer Kurt Bresges und Trainer Sven von Mitzlaff dazu animiert wurde, es angesichts seiner durch die Querschnittlähmung dramatisch veränderten Lebenssituation doch zu versuchen, dann aber in den Jahren nach seinem Wechsel an den Olymp-Stall in Köln - genau dorthin, wo er unter Sven von Mitzlaffs Führung drei Jahre lang mit großem Erfolg als Stalljockey tätig gewesen war. 


Sven von Mitzlaff:
In vielerlei Hinsicht ein wichtiger Mensch in der aktiven
Laufbahn von Harro Remmert
als Jockey und Trainer

Der Wechsel nach Köln war Harro Remmert, wie er an verschiedenen Stellen in Interviews berichtete, keineswegs leicht gefallen, da er nur wenige seiner angestammten Besitzer mitnehmen konnte und sich auch von fast allen seinen Mitarbeitern, zu denen er ein ausgezeichnetes Vertrauensverhältnis aufgebaut hatte, schweren Herzens verabschieden musste. Trotz des ersten spektakulären Treffers mit Kamiros im Preis von Europa bereits im Herbst 1987 dauerte es einige Jahre, bis er wirklich ganz und gar in seinem neuen Quartier in Köln "angekommen" war und dort - mit einer Reihe von neuen Besitzern - auch wieder große und ab Mitte der 1990er Jahre sogar größte Erfolge vorzuweisen hatte.

Zu den großen Träumen des Trainers Harro Remmert hatte es immer gezählt, einmal mit einem seiner Schützlinge das Deutsche Derby zu gewinnen und/oder es auf 1.000 Erfolge zu bringen. Beide Ziele konnte er in den fünfundzwanzig Jahren seiner Trainertätigkeit verwirklichen - und möglicherweise war es gerade die magische Zahl 1.000, die ihn dazu motivierte trotz aller alltäglichen Mühen, gelegentlicher Rückschläge und Herausforderungen weiterzumachen, selbst als es etwa im Jahr 2001 gar nicht rund lief. Eigentlich wäre schon in jener Saison der tausendste Treffer fällig gewesen, doch blieb die Zahl der Siege, die seit seinem Wechsel nach Köln kaum je geringer als vierzig gewesen war und oft auch über fünfzig Erfolgen gelegen hatte, ungewohnt niedrig. Nur 26 Rennen konnte der Olymp-Stall 2001 für sich entscheiden. Das reichte (noch) nicht - aber Aufgeben, erst recht nicht so kurz vor dem Ziel, kam für Harro Remmert sicher aus Prinzip schon nicht in Frage.

Und so dauerte es mit dem symbolträchtigen tausendsten Trainererfolg eben bis zum 9. Juni 2002. Es ist ein Renntag, an den ich mich noch lebhaft erinnern kannn - nicht nur, weil er sich auf meiner Heimatrennbahn am Mülheimer Raffelberg abspielte. Mit vier Pferden war Harro Remmert an jenem Tag nach Speldorf gereist - und allesamt waren sie mit guten Chancen unterwegs. Zu Beginn der Grasbahnsaison war ich durch die Stallparade in der Sport-Welt auf den Umstand aufmerksam geworden, dass nur noch relativ wenige Siege bis zum ersehnten Meilenstein fehlten, und seither hatte ich mitgezählt. Dementsprechend war neben der Tatsache, dass an jenem Tag der Preis der Diana in Mülheim entschieden wurde, vor allem eine Frage für mich von Bedeutung: Konnte es gelingen, aus vier chancenreichen Ritten zwei Siege zu machen und so die magische Zahl zu erreichen? Meine Daumen waren jedenfalls gedrückt!

Der Renntag begann aus dieser spezielle Perspektive betrachtet auch gut, denn gleich im zweiten Rennen konnte sich die Fährhoferin Anna Simona unter Norman Richter einen zweiten Platz hinter der Schlenderhaner Konkurrenz Shoah sichern - ein Renneinlauf, wie er in den 1970er und 1980er Jahre viele, viele Male zu sehen gewesen war. Nun ist ein zweiter Platz natürlich ein schöner Erfolg, zumal Anna Simona nur eine halbe Pferdelänge von der Siegerin trennte, aber es ist eben doch kein voller Erfolg. 

Auch im Hauptereignis, dem Preis der Diana, war der Stall von Harro Remmert dank Midnight Angel aussichtsreich vertreten. Die Stute hatte zuvor auf der Raffelberger Bahn überlegen ihre Maidenschaft abgelegt und sich anschließend sogar auf Gruppe-I-Ebene in den Oaks d'Italia platzieren können. Favoritin wurde sie nicht, denn diese Ehre fiel der Ullmann-Starterin Guadalupe aus dem Stall von Peter Schiergen zu, doch Chancen musste man auch Midnight Angel einräumen. Und so galt es wieder einmal Daumen zu drücken - (fast) mit Erfolg. Wieder wurde es ein zweiter Platz, den sich Midnight Angel, geritten vom heutigen Kölner Trainer Waldemar Hickst, hinter der Höny-Hofer Siegerin Salve Regina sichern konnte. Grund zu Freude ganz sicher - aber es blieb eben bei der Tatsache, dass bis zur Zahl 1.000 weiter zwei Treffer fehlten. 

Gerade hatte ich mich damit "abgefunden", dass es dann wohl vermutlich an diesem Raffelberger Renntag nicht klappen würde, als sich gleich im folgenden Rennen Dictum aus dem Gestüt Simmenach den Sieg im Ausgleich I sicherte. Dieses Pferd, das sich im Verlauf der weiteren Saison 2002 zum Vierfachsieger mauserte, war in der Schlussphase der Trainerkarriere von Harro Remmert ohnehin etwas ganz Besonderes. Sollte da also vielleicht doch noch...?


In Fährhofer Farben: Waldemar Hickst 
Eine Starterin blieb - Templerin, ebenfalls in Fährhofer Farben unterwegs. Und beinahe schien es als wollten die Rennbahnbesucher den Jubiläumstreffer nun tatsächlich herbeiwetten. Die Quote von 17:10 für Templerin, die erneut von Waldemar Hickst geritten wurde, sprach jedenfalls Bände. Und wirklich wurden die Favoritenwetter am Ende nicht enttäuscht, denn Templerin schaffte den tausendsten Sieg. 

Es ist sicher nicht übertrieben, die Reaktion des Mülheimer Publikums an jenem Diana-Tag als ausgesprochen herzlichen Jubel zu bezeichnen. Standing Ovations, das trifft es irgendwie auch. Kaum einem Anwesenden dürfte entgangen sein, was für eine markante Leistung der Trainer Harro Remmert, der von Dr. Christoph Berglar - einem der treuesten Besitzer an seinem Stall - im Rollstuhl auf das Geläuf gebracht wurde, an jenem Tag feiern konnte. Wie oft, wenn ein Remmert-Pferd ein wichtiges Rennen gewonnen hatte, war die große Sympathie deutlich spürbar, die diesen nicht ganz durchschnittlichen Trainer auf den deutschen Rennbahnen begleitete. Man freute sich bei ihm eben einfach besonders gerne mit. Und dass es ausgerechnet das Sven von Mitzlaff-Rennen gewesen war, das Templerin gewonnen hatte, machte den ohnehin schon perfekten Renntag noch ein bisschen perfekter.

Natürlich war dieses Ereignis auch ein Anlass für Medienberichte und Interviews. In einem bei Galopp Online veröffentlichten Gespräch äußerte sich Harro Remmert auf die Frage nach seinen weiteren Zielen so:

"Ich habe jetzt eigentlich alles erreicht, was ich erreichen wollte. Das Derby und 1000 Rennen zu gewinnen, war immer mein Wunsch. Alles Weitere muss sich zeigen. Solange ich gesund bleibe und es mir weiter Spaß macht, möchte ich aber weitermachen."

Vielleicht hätte man bei dieser Aussage schon ahnen können, dass sich ein Ende seiner Trainerlaufbahn nun, da der zweite Teil seines Traums verwirklicht war, unaufhaltsam anbahnte. Mir selbst ist damals dieser Gedanke aber nicht gekommen, und so hat mich im Oktober die Nachricht, dass am Ende der Saison 2002 tatsächlich Schluss sein sollte mit dem Trainieren, wie viele Turf-Fans in Deutschland doch heftig überrascht und - ich gebe es gerne zu - auch ziemlich traurig gemacht. Rennbahn ohne von Harro Remmert trainierte Pferde - das wollte ich mir zunächst gar nicht vorstellen, denn viel zu sehr hatte er schon immer, seit ich als Kind mit zum Raffelberg genommen wurde, als ganz großer Sympathieträger "dazugehört".

Die Entscheidung war aber getroffen, aber die Pferde des Olymp-Stalls schien es nicht groß zu stören, dass die Tage ihres Trainingsquartiers gezählt waren. Im Gegenteil - es lief weiter gut. Zwei Pferde kamen jetzt erst so richtig in Schwung - einmal der bereits erwähnte Dictum, der als letzter Starter von Harro Remmert in einem deutschen Gruppe-Rennen Ende Oktober mit seinem Sieg in der Flughafen Frankfurt Trophy auch auf diesem Niveau für einen ausgesprochen runden Abschluss sorgte, und eben Uriah. 

Treu lief die selbst gezogene Stute aus dem Besitz von Herrn Erhardt und Frau Schönwälder immer und immer wieder ins Geld. Nach drei Siegen in Folge steigerte sie sich dann über die Listen-Ebene bis hin zu ihrem dritten Platz hinter Liquido im St. Leger. Doch hier war noch lange nicht Schluss, denn inzwischen war man im Ausland auf die vielversprechende Uriah aufmerksam geworden. Gary A. Tanaka hieß der Mann, der damals gerne und in großem Umfang aufstrebende Pferde aus deutschen Rennställen in seinen Besitz brachte, um sie dann in die USA zu exportieren.

Es war nicht das erste Mal, dass sich Tanaka mit neuen Pferden aus dem Stall von Harro Remmert versorgte. Zwei Jahre zuvor war er hier bereits mit Moonlady fündig geworden, die dann bei ihrem ersten Start im New Yorker Long Island Handicap für den allerersten Gruppe-Treffer eines von einem deutschen Trainer vorbereiteten Pferdes in den USA überhaupt sorgte - dies zu einer Zeit, wohlgemerkt, als die heute beinahe schon alltäglich anmutende Globetrotterei deutscher Pferde noch weit weniger üblich war. 


Gary A. Tanaka (Zweiter von rechts), der neue Besitzer von Uriah,
mit einem seiner erfolgreichsten Rennpferde, Docksider
Auch Uriah wechselte also in Tanaka-Besitz, und ihr neuer Eigner beließ die Stute zwar in der Obhut ihres alten Trainers, schickte sich aber zugleich auch an, das mit Moonlady so erfolgreiche Rezept einfach zu wiederholen. Auch Uriah sollte in die USA reisen und dort im Long Island Handicap antreten. 

Herrlich blumig und süffisant geschriebener Artikel über Uriahs Sieg in New York

Es passt irgendwie perfekt zur ausgesprochen erfolgreichen Schlussphase von Harro Remmerts Trainerkarriere, dass das Unternehmen (natürlich?) erneut gelang. Knapper hätte der Ausgang kaum sein können, aber am Ende hatte Uriah die sprichwörtliche Nase im Ziel vorne und sorgte dafür, dass der Kölner Trainer seinen spektakulären Amerika-Erfolg von vor zwei Jahren wiederholen konnte.

Dieser Treffer weckte trotz der recht langen Saison, die die dreijährige Uriah mit sieben Starts bereits hinter sich gebracht hatte, neue Hoffnungen, und so wurde das La Prevoyante Handicap in Miami als nächster Start für sie ausgesucht - obwohl sie aus rechtlichen Gründen nicht in den USA bleiben konnte, sondern zunächst wieder nach Deutschland zurückkehren musste. Dort hatte sich inzwischen der Olymp-Stall immer mehr gelehrt. Mit dem Ende der Trainer-Karriere von Harro Remmert mussten sich die Besitzer der Pferde, die in der kommenden Saison weiter an den Start kommen sollten, neue Trainer suchen, denn am 30. November 2002 sollten sich die Stalltüren für immer schließen. 

Bereits am 24. November war der endgültig letzte Remmert-Starter in Deutschland an den Ablauf gekommen - Tiers Above, der als Leichtgewicht unter Josef Bojko einen Ausgleich III auf Sand in Dortmund gewinnen konnte - erneut ein ungemein runder Abschluss, denn genau auf der Bahn in Wambel hatte Harro Remmert in den 1950er Jahren seine erste Zeit als Jockeylehrling bei Otto Schmidt verbracht, ehe er zum Gestüt Ravensberg nach Gütersloh wechselte und dort bei Trainer Johannes Kuhr seine eigentliche Ausbildung erhielt.


Was aus ehemaligen Rennpferden so alles werden kann:
Tiers Above in seiner neuen Bestimmung für das Leben nach der Rennbahn

Mit dem Sieg von Tiers Above war das Trainerkapitel also eigentlich bereits beendet, und doch blieb für eine Weile noch ein Pferd vorzubereiten auf ein Abenteuer in großer Entfernung - Uriah eben, die täglich von Waldemar Hickst in der Arbeit geritten wurde, bis sie erneut Mitte Dezember über den großen Teich aufbrach. 

Vollkommen rund wurde der Abschied vom Trainer-Dasein dann doch nicht, denn Uriah konnte ihren zweiten Auftritt in den USA nicht in einen erneuten Erfolg ummünzen. Als Achte blieb sie im Gegenteil vollkommen chancenlos. Auch später konnte sie an ihre deutschen Erfolge nicht mehr anknüpfen, aber als Zuchtstute hat sie inzwischen bereits für sehr talentierten Nachwuchs gesorgt, indem sie vor allem den in Hong Kong sehr erfolgreichen King Dancer stellte.


Uriahs Sohn King Dancer
Harro Remmert, der mit dem Ende seiner aktiven Laufbahn einen Urlaub in Florida verbunden hatte, dürfte diese Niederlage im allerletzten Rennen seiner Karriere vermutlich nur wenig bekümmert haben, denn zu sehr muss die Zufriedenheit überwogen haben, in den fünfundzwanzig Jahren seiner Tätigkeit jeden Tag mit viel Fleiß und Durchhaltewillen, dafür aber praktisch ohne jeden Skandal oder Drama Enormes geleistet zu haben, das ihm so wohl nach seinem Unfall 1976 kaum ein Mensch zugetraut hatte. 


Nur ein Beispiel für einen herausragenden Erfolg des Trainers Harro Remmert:
Diana-Siegerin Centaine 1995
Aber eine Zukunft im Ruhestand so ganz ohne Pferde? Nun ja... Das war sicher weder realistisch, noch ernsthaft auf Dauer angestrebt, und so blieb der Kontakt zum Galopprennsport weiter rege. Befragt, ob ihm denn die Pferde nicht fehlen würden, äußerte sich Harro Remmert im Frühsommer 2003 zustimmend und sprach davon, ein leichtes Kribbeln zu verspüren. Langeweile war offenbar dank einer großen Zahl von lange beruflich bedingt vernachlässigten Hobbys und vieler Freundschaften noch nicht aufgekommen, aber beim Morgentraining auf der Weidenpescher Rennbahn war Harro Remmert gerne zu Gast und sagte so auch zielsicher den späteren Derbysieger Dai Jin voraus. Eine Frage verneinte er allerdings zu jenem Zeitpunkt noch recht kategorisch. Als Züchter oder Besitzer wolle er nur wiederkommen, falls er einen Sechser im Lotto treffe.


Mehr als ein Sechser im Lotto: Rennpferd Wiesenpfad
So viel rein zufälliger Glücksspielerfolg war dann aber am Ende doch nicht notwendig, denn ein just in jenem Jahr 2003 geborenes Pferd, das später den traditionell "ravensbergerisch" anmutenden Namen Wiesenpfad erhielt, sorgte bald für einen Sinneswandel. Und mit jenem Wiesenpfad, der zu Harro Remmerts früherem Jockey und in gewisser Weise, wenn auch mit zeitlichem Abstand von einem Jahr seinem Nachfolger, ins Training gegeben wurde, verbindet sich ein neuer, enorm erfolgreicher - sicher auch emotional sehr bewegender - Teil der Rennsport-Lebensgeschichte des inzwischen beinahe siebzig Jahre alten früheren Jockeys und Trainers, der selbstredend weiterhin häufiger Besucher der Galopprennen in NRW und anderswo ist. 


Wiesenpfad als Deckhengst
Inzwischen ist er, da Wiesenpfad sich aus kleinen Anfängen tatsächlich zum Deckhengst gemausert hat, auch unter die Züchter gegangen. Die ersten Wiesenpfad-Jährlinge sind inzwischen auch bereits in den Rennstall eingerückt. Zidar, so heißen sie, Pamina und Abendwind. 

Der Traum von weiteren Erfolgen darf also noch ein Weilchen weitergeträumt werden...

         
          

Samstag, 21. Juli 2012

Vor vierzig Jahren: Olympische Ehren


Lange wird es nun nicht mehr dauern, bis am 27. Juli 2012 in London die XXX. Olympischen Sommerspiele beginnen. Da erscheint es irgendwie in der manchmal amüsant passenden Zufälligkeit des Lebens interessant, dass ausgerechnet an dem Tag, an dem Lanfranco Dettori die Olympische Fackel auf dem Rücken eines Pferdes nach Ascot trug, via German Racings Facebook-Präsenz ein ziemlich genau vierzig Jahre altes Privat-Video auftauchte. Es wurde einst auf der Münchener Rennbahn gedreht und dokumentiert den „Olympia-Preis“.



Doch Dabeisein war damals ganz sicher nicht alles, denn es handelte sich bei diesem am 7. September 1972 ausgetragenen internationalen Pferderennen immerhin um das hochkarätige Hauptereignis des Renntages. Der Name „Olympia-Preis“ kam natürlich nicht von ungefähr, denn schließlich war die Stadt München im September vor vierzig Jahren gerade Veranstalter der XX. Olympischen Sommerspiele, die nach anderthalb sportlichen Wochen bereits langsam in die Zielgerade einbogen. Was lag da näher als auch ein in München ausgetragenes Galopprennen entsprechend zu benennen?

Die "heiteren Spiele" von München 1972 - hier als Briefmarke

Es war natürlich auch nicht irgendein Ausgleich IV, der mit diesem verpflichtenden sportlichen Titel dekoriert wurde, sondern ein ausgesprochen hoch dotiertes Rennen mit dem Zusatz „International“. Insgesamt 250.000 DM an Preisgeldern hatte der Rennverein für den Sieger und die Platzierten über die klassische 2400m-Strecke ausgelobt – nur unwesentlich weniger Geld als im zwei Monate zuvor in Hamburg ausgetragenen Deutschen Derby. Kein Wunder also, dass der Olympia-Preis 1972 ausgezeichnet besetzt war. Nicht nur der amtierende Derbysieger Tarim aus dem Besitz von Ferdi Ostermann war anwesend. Nein, neben dem späteren Ersten im Preis von Europa 1972, dem Röttgener Prince Ippi, und zwei englischen Gästen begab sich vor allem der erklärte Rennbahnliebling jener Tage, der inzwischen fünfjährige Schlenderhaner Fuchshengst Lombard, an den Start.

Galopprennbahn Riem - Austragungsort des Olympia-Preises 1972

Es war also alles angerichtet für einen großen Renntag. Die Filmsequenzen verraten, dass die Rennbahn in Riem an jenem Tag offenbar ausgezeichnet besucht war. Auch der Hobbyfilmer, dem wir diese kostbaren bewegten Bilder aus der Vergangenheit verdanken, gab sich viel Mühe mit seinen Aufnahmen, die einer klaren Dramaturgie folgen, und vertonte sein Werk anschließend noch liebevoll mit dem „Rondo alla Turca“ von Wolfgang Amadeus Mozart. Die so entstandene Heiterkeit überträgt sich auch heute, vierzig Jahre später, noch scheinbar mühelos auf den Betrachter. Sie täuscht aber – dies muss am Rande auf jeden Fall erwähnt werden – darüber hinweg, dass gar nicht so weit von der Riemer Rennbahn entfernt die namengebenden Olympioniken Trauer trugen, denn nur zwei Tage zuvor war es zu der schrecklichen terroristischen Geiselnahme gekommen, in deren Folge insgesamt siebzehn Menschen starben. Dass die so genannten „heiteren Spiele“ von München 1972 längst nicht mehr heiter waren, auch wenn sie weitergeführt wurden, verrät das private Renntag-Video nicht. Auf der Rennbahn schien die sportliche Welt an jenem 7. September 1972 voll und ganz in Ordnung zu sein.

Ohnehin stand hier ja der Galopprennsport – keine olympische Disziplin, weder damals, noch heute – im Mittelpunkt. Und so kann der Betrachter zunächst das Gelände der Rennbahn mit Absattelring, Waagegebäude und Tribüne kennenlernen, ehe der erste Star erscheint. Es handelt sich allerdings um einen zweibeinigen Helden der Rennbahn, doch stand dieser in den frühen 1970er Jahren dem vierbeinigen Liebling Lombard sicher um nichts nach, denn Jockey Fritz Drechsler genoss ungeheure Popularität. Die Aufnahmen lassen ahnen, dass sein charmantes Auftreten, sein freundliches Lächeln und seine entspannte Extrovertierheit wohl großen Anteil an dieser Beliebtheit gehabt haben dürften.

Zum Einstimmen bekommt der Zuschauer noch ein früheres Rennen vor dem eigentlichen Hauptereignis geboten, und es kann sich nach Anzahl der teilnehmenden Pferde und Zieleinlauf eigentlich nur um das dritte Rennen der Tageskarte, eine Konkurrenz für die Zweijährigen, handeln. Die teilnehmenden Jockeys huschen blitzschnell durchs Bild, und man erkennt den selbst für einen Jockey sehr klein gewachsenen Erwin Schindler, Peter Alafi und Peter Remmert. Das bekannteste Gesicht trägt aber – für deutsche Augen ganz ungewohnt – den Renndress des Gestüts Röttgen. Es handelt sich um niemand Geringeren als Lester Piggott, der an jenem Tag gleich mehrere Ritte in der bayrischen Landeshauptstadt wahrnahm. Später gelang ihm in den Röttgener Farben auch noch ein Volltreffer mit Sparkler im zweiten Hauptereignis, dem Großen Internationalen Preis der Spielbank Bad Wiessee, doch in der im Film festgehaltenen Zweijährigenprüfung hatte er mit der Entscheidung nichts zu tun. Der von ihm gelenkte Röttgener Stradivari spielte hier noch nicht die erste Geige. Er wurde nur Vorletzter, während Otto Gervai vorne mit einer dreiviertel Länge vor dem Erlenhofer Supervisor einen Heimsieg auf Hubertus Liebrechts Andiamo holte.

Am 7. September 1972 zu Gast in Riem: Lester Piggott

Dann aber wird es Zeit für den Olympia-Preis, und die Vorbereitungen dieses Rennens werden in aller Ausführlichkeit und aus verschiedenen interessanten Blickwinkeln gezeigt. Beeindruckend ist dabei ganz am Rande, wie dicht der Führring vom Publikum umlagert ist. Es wird gesattelt, und ein markanter Fuchs mit vier weißen Beinen, vermutlich der dreijährige Hengst Germanist, trägt mit seinem Zweibeiner eine kurze Meinungsverschiedenheit zum Thema Laufrichtung im Führring aus. Derweil wirkt die vierbeinige Konkurrenz – mal aus der Nähe, mal von weiter entfernt aufgenommen – zwar munter, dreht aber ansonsten sehr fügsam ihre Runden um den Führring, während die natürlich in hellblau-weiße Dirndl gewandeten Hostessen irgendetwas Wichtiges miteinander diskutieren.

Schon vor dem Start, als die Pferde Richtung Geläuf geführt werden, hat die Kamera des unbekannten Rennbahnbesuchers vor allem für ein Pferd Augen. Es ist ein Fuchs, und die Rennfarben lassen es sofort erkennen: Hier kommt einer der beiden Schlenderhaner im Feld. Die Satteldecke mit der Nummer 1 macht auch deutlich, dass es sich nicht etwa um den dreijährigen Schiwago handelt, sondern um seinen zwei Jahre älteren und ungleich berühmteren Stallgefährten Lombard. Natürlich – Lombard! Die breite weiße Blesse machte ihn für die Zeitgenossen leicht erkennbar. Und auch die Menschen der 1970er Jahre hielten offenbar besondere Begegnungen schon gerne im Bild fest. Wo heute schnell das Handy für einen digitalen Schnappschuss gezückt würde, mussten 1972 noch Polaroidkameras ihren Dienst tun. Und so wird der berühmte Lombard auf dem kurzen filmisch festgehaltenen Wegstück hin zum Geläuf gleich dreimal geknipst. Ein Star eben!

Lombard und sein Jockey Fritz Drechsler

Verständlich irgendwie, denn dieses fantastische Rennpferd war 1972 wohl auf dem Zenit seines Könnens angekommen und hatte bis dahin nicht weniger als sechs Siege auf sein Saisonkonto bringen können. Früh – und natürlich bereits siegfertig – war er am 9. April 1972 in Dortmund ins Rennjahr gestartet, um sich dann einen Monat später mit vier Längen Vorsprung den Gerling-Preis zu sichern. Zwei Wochen danach folgte in Düsseldorf ein Gruppe-II-Treffer auf seiner Paradestrecke von 2400 Metern, um dann am Tag vor dem Derby, dem 1. Juli 1972, auch den Hansa-Preis mit einem beeindruckenden Vorsprung von 5½ Längen zu gewinnen. Drei Wochen später siegte Lombard zudem auf Gruppe-I-Ebene in Düsseldorf und lief dann auch in Baden-Baden mit dem Spreti-Rennen davon. Sechs Starts – sechs Siege: Lombard war in jener Saison zu keiner Zeit irgendein Konkurrent bedrohlich geworden. Kein Zweifel – er war vollkommen zu Recht der vierbeinige Star dieses Olympia-Renntags.

Konnte ihn überhaupt ein anderes Pferd gefährden? War Lombard, der zu Odds von 17:10 in klarer Favoritenstellung in die Startboxen einrückte, überhaupt zu schlagen? Am ehesten traute das Münchener Rennbahnpublikum einen solchen Favoritensturz wohl noch einem Pferd zu, das auf dem Weg zum Geläuf hinter dem Schlenderhaner folgte – Tarim war es, der aktuelle Derbysieger des Jahres 1972, der nun erstmals mit dem großen Lombard die Klingen kreuzte. Optisch hätte der schwarzbraune Hengst aus dem Besitz von Ferdi Ostermann seinem zwei Jahre älteren Gegner wohl kaum weniger ähnlich sehen können. Hier der muskulöse Fuchs mit der breiten weißen Blesse, dort der traumhaft schöne, beinahe schwarze und hellwache Hengst in den Farben, die heute für das Gestüt Ittlingen stehen. Es war also alles angerichtet für das große Duell.

Auch in den Filmsequenzen spürt man als Betrachter förmlich die knisternde Spannung und die Neugier des zum Geläuf strömenden Publikums. Aufgalopp – Tarim huscht durchs Bild, und dann wartet alles gebannt auf den Start!

Zweimal passiert das Feld des Olympia-Preises den unbekannten Mann mit der Kamera direkt vor dem Zielspiegel, und gleich beim ersten Mal ist Lombard vorne. So, das lässt sich unter anderem aus den in Buchform festgehaltenen Erinnerungen von Jockey Fritz Drechsler entnehmen, lief und gewann Lombard seine Rennen am liebsten. „Als die Boxen geöffnet wurden, übernahm ich mit dem Hengst sofort die Spitze, forcierte das Tempo und hatte vor den Tribünen meinen Vorsprung auf mehr als zehn Längen ausgebaut“, so schreibt Drechsler auf S. 137 von „So gut waren meine Pferde. Ein Leben zwischen Stall und Rennbahn“.

Jockey Fritz Drechsler

Der Film lässt den Abstand von Lombard zu seinen Verfolgern eher wie fünf, vielleicht sechs Längen aussehen, aber wie dem auch sei: Der Schlenderhaner geht erkennbar gut, während sein vermeintlich größter Konkurrent Tarim, der als Dreijähriger immerhin verlockende fünf Kilo weniger an Gewicht zu schleppen hatte als Lombard, noch irgendwo im Mittelfeld mitläuft. Dann springt der Film rasant und lässt fast den gesamten Rennverlauf aus, um sofort den Zieleinlauf festzuhalten. Und siehe da – Lombard ist weiterhin vorne. Und wie! Tarim greift zwar unter dem energisch reitenden Lester Piggott noch an, aber mühelos kann Lombard sich vorne weiter vom Feld lösen und bringt es im Ziel auf einen überlegenen Vorsprung von drei Längen, während dem frischen Derbysieger nur der zweite Platz vor der französischen Stute Rocaille bleibt.

Es war eine Demonstration sondergleichen – Lombards siebter Saisonsieg bei ebenso vielen Starts und zugleich der Treffer, der seine Gewinnsumme über die damals für ein deutsches Rennpferd noch kaum erreichbare Millionengrenze bugsierte. So schreibt Lombards Jockey Fritz Drechsler dann auch in seinem Buch immer wieder besonders liebevoll und bewundernd über den großen Schlenderhaner. „Alle liebten Lombard“, so lautet das Eröffnungskapitel des Buches, und nicht nur an dieser anrührend geschilderten Begegnung eines reichlich nervösen Jockeys mit seinem Paradepferd in der Nacht vor einem großen Rennen wird deutlich, dass gerade Fritz Drechsler Lombard heiß und innig liebte und verehrte. So bezeichnete er dann auch den Olympia-Preis vom 7. September 1972 als eine seiner schönsten Erinnerungen an die vielen Erfolge, die er im Rennsattel errungen hat, und das veröffentlichte Foto von der Siegerehrung jenes Rennens – angemessen bayrisch mit einem von einem Pferd gekrönten silbernen Riesenhumpen – hat ebenfalls seinen Weg in das Buch gefunden.

Lesenswert! Fritz Drechslers Buch "So gut waren meine Pferde"

Der Olympia-Preis, so viel lässt sich sicher sagen, muss für den Schlenderhaner Stalljockey auf der Rennbahn, auf der seine reiterliche Laufbahn einst begonnen hatte, ein ganz besonderes Erlebnis gewesen sein. Und so sieht man ihn auch im Film strahlen, als sein Pferd nach dem Rennen durch die begeistert klatschende Menschenmenge zurück zum Absattelring geführt wird. Trainer Heinz Jentzsch, unter dessen Obhut Lombard so meisterlich auf seine Renneinsätze vorbereitet wurde, wird dann die Ehre zuteil, den riesenhaften Siegerpreis nach der Siegerkür schleppen zu dürfen. 

Abschließend betreibt der Filmemacher noch ein wenig Prominentenschau und konzentriert sich dabei ganz auf den anderen großen Trainer aus dem Westen Deutschlands, Hein Bollow, der zwar an jenem Tag in München nichts gewann, aber augenscheinlich auch so beste Laune hatte. Und dann war da ja auch noch der Außenminister Walter Scheel, damals häufiger Gast auf den deutschen Rennbahnen, dessen Erscheinen das kurze Filmchen vom Olympia-Preis 1972 beschließt.

Und was wurde aus den vierbeinigen Protagonisten des Renntages in ihrer weiteren Karriere?

Nun, Lombard hatte für die Saison wahrlich genug geleistet. Nach dem Münchener Rennen ging er in die Winterpause und wurde – wie hätte es auch anders sein sollen? – am Jahresende zum zweiten Mal als Galopper des Jahres ausgezeichnet. Auch sechsjährig kam Lombard 1973 wieder an den Start, aber möglicherweise war er über den Zenit seines läuferischen Könnens bereits hinaus, und so folgte zwar auf eine deutliche Niederlage in Frankreich noch ein letzter deutscher Sieg in Düsseldorf, aber die alte Überlegenheit, mit der Lombard vor allem als Fünfjähriger seine Gegnerschaft dominiert hatte, schien nicht mehr abrufbar. Was lag also näher als seine hocherfolgreiche Rennlaufbahn für beendet zu erklären und den Hengst in einem Gestüt aufzustellen?

Wer jedoch erwartet hatte, dass Lombard in Deutschland als Deckhengst wirken würde, sah sich durch die Entscheidung überrascht, das Lieblingspferd so vieler deutscher Rennbahnbesucher nach Großbritannien zu geben, wo er für mehrere Jahre in insgesamt drei verschiedenen Gestüten deckte. Erst 1982 kehrte der inzwischen fünfzehnjährige Lombard wieder nach Deutschland zurück, wurde zunächst im Gestüt Harzburg aufgestellt und fand schließlich wieder den Weg heim nach Schlenderhan, wo er 1967 als Fohlen das Licht der Welt erblickt hatte.

Späte Heimkehr ins Gestüt Schlenderhan

Sein letzter Jahrgang wurde 1988 geboren, doch bereits in den Jahren zuvor waren recht viele der Lombard zugeführten Stuten güst geblieben. Allgemein gelang es Lombard bedauerlicherweise zunächst nicht, sich in der Zucht ebenso eindrucksvoll in Szene zu setzen wie er dies als Rennpferd getan hatte. Anno, Alya, Shepard, Blue Moon, Bonität, Index, Apollonios – sie alle führen Lombard als Vater in ihrem Pedigree und waren auf der Rennbahn überdurchschnittlich talentiert, aber die ganz großen Erfolge blieben ihnen letztlich verwehrt. Doch noch war züchterisch nicht das letzte Wort gesprochen, denn vor allem Lombards Tochter Allegretta legte am Ende Ehre für den Schlenderhaner Hengst ein. Sie fohlte unter anderem Urban Sea, Allez les Trois, Turbaine sowie King’s Best und ist zweite Mutter zu solch herausragenden Pferden wie Galileo und Sea the Stars. In ihnen und ihren Nachkommen steckt also immer noch ein wenig Erbmaterial des 1994 im Alter von 27 Jahren an Herzversagen eingegangenen Lombard.

Lombard im Pedigree: Urban Sea

In der aktuellen Schlenderhaner Zucht hingegen spielt Lombard zumindest im Hinblick auf die Stutenherde nur noch eine untergeordnete Rolle. Atanua ist noch dabei, die bei einem einzigen Rennbahnstart 2009 gleich gewinnen konnte, in der Zucht aber noch nicht zu beurteilen ist. Dann gibt es da noch Tucana als Tochter der Turbaine, die bereits solch talentierte Pferde wie Titurel und Tahini brachte. Vor allem Adlerflug aber als noch junger Deckhengst, dessen Nachkommen bislang keine Rennbahn gesehen haben, führt ebenfalls Lombard im Pedigree. So ganz verschwunden ist „der galoppierende Millionär“ also in der deutschen und internationalen Vollblutzucht zum Glück noch nicht. Und wer ganz aktuell – wenn auch auf einem ganz anderen Niveau als dem, auf welchem dieser sich einst bewegte – einem Lombard-Nachkommen die Daumen drücken möchte, kann sich am Sonntag das letzte Rennen der Bad Harzburger Karte anschauen. Der Stammbaum von Brianna aus dem Stall von Werner Heinz geht mütterlicherseits nämlich ebenfalls auf Lombard zurück.



Und der Unterlegene des Olympia-Preises 1972, der Derbysieger des Jahres 1972? Nun, anders als Lombard entpuppte sich Tarim in der Folge nicht unbedingt als Siegertyp, sondern als Pferd, das in großen Rennen in Deutschland und Frankreich in die Platzierung laufen konnte, jedoch meist ohne dabei eine echte Siegchance zu haben. So blieb der Derbyerfolg sein größter Triumph, ehe er ebenfalls aufgestellt wurde. Seine ersten Fohlen kamen 1975 auf die Welt, doch blieb sein Erfolg in der Zucht geringer als bei Lombard – mit einer berühmten Ausnahme, denn 1985 kam die Tarim-Tochter Britannia auf die Welt, die unter anderem Zweite im Preis der Diana war, aber vor allem das St. Leger und das Oleander-Rennen für sich entscheiden konnte. Außerdem fohlte sie später die großartige Borgia und den Derbysieger Boreal.

Tarim im Pedigree: Borgia

Mein ganz persönlicher Favorit unter den Nachkommen von Tarim war aber ein Pferd, das nicht die vergleichbare Klasse seines Vaters oder dessen berühmtester Kinder hatte, mich dafür aber über viele Jahre hinweg während meiner Kindheit und Jugend auf den Rennbahnen im Ruhrgebiet begleitete: Kai – ein wunderbares Pferd mit einem schlichten Namen, das ich sehr verehrt habe. Manchmal sind es eben die Kleinen, nicht die galoppierenden Millionäre, die es mir, und vermutlich auch anderen Rennbahnbesuchern ganz besonders angetan haben. Nicht immer geht es nämlich nur um Siegesserien, wie sie Lombard einst auf dem grünen Rasen zur Begeisterung des Publikums zelebrierte. Manchmal ist – ganz olympisch – schon Dabeisein eine Menge wert.